Es war kalt. Um mich herum die Leere, die nur allzu bekannte Stille, die mich umgab. Vor mir ein Mädchen, welches sitzend von dem Geländer herab in den Abgrund starrte. Mit weit aufgerissenen Augen wollte ich zu ihr rennen, aber ich kam nicht voran, als würde mich eine unsichtbare Macht festhalten. Ich kämpfte immer weiter. Sie durfte nicht springen, das wäre ihr sicherer Tod. Ihr Kopf wand sich ganz langsam in meine Richtung. Ich sah sie flehend mit tränennassem Gesicht an. Bitte tu das nicht. , bat ich stumm.

»Deine Schuld.«, flüsterte sie, dann stieß sie sich ab und fiel in die unendliche Tiefe.

Schweißgebadet schreckte ich hoch. Es war schon wieder derselbe Albtraum. Ich fasste mir in die Haare und versucht mich zu sammeln. Das ist nicht real. , redete ich mir schluchzend ein, aber es war zu spät, die Tränen durchnässten schon mein Oberteil. Deine Schuld. , hörte ich sie reden. Es war meine Schuld, das würde sich niemals ändern. Ein lautes Schluchzen durchfuhr mich. Es war doch alles hoffnungslos. Ich brauchte sie. Was sollte ich denn nun machen? Ich war allein und wie Glas in tausend Scherben zersprungen. Ich war ein kaputter Mensch auf dieser heilen Welt. Ich sah hinüber auf die grünen leuchtenden Zahlen meines Weckers. Es waren nur noch ein paar Minuten vor sieben, in ein paar Minuten musste ich ohnehin aufstehen. Ich musste mich zusammenreißen, meine Eltern durften mich nicht wieder so sehen. Sie sollten sich nicht noch mehr Sorgen um mich machen.

Als ich die Tränen so gut es ging weggewischt und den Kloß in meinem Hals hinunter geschluckt hatte, ging ich in mein eigenes kleines Badezimmer, gleich neben meinem Schrank, und stieg unter die Dusche, um diesen Angstschweiß loszuwerden. Es gab nichts Schlimmeres als täglich von der Angst verfolgt zu werden. Egal was ich sah, sei es nur eine einfache Schaukel oder ein Fahrrad, es erinnerte ich mich an ihr Gesicht in meinen Albträumen.

Nachdem ich fertig war, putzte ich die Zähne, schminkte mich etwas, föhnte mein Haar und ging zurück in mein Zimmer. In meinem Schrank fand ich einen schwarzen Kapuzenpullover den ich mit einer dunkelgrauen Jeans anzog. Früher hätte ich so etwas nur angezogen, wenn ich übermüdet gewesen wäre, was ich eigentlich in gewissen Maßen auch war, nur dass ich mich daran gewöhnt hatte. Danach nahm ich meine Tasche und machte mich auf den Weg nach unten. Das Frühstück würde ich ausfallen lassen, denn Hunger hatte ich dank des Traumes wirklich nicht.

Zu meiner Überraschung schienen Mom und Dad bereits auf Arbeit zu sein, was eigentlich ziemlich gut war, wie ich fand. So mussten sie sich nicht Gedanken um eine mögliche Essstörung machen. Ich schnappte mir schnell mein Lunchpacket, um dann endlich in mein Auto zu steigen und losfahren zu können. Vielleicht freute ich mich wirklich über das Geschenk, denn falls ja, war es ein wirklich großer Fortschritt.

Im Laufe der letzten zwei Monate war ich schon aus diversen Gründen beim Psychologen. Da hätten wir zum Beispiel: schwere Depressionen, Essstörungen, Ritzen, obwohl ich keine Wunden hatte, Minderwertigkeitskomplexe, ich wartete nur noch darauf dass ich bald wegen einem versuchten Selbstmord hin musste. Nicht dass ich mich umbringen wollte, doch meine Eltern waren in letzter Zeit ziemlich schnell in Sorge um mich. In erster Linie war ich aber wegen meiner krankhaften Trauer, wie Dr. Grayson es nannte, in Behandlung. Mom und Dad könnten ihr Geld wirklich besser ausgeben. Diese Behandlungen brachten rein gar nichts. Außerdem war Dr. Grayson ein absolutes Arschloch. Bei meiner ersten Sitzung meinte er mich gleich zu kennen, aber das tat er nicht im Geringsten. Er hielt mich für ein gestörtes Mädchen, das sich selbst absichtlich verletzte, wenn es sich beim Schneiden von Obst ausversehen in den Finger schnitt.

»Woher wollen Sie das wissen?«, hatte ich ihn ein klein wenig gereizt gefragt, was sich gleich als Fehler erweisen würde.

»Nicht alle tun dies an offenen Stellen. Sie sind doch schlau Kathrine. Allein wie sie mich eben gefragt haben, beweist es doch.«, sagte er seelenruhig zu mir. Ich presste die Zähne zusammen. Ich dachte, dass sich die Ängste meiner Eltern womöglich jeden Moment bewahrheiteten und ich würde hochgehen wie eine Bombe. Ich hatte mich selbst gefragt was ich hier überhaupt sollte? Ihr Tod war zu diesem Zeitpunkt eine Woche her gewesen und die Beerdigung stand auch noch bevor, es war also normal sich zu verkriechen, um für sich trauern zu können.

Die Stille nach dirWhere stories live. Discover now