*2 - Happy new Year*

3.2K 202 15
                                    

Es war Silvester des selben Jahres, als mir klar wurde, dass dieses Unbehagen nicht einfach verschwand, im Gegenteil, es wurde immer präsenter und brannte sich in mein Fleisch ein. "Hol doch mal den Sekt aus dem Keller, Letti.", meine Mutter bereitete grade das Silvesteressen vor und ich hatte beschlossen, ihr zu helfen, so konnte ich mich wenigstens ein bisschen ablenken. "Ich hab dir schon so oft gesagt, dass du mich nicht mehr Letti nennen sollst.", grummelte ich nun jedoch verstimmt. Ich war 16 Jahre alt, doch meine Eltern behandelten mich immer noch, wie eine neun-jährige. Da ich wusste, dass Mum nicht auf meine Proteste bezüglich meines Spitznamens reagieren würde, stapfte ich schließlich die Kellertreppe herunter und schnappte mir zwei Flaschen Sekt. Dieses Jahr war es das erste Mal, dass wir Silvester ohne Jenny und ihre Eltern feierten. Eigentlich verbrachten wir jedes Jahr Silvester zusammen, doch jetzt wohnte meine beste Freundin in Chicago und ich war hier in Manchester. Alleine. Seufzend stellte ich die Sektflaschen in den Kühlschrank und sah dann gedankenverloren aus dem Fenster. Noch immer gab es keinen Schnee. "Wo sind denn schon wieder deine Gedanken? Ich hab dir doch gesagt, du sollst mir das Salatdressing aus dem Kühlschrank geben.", meckerte meine Mutter dann. Augenverdrehend riss ich den Kühlschrank auf und knallte das Dressing auf die Küchentheke.

"Kann ich jetzt hochgehen?", genervt verschränkte ich die Arme vor der Brust, jetzt hatte ich wirklich keine Lust mehr, ihr zu helfen und wartete auf ihre Antwort. Wenn es um die Vorbereitungen unser alljährigen "Silvesterfeier" ging, war sie schon früh am Morgen ein nervliches Frack. Ich hatte jetzt meine Grenze erreicht, wollte nun einfach nur meine Ruhe. Dabei war ich mir sicher, dass es keine Feier werden würde. Jetzt da Jenny und ihre Eltern nicht mehr kamen, würden wir wohl Fernseher gucken und dann den Countdown ebenfalls im Fernsehen gucken. Vorher wird noch gegessen, also wirklich nichts Großes. Deswegen verstand ich ihre Gereiztheit dieses Jahr nicht. Mit einer verscheuchenden Handbewegung bedeutete Mum mir dann endlich , dass ich gehen konnte. Sofort ergriff ich meine Chance und rannte die Treppen hoch in mein Zimmer, bevor sie es sich noch anders überlegte. Noch während ich meine Zimmertür aufschubste, zückte ich mein Handy und sah, dass eine SMS von Jenny eingegangen war. Wie es ihr wohl ging? Vermisste sie mich genau so sehr, wie ich sie vermisste? Hatte sie schon neue Freunde gefunden? Ich hoffte es.

<<Wünsche dir schon ein mal ein schönes, neues Jahr, vermiss dich! xJ>>

Lächelnd schrieb ich ihr rasch zurück und ließ mich währenddessen auf meinen Schreibtischstuhl fallen. Sie würde mich nicht vergessen. Niemals. Das redete ich mir zumindest ein. Dann sperrte ich mein Handy und legte es auf meinem Schreibtisch ab. Ich wollte mich nun anderen Dingen widmen. Es war erst 19:00 Uhr, das hieß, bis wir aßen, würde es noch etwa eine Stunde dauern. Diese Stunde beschloss ich zu nutzen. Wofür war ein neues Jahr da? Richtig, um sich zu verändern, um Vorsätze zu machen und um diese zu erfüllen. Ich wusste nicht, ob viele in meinem Alter dies auch machten, doch ich tat es jedes Jahr und so auch dieses. Also holte ich einen Block und einen Kugelschreiber aus meiner Schreibtischschublade hervor und begann, meine Vorsätze und Wünsche geordnet aufzulisten.

Meine Vorsätze und Wünsche

- Meine Traumfigur erreichen

- Mehr Freunde finden

- Jenny besuchen

- Beliebt werden

- Mit Freunden in den Urlaub fahren

- Ein Buch schreiben

- Verliebt sein

Der dritte Punkt sollte nicht all zu schwer zu erfüllen sein, da meine Eltern es mir schon so gut wie erlaubt hatten. Sie wussten, wie sehr sie mir fehlte. Ein Buch zu schreiben sollte auch machbar sein, da ich schon seit Jahren immer mal wieder Kurzgeschichten geschrieben hatte und das Schreiben somit für mich entdeckt hatte. Jedoch war ich mir bei den anderen Punkten allerdings nicht so sicher. Der erste war ja noch einigermaßen machbar, wenn ich es wirklich versuchen würde, aber ich würde wohl kaum plötzlich beliebt sein. Warum war alles so schwer? Schlimm genug, dass Teenager in meinem Alter Selbstzweifel hatten, aber ich fühlte mich auf einer ganz anderen Ebene schlecht. Ich hatte das Gefühl, ein einziger Versager zu sein. Schlecht in der Schule, kaum Freunde und meine Freizeit verbrachte ich alleine zuhause. Ich erinnerte mich noch an die Zeit, als ich noch klein war. Damals war alles noch so leicht. Ich konnte ja nicht wissen, dass groß sein gar nicht so toll war, wie ich es mir immer vorgestellt hatte.

23:55 Uhr. Den Rest des Abends hatte ich mit meinen Etern auf der Couch verbracht und einen Film geguckt. Andere in meinem Alter feierten grade bestimmt mit ganz vielen Freunden auf riesigen Partys. Nur ich war zuhause mit meinen Eltern und würde genauso trostlos ins neue Jahr starten, wie im letzten Jahr. Das Jahr war fast vorbei und rückblickend gesehen habe ich nichts erreicht. Mittlerweile hatte ich mich ins Badezimmer verdrückt, u ein wenig alleine zu sein. Seufzend blickte ich in den Spiegel vor mir. Zerzauste, kupferrote Haare und ein blasses Gesicht. Nichts besonderes, nichts Hübsches. Nur meine Augen mochte ich. So braun, dass sie fast schon schwarz waren. So tief, so warm und doch so leer. Meine Lippen waren mal wieder kaputt und die dunklen Augenringe mühsam abgedeckt. Sah eigentlich jedes Mädchen ungeschminkt so schrecklich aus wie ich? Ich glaubte nicht. 08/15, so konnte man mich beschreiben. Langweilig, nicht besonders hübsch, und das mich jeder Mensch dem ich begegnete anstarrte pushte meine Selbstzweifel jedes Mal noch ein bisschen mehr. 23:58. Gleich war es vorbei. Würden gleich auch meine Zweifel vorbei sein? Würde ich wieder selbstbewusst sein? Was würde im nächsten Jahr geschehen? Würde ich glücklich sein, es endlich werden? Die ersten Raketen knallten. Viel zu früh, so wie immer "Meine Traumfigur erreichen, mehr Freunde finden, Jenny besuchen, beliebt werden, mit Freunden in den Urlaub fahren, ein Buch schreiben, verliebt sein.", wiederholte ich flüsternd meine Vorsätze, meine Wünsche. Ein besonders lauter Knall und das neue Jahr begann, das Alte war vorbei. Ich sah wieder in den Spiegel. Alles wie zuvor. Meine Zweifel? So präsent wie noch nie, lauter und erdrückender als jemals zuvor.

KnochentrockenМесто, где живут истории. Откройте их для себя