Kapitel 86

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Dyans Sicht

Ich rollte Tessa in ihrem Rollstuhl zurück in den Van, während ich schwer an mich halten musste, nicht auf irgendetwas einzuschlagen.
Wie schaffte sie es nur so ruhig zu bleiben? Allein Mrs. Anderson zusehen hatte mich an den Rand meiner Selbstbeherrschung gebracht und dabei verband ich nur eine schlechte Erinnerung mit ihr.
Das Blut, welches an ihren Händen klebte. Tessas Blut.

Meine Hände verkrampften sich um die Griffe des Rohlstuhls. Allein die Vorstellung jetzt auch noch meinem Vater begegnen zu müssen, war zu viel für mich. Mom hatte zwar nichts gesagt, aber ich war nicht dumm. Ich hatte mitbekommen, wie oft er sie angerufen hatte und wie sie ihn leise auf dem Gang über den Hörer angeschrien hatte.
Nur ein Kommentar von ihm und ich schwöre, ich würde nicht mehr an mich halten.

Ich war dankbar über die Wut, die sich langsam in mir ausbreitete. Sie gab mir Halt, während Tessas Anblick mich jeden Augenblick in die Knie zu zwingen drohte.
Ich wollte für sie da sein, meine Güte, ich würde sie sogar durch die Gegend tragen, aber so klein und blass machte sie mir Angst.

Ich hatte das Aufblitzen in ihren Augen gesehen, als sie Kathrin die Stirn bot. Mir war aufgefallen, wie sie das Kinn leicht angehoben hatte, ihre Überlegenheit mit jeder Faser meines Körpers gespürt. Trotzdem hatte sie zu diesem Haufen von Nichts aufsehen müssen. Hatte sich mühselig durch den Schotter rollen müssen, als hätte sie nicht schon genug auf sich genommen.
Ein Teil von mir kam damit einfach nicht klar.

Ich beeilte mich die Gurte festzumachen, strich ihr noch einmal flüchtig über die Wange und versuchte die einzelnen Kratzer zu ignorieren, so wie sie es anscheinend perfektioniert hatte. Doch ich brachte kein Wort über die Lippen.
Stumm setzte ich mich auf meinen Platz und starrte aus dem Fenster.

Ciara und meine Mutter standen noch draußen und schienen über etwas zu diskutieren, bevor Ciara ins innere der Villa verschwand und sich Mom erschöpft die Haare aus der Stirn strich.
Ich wusste, wie sehr sie das ganze mitnahm. Sie fühlte sich Tessa verpflichtet, als wäre sie wirklich ihre eigene Tochter, aber das war nichts im Vergleich zu meinen Schuldgefühlen.
Meine Zähne knirschten.
Wir hatten nie etwas bemerkt. Dabei war es doch so offensichtlich gewesen! Konnte man denn wirklich so dumm sein?

Mom kam auf den Van zu und streckte lächelnd ihren Kopf rein. Von den Sorgenfalten war nichts mehr zu sehen.
"Ciara packt kurz deine Sachen zusammen, dann fahren wir los."

Tessa nickte und bedankte sich leise. Ihre Augen hatte sie leicht zusammen gekniffen, als würde sie über etwas kniffeliges nachdenken.
Ein lautloses Seufzen entwich meinen Lippen. Sie war so schön.

Ein lauter Knall lies uns alle zu Ciara herumfahren, die mit einem Koffer beladen gerade die Treppenstufen hinunter gestolpert kam.
Schnell stand ich auf und kam ihr entgegen, um ihr  den Koffer abzunehmen.
Dankbar lächelte sie mich an.

"Na das ging aber schnell", bemerkte unsere Mutter überrascht. Ciara öffnete den Mund, um zu antworten, doch es war Tessas Stimme, die schließlich erklang.

"Kein Wunder, den Koffer hatte ich schon gepackt."
Wie gebannt starrte sie auf das Gepäckstück, welches ich direkt neben ihr abgestellt hatte, als wir uns alle erstaunt ihr zuwandten.
"Er lag in meinem Auto, als ich in den Graben gefahren bin. Die Polizei muss ihn wohl hier abgeliefert haben."

Erst als sie den Blick hob bemerkte ich die Blässe in ihrem Gesicht.
"Sollen wir einen anderen holen?"
Meine Frage war ernst gemeint und obwohl ihr der Schmerz der Erinnerung gerade zu ins Gesicht geschrieben stand, schien sie das Angebot zu überraschen.
So wie sie jede helfende Hand überraschte. Als müsste sie jedem misstrauen und sich nur auf sich selbst verlassen dürfen.
"Nein, nein, ist doch praktisch, dadurch verlieren wir keine Zeit mehr." Die Nüchternheit ihrer Stimme war eindeutig aufgesetzt, aber ich brauchte nicht einmal zu den anderen zu blicken, um zu wissen, dass wir es darauf beruhen lassen würden. Sie musste für sich selbst entscheiden, was gut und was schlecht für ihr Gesundheit war, wir konnten sie nur unterstützen.

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