Todesengel

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Die drei Wochen, bis Megan mich besuchen kommen würde, verflogen so schnell, dass ich, zurückdenkend, niemals sagen könnte, wo die Zeit geblieben war. Einmal hatte ich Josie besucht, bei ihr zu Hause, hatte Sebastian wiedergetroffen, den ich das letzte Mal vor guten drei Jahren gesehen hatte. Aus dem asozialen Typen war sogar ein richtiger Ehemann und Beinahe-Vater geworden.

Und ich hatte Benny getroffen, oft, nachdem er gefühlte hundert Mal gefragt hatte, wie es mir ging, hatte er endlich akzeptiert, dass ich bei meinen Eltern lebte. Vermutlich war er sich jetzt sicher, dass ich nicht in den kommenden Tagen und Wochen sterben würde.

An dem Tag, an dem ich Megan vom Flughafen abholen sollte, fuhr mein Beinahe-Bruder mich hin und wartete mit mir die geschlagene Stunde, bis ich endlich meine beste Freundin erblickte. Und dann sofort in Tränen ausbrach. Ich musste meine Emotionen in den Griff kriegen.

Leider war diese Aufgabe für mich so unmöglich zu bewältigen, wie in den Alpen wandern zu gehen. Einmal hatte Fynn mir eine solche Reise vorgeschlagen, immerhin hatte Amerika genug Wanderwege zur Auswahl. Er hatte dies als „gute und billige" Alternative zum normalen Urlaub, bezeichnet. Anscheinend hatte mein bloßer Blick gereicht, die Wanderung hatte er kein zweites Mal erwähnt.

Die große Blondine umarmte mich vorsichtig, ich heulte nur noch mehr, weil ich mir eine ihrer bescheuerten festen Umarmungen wünschte, die einem beinahe die Luft abschnürte.

»Du siehst gut aus.«, stellte Megan fest. Ich grinste und drehte mich zu Benny um.

»Siehst du, so spricht man mit Schwangeren.«, teilte ich ihm mit und sah dann zu, wie die beiden sich unbeholfen umarmten. Jedenfalls schien Benny sich ziemlich unbeholfen zu fühlen, denn Megan hatte seine ausgestreckte Hand ignoriert und ihn in eine ihrer Umarmungen gezogen. Als sie ihn wieder freigab, kratzte Benny sich den Hinterkopf.

»Freut mich dich kennen zu lernen, jedenfalls persönlich... endlich mal.«, murmelte er.

»Ja, ich mich auch.«

»Das war jetzt unheimlich romantisch, aber ich brauche dringend ein bequemes Sofa.«, unterbrach ich die beiden und grinste verschwörerisch.

»Wie hätte ich auch erwarten können, London zu sehen.«

»Du kannst ja während der Autofahrt aus dem Fenster gucken, meine Teuerste.«, entgegnete ich mit einem Lächeln. Die Tränen waren vergessen.

Benny nahm Megans Koffer, auch wenn sie darauf bestanden hatte, dass sie ihn selber rollen könnte, und im Auto verfrachtete er ihn in den Kofferraum. Megan ließ mich vorne sitzen und auch wenn ich hoffte, dass wir nun stundenlang reden könnten, wimmelte sie mich mit Jetlag-Gestammel ab. Also ließ ich ihr ihre wohlverdiente Ruhe und sah aus dem Fenster, als Bennys Handy klingelte.

»Wer ruft an?«, fragte er und wies mir somit an, nach seinem Handy zu greifen, welches zwischen uns auf einer Ablege lag, und nachzusehen.

»Unbekannt.«

»Geh ran.« Ich tat wie geheißen.

»Benjamin?«, fragte eine weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Evelyn Dunkens.«, entgegnete ich. Die Anruferin seufzte tief.

»Man ich bin echt mies in so etwas.«

»Zieh's durch, wie ein Pflaster, einfach abreißen.« Und Gott, ich wünschte ich hätte gesagt: Dann tu es einfach nicht. Ich hätte es nicht erfahren, wäre belanglos durch den Tag geschritten.

Ich legte auf, bevor mir die Unbekannte zu Ende erzählen konnte was passiert war. »Josie hat Probleme bei der Entbindung.«, sagte ich. Mehr hatte ich nicht von einer Unbekannten erfahren wollen. »Megan, ist es okay, wenn wir kurz im Krankenhaus vorbei fahren?«

»Alles gut, ich hatte eh nicht erwartet, dass sich dein Leben sonderlich normalisiert hätte.«

Ich lächelte ihr über meine rechte Schulter hin zu und sah dann zu Benny. Er nickte ebenfalls.

Meine Vermutung, in welchem Krankenhaus Josie läge, war richtig gewesen. Benny und Megan waren zurück im Auto geblieben, da ich nicht vorhatte lange im Krankenhaus zu bleiben. Sollten die beiden sich ein Weilchen Unterhalten, sie waren beide sehr offene Menschen. Direkt in der Eingangshalle traf ich Mr und Mrs Marylin, Josies Eltern, die restlichen Anwesenden kannte ich nicht. Jeder von ihnen wirkte nervös, einige wippten mit den Beinen, wieder andere liefen gestresst auf und ab.

Zielstrebig wandte ich mich an Sebastian und griff nach seinem Arm, um ihn auf mich aufmerksam zu machen. Er schien, obwohl er mich ansah, gar nicht zu realisieren, dass ich vor ihm stand. »Hey, Seb.«, murmelte ich, er blinzelte mehrere Male.

»Evelyn, meine Schwester hat nicht gesagt, dass sie dich erreicht hat.«

»Nun wirklich lange haben wir auch nicht telefoniert, was ist los?« Ich sah mich um, lächelte Josies Eltern zur Aufmunterung und Begrüßung zu. Eigentlich hatte ich erwartet, dass die ganze stressige Situation bloß wieder zu einem Tränenfluss eskaliert wäre, doch mir war nicht nach weinen, vermutlich hatte ich mich bei Megan bereits ausgeheult.

Sebastian biss die Zähne zusammen, die Muskeln in seinem Gesicht spannten sich an und ballte seine Hände zu Fäusten, lockerte sie wieder und ballte sie schließlich erneut. »Wir wissen nicht, was los ist, es gab Probleme.« Er schluckte schwer, ich ignorierte meine schmerzenden Beine und sah zu dem Korridor, der zu den Geburtssälen führte. Vielleicht hätte ich Seb umarmen sollen, vielleicht sollte ich seine Hand nehmen und sie fest drücken, doch stattdessen stand ich da, wie zu einer Salzsäule erstarrt und hoffte Fynn wäre da, um mir beizustehen. Ich war die schlechteste Wahl, wenn es ums trösten ging. Sobald es ernst wurde, packte ich meine Koffer und verzog mich – wortwörtlich.

Irgendwann tauchten Benny und Megan auf, gesellten sich zu mir und zusammen warteten wir darauf, zu erfahren, was geschehen war. Im Laufe der Minuten, welche sich für mich mindestens nach fünf Stunden anfühlten, schlief Megan ein, ihr Kopf lehnte dabei an Bennys Schulter, zu stören schien ihn das allerdings nicht.

»So langsam beschleicht mich das Gefühl, dass ihr beide mir etwas verheimlicht.«, bemerkte ich leise um die anderen Anwesenden nicht zu stören.

»Ich glaube du wirst paranoid.«

»Und du bist deiner Majestät nicht ehrlich gegenüber.«

»Sie ist nett, im Grunde das komplette Gegenteil von dir, ist ziemlich erfrischend.«

»Ich fand's immer nur nervig.« Wir lachten leise und ich erwartete schon fast, dass einer aus der Familie mit einem bösen Blick zu uns starren würde.

»Dich nervt auch alles, was nicht so ist wie du.«

»Du hast das Glück, mich nicht zu nerven.«, murmelte ich. »Megan inzwischen auch nicht mehr. Sie ist toll, vermutlich spricht grade die Werdende-Mutter aus mir, aber ich liebe sie, auch wenn sie echt anstrengend ist.«

Benny sagte nichts darauf. Bevor wir allerdings wieder in das Schweigen verfallen konnten, welches im Wartezimmer herrschte, tauchte ein Arzt auf. Mr und Mrs Marylin sowie Sebastian folgten ihm, vermutlich dahin, wo auch immer Josie sich grade befand. Ich wippte ungeduldig mit dem Bein auf und ab. »Ich hoffe für Megan, dass sie nicht dran ist, mir meinen Bruder zu klauen.«, murmelte ich leise.

»Du bist die einzig wahre, meine Hoheit.«, entgegnete Benny mit fester Stimme und grinste mich von der Seite an.

»Ich wüsste zu gerne, was da abgeht.«

»Noch wenige Minuten.« Doch Sebastian kam nicht wieder. Weder er noch Josies Eltern. Irgendwann richtete sich Sebs Schwester auf und machte sich auf die Suche nach ihrem Bruder.

Und ich wünschte mir, dass ich Josie damals niemals Bennys Nummer gegeben hätte, ich wünschte mir, dass ich niemals abgehoben und hier her gekommen war.

Ich wünschte, ich hätte mein Kind nicht.


Oopps.




Couple in a roundabout wayWo Geschichten leben. Entdecke jetzt