Marie und Nadija

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So ein Mist. Während Lena und Anne Kleider für den Herbstball shoppen, sitze ich hier fest. Gibt es etwas Schlimmeres, als seinen Samstagnachmittag bei einer Selbsthilfegruppe zu verbringen? Seufzend betrete ich das Gemeinschaftshaus der Caritas und bleibe vor einer Pinnwand in der Eingangshalle stehen, um Zeit zu schinden. 

Beratung für werdende Mütter, Bastelnachmittage für Senioren, ein internationaler Kochkurs... Ach, da ist er ja. Selbsthilfekreis für Angehörige von Alkoholabhängigen. Ich verdrehe die Augen. Schlimm genug, dass meine Mutter die Hände nicht von der Flasche lassen kann, sie verleugnet es auch noch. Trotzdem tun wir zuhause so, als ob alles in bester Ordnung wäre, damit der Ruf der Anwaltskanzlei meiner Eltern nicht flöten geht. Offiziell ist meine Mutter also bei Gerichtsterminen, wenn sie in Wahrheit ihren Rausch ausschläft. Mein Vater ahmt dann stets die berühmten drei Affenfiguren nach, die bei uns auf dem Wohnzimmertisch stehen und sich die Augen, die Ohren und den Mund zuhalten: Nichts sehen, nichts hören und nichts sagen. So wird man Probleme schließlich am besten los. 

 „Hey, wo geht's denn hier zu diesem Assi-Treffen?", reißt mich plötzlich eine gelangweilte Stimme aus meinen Gedanken. Ruckartig drehe ich mich um. Na toll. Vor mir steht das lebende Klischee einer Problemgöre aus einer Unterschichtsfamilie: Schlabberklamotten, strubblige Haare, Nasenpiercing. Als wäre das noch nicht genug, kaut sie auch noch seelenruhig einen Kaugummi und mustert mich herablassend. „Wenn du den Selbsthilfekreis meinst, musst du in den ersten Stock", antworte ich betont höflich und bemühe mich, nicht die Augen zu verdrehen.

Einen Augenblick erwäge ich, das Treffen heute sausen zu lassen, denn vor der Ghetto-Göre möchte ich mir nicht die Blöße geben, eine saufende Mutter zu haben. Nur leider ist diese Gruppe momentan das Einzige, das mir Halt gibt, so bescheuert sie auch ist. So folge ich dem Mädchen die Treppe hoch in den Raum mit dem Stuhlkreis, woraufhin sie fragend die Augenbrauen hochzieht.  „Du also auch", stellt die Ghetto-Göre fest, als könne sie es kaum glauben. „Du siehst gar nicht so aus, als hättest du Probleme. Mit deinen Schickimicki-Klamotten und der Föhnfrisur passt du eher in eine Ausgabe von Schöner Wohnen." 

Mir klappt beinahe die Kinnlade herunter. Was fällt der denn ein? Mir liegt schon eine schnippische Antwort auf der Zunge, als Charlotte, die Leiterin des Selbsthilfekurses zur Tür hereinschneit. „Marie, ach wie schön, dass du Nadija bei uns begrüßt. Ich dachte mir schon, dass ihr beiden schnell Freundinnen werdet."

*

„Willkommen zu unserem heutigen Treffen! Ich freue mich, dass ihr heute wieder so zahlreich erschienen seid. Bitte heißt mit mir unser neuestes Mitglied Nadija willkommen. Möchtest du dich kurz vorstellen, Nadija?", begrüßt Charlotte nun die versammelte Gruppe.

 Die Ghettogöre holt den Kaugummi aus dem Mund und lehnt sich in ihrem Stuhl zurück. „Meinetwegen. Viel gibt's da allerdings nicht zu erzählen. Überraschenderweise bin ich aus dem gleichen Grund hier wie alle anderen auch. Mein Alter trinkt immer Schnaps, wenn ihn seine Arbeit auf der Baustelle nervt. Das ist Scheiße, weil er brüllt und Gegenstände durch die Gegend schmeißt. Meine Mutter sperrt ihn dann zum Ausnüchtern ins Bad ein." 

 Charlotte und die restlichen Gruppenmitglieder nicken verständnisvoll. Ausraster sind nichts, was nicht viele von uns selbst erlebt haben. Obwohl meine Mutter eher hysterisch heult und sich die Bettdecke über den Kopf zieht, wenn sie zu viel getrunken hat. „Danke, dass du so ehrlich bist", ermuntert Charlotte die Ghettogöre und lächelt ihr zu. „Wir befinden uns hier in einem geschützten Raum, in dem wir ohne Vorurteile über die herausfordernde Lage reden, in der wir alle sind." 

 „Herausfordernde Lage." Nadija schürzt die Lippen. „Und zu was fordert die Lage mich heraus? Soll ich den Schnaps meines Alten ins Klo kippen? Mir ein nettes Plätzchen im Kinderheim suchen und Mama und meine Geschwister mit dem Säufer allein lassen?" 

 Ich unterdrücke ein Kichern. Klar, bei süchtigen Eltern gibt es nichts zu lachen, aber Nadijas sarkastische Bad Ass Reaktion verdient Applaus. Vermutlich findet sie die Selbsthilfegruppe mit dem ständigen „wir können über alles reden", „wie fühlst du dich dabei?" und „wir werden eine Lösung finden" genauso bescheuert wie ich. Wenn es eine einfache Lösung gäbe, hätten die teuren Seelenklempner, die mein Vater auf meine Mutter losgelassen hat, sie längst gefunden.

Charlotte bleibt gelassen. Vermutlich wird sie als Psychologin ständig von irgendwem provoziert. „Du sorgst dich also um deine Mutter und deine Geschwister? Das ist sehr verantwortungsvoll, Nadija. Dennoch solltest du mit jemandem vom Sozialdienst sprechen, wir alle brauchen manchmal Hilfe." 

 Nadija und ich seufzen gleichzeitig auf. Wenn meine Mutter alle Unterstützung bekommt, die man kriegen kann, und ihr Suchtproblem nicht in den Griff bekommt, wie soll Nadijas Vater das dann schaffen? So viel Kohle wie meine Eltern haben ihre bestimmt nicht.

„So lange die Süchtigen nicht selbst einsehen, dass sie ein Problem haben, nützt ein Sozialdienst auch nichts!", springe ich Nadija bei. „Wenn meine Mutter am Wochenende abgestürzt ist, empfängt sie am Montag ihre Klienten in der Kanzlei, als wäre alles Regenbogen-Einhorn-perfekt. Sie weigert sich zuzugeben, dass sie ein Problem hat." Nadija lächelt mich dankbar an. Wenn sie lächelt, wirkt sie irgendwie schüchtern, so gar nicht wie ein taffes Ghettogirl.


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