A Miracle Will Not Happen

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Akashis Worte waren eine glaubhafte Offenbarung, die mir alle verschlossenen Türen öffnete. Diese nicht zögerliche oder mit aufmunternden Worten geschmückte Offenbarung aus dem Mund von einer anderen Person, ließ meine tiefen Gefühle traurig zerbrechen und mich an Freundschaften zweifeln, die die letzten Jahre rein und unschuldig waren. In meinem Schädel schwirrten schwachsinnige Gedanken umher, dusselige Gedanken, die maßlos verrückt und unglaubwürdig waren und sich wie ein schlechter Film anfühlten aber die unausweichliche Realität schlug mir nach jedem Wiedererleben fest ins Gesicht. In all dem Chaos und dem innerlichen Durcheinander umfasste mich jedoch auch eine merkwürdige Erleichterung. Die Erleichterung, dass es einen Menschen gibt, der mich nicht mit meinen Problemen alleine lässt oder meine verschwommenen Erinnerungen als Phantasie einstuft, sondern mir ein ehrliches Ohr gab, neben Akio. Akashi ist in all der Dunkelheit wie ein leuchtender Schimmer Hoffnung aber eine weitere Sekunde in Aoyama wäre für meinen tobenden Verstand nicht ertragbar gewesen, also verweilten wir nicht mehr lange auf dem Gelände und machten uns ohne Plan nach Shibuyas Innenstadt. Akashi wich nicht von meiner Seite, versuchte mich auch nicht mit leeren Aufmunterungen zu trösten, sondern leistete mir tonlose Gesellschaft, die in meinem Inneren eine gewisse Ruhe reinbrachte. Wir suchten einen stillen Ort und entschieden uns für die Bibliothek in Shibuya. Hier lungerten nur einige gestresste Schüler durch die Flure und die anderen Besucher saßen ruhig an den runden Holztischen und lasen.

Ich traf mich auf dieser leeren Etage manchmal mit Kuroko und wir saßen meist in einer angenehmen Sitzecke und tauschten uns über Bücher aus. Der wässrige Kaffee aus den Automaten schmeckte abscheulich und die Snacks waren geschmacklos aber wir genossen die Zweisamkeit und aßen nach einer Lesesession mit Shin-chan und Takao in Akihabara Ramen. Gelegentlich schaffte es Ryouta nach seinen Fotoshooting nachzukommen und wir verbrachten den restlichen Tag auf dem Basketballfeld im Park. Schöne Erinnerungen.

„Hier." Akashi reichte mir eine grüne Flasche entgegen und nahm an den süßen Tisch, der in einer verlassenen Ecke im weiten Raum voller Regale stand, Platz. Ich lächelte. Grüner Tee, mein Lieblingsgetränk.
„Danke." Ich guckte Akashi vor mir fragwürdig an, der ohne das Gesicht zu verziehen an dem sogenannten Kaffee schlürfte und mich nach meinem Blick schief anblinzelte. Erstaunlich. In jeglicher Hinsicht erwachsen. Der lustige Gedanke überdauerte nicht lange und er stellte mir nach einer Pause eine Frage, die mich überforderte.

„Kannst du dir vorstellen, den Hinweis mit dem Ring an die Polizei weiter zu geben?" Ich nahm einen Schluck von dem Tee und überlegte nicht lange.
„Ja, schon. Jede Information an Mori-san wäre nicht verkehrt..." Akio meinte nach Fukuoka das Gleiche. Jeder Hinweis, egal wie oberflächlich und ungenau, würde die Akte mit Daten füllen.
„Ich weiß, dass meine Bitten an diesem Tag etwas mühsam ausfallen aber würdest du...mitkommen?" Mir fiel es schwer, ein erneutes Flehen zu äußern aber wenn nicht Akashi, wer sonst?
„Es ist selbstverständlich, dass wir das gemeinsam machen", antwortete er zuversichtlich.
„Danke. Ich schätze deine Hilfe sehr." Dass er an meiner Seite stand, ist genug für mich.
„Gerne, für dich immer Nana." Mein Herz machte einen übergangslosen Salto und ich nickte in Verlegenheit. Seine lieben Worte haben seit meinem Geburtstag mehr Auswirkungen auf mich und es machte etwas mit mir und meinem Körper. Jeder Nerv unter meiner Hüfte ist abgestorben aber trotzdem fühlte ich jeden noch so unscheinbaren Effekt seiner Nettigkeit. Jetzt steht jedoch eine andere Angelegenheit im Fokus.


*


Ich stellte mich darauf ein, wie nach Fukuoka mit dem gleichen Gefühl im Magen zur Polizeistelle zu fahren. Flau und rastlos aber nicht alleine. Der Geruch von Kaffee und Aktenordnern lag in der Luft, während wir im geschäftigten Wartebereich des Reviers saßen, der von aufgeregten Telefonaten und laute Stimmung geflutet wurde. Akashi tätschelte sanft meinen Kopf, um mir zu zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg waren und dass es eine gute Entscheidung ist, den Schritt nach vorne zu wagen. Es dauerte nicht lange und Mori-san mit Nagai-san tauchte auf. Nette Worte und neugierige Fragen über meine Besserung aus reiner Gewohnheit von Mori und anschließend saß ich erneut in einem weißen Besprechungsraum, der mich erdrückte. Ich fühlte mich an diesem Ort schwach und winzig, als würde der Raum immer größer und weiter werden und mich auffressen.

Meine Erzählung über den Ring war von Anfang an emotional und instabil aber der riesige Druck, etwas vorweisen zu müssen, mit Mori-san und Nagai-san vor mir, die mich erwartungsvoll anstarrten, war enorm.
„Mit welchen Gründen vermuten Sie die Absichten einer Straftat von Minako Shimura?" Ich verlernte das gleichmäßige Atmen und versuchte die Nervosität zu bezwingen, nachdem Mori den Satz nach außen trug, der in meinem Kopf als Spinnerei im Raum stand. Minako, eine Straftat? Das ist krank.
„Ich...weiß es nicht und eigentlich..." Ich schaffte es nicht, geradlinig auf einen Entschluss zu gelangen, der Sinn ergibt aber Akashis warme Hand auf meiner, die auf meinen Schoß lag und unaufhaltsam zitterte, gab mir Kraft.
„Nun, ein ehemaliger Stalker, ein verrückter Fan, alles im Bezug zu Nao Sakuragi ist möglich, falls Ihre Annahme auf eine gezielte Straftat wahr wäre natürlich." Ich fuhr erschreckt auf. Einen Augenblick...
Nao? Nein...
Das ist niemals wahr. Niemals! Ich weiß, dass das nicht wahr ist. Ich sah es mit eigenen Augen. Der Ring von Minako war der gleiche Ring wie der auf dem Basketballfeld im Summer Cup und die Person ebenfalls. Ich schüttelte den Kopf, verneinte lautstark aber Mori und seine weibliche Begleitung vermerkten auf den Zetteln die schwammige Vermutung im Bezug zu Nao, als wäre dieser nur eine lustige Wahnvorstellung. Der Vorfall steht absolut nicht mit Nao in Verbindung.
„Jedenfalls...Frau Shimura und Frau Shiina waren zu dieser Zeit im Mädchenlager. Das gaben andere Zeugen wie Mayuri Wakana und Sachiko Minagawa wieder. Sie selber schilderten Ihre Route nach dem Unfall, wissen Sie das nicht mehr, Sakuragi-san? Die Mädchen suchten nach Ihnen. Das gesamte Geschehen ist auf das Detail logisch verzeichnet." Ich schwieg, wusste nicht, wie die logische Zusammensetzung zu leugnen ist aber etwas in mir sagt, dass das alles nicht möglich oder wahr ist.
„Nana war verwirrt. Sie lag mehrere Wochen auf der Intensivstation. Natürlich ist es vorstellbar, dass sie ohne jegliche Erinnerung den Ablauf bestätigt." Akashi neben mir übernahm den weiteren Verlauf und es erleichterte mich, denn die Übelkeit schoss nach oben und mein Kopf tat weh.
„Das ist vermutlich richtig aber das ändert nicht das stehende Alibi der Mädchen."

„Was ist mit dem Autofahrer?", versuchte Akashi tiefer in das Geschehen zu grätschen und mein Inneres zerberstete vor Unentschlossenheit. Meine eigenen Erinnerungen machen mir Angst. Angst vor mir selber.
„Herr Nakano und die Mädchen veranschaulichten den Autounfall nachdem Sakuragi-san in das Krankenhaus eingeliefert worden ist. Keine offenen Fragen waren in ihren Aussagen zu erkennen und alles deutet auf einen Unglücksfall." Mori schloss das Heft endgültig, als wären alle weiteren Worte nicht mehr ausschlaggebend. Ich ließ die angespannten Schultern sinken und verfluchte mich selber, überhaupt auf die Idee gekommen zu sein, Minako als Übeltäter in das Geschehen zu werfen. Verrückt.
„Ich weiß, dass es nicht nur das ist", sagte ich selbstsicher. Doch ein Gefühl in mir ist aufrichtig: Das schleichende Gefühl, dass die versteckte Wahrheit ganz anders aussieht.

„Sakuragi-san." Herr Mori seufzte auf und schob die geschlossene Akte zur Seite „...ein Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit ungenaue Hypothesen würde Ihnen und auch Yamaguchi-san schaden. Ich meine es für Ihr eigenes Wohlbefinden. Es ist schwer, an handfeste Beweise zu gelangen, wenn es nicht eine einzige Anlaufstelle dafür gibt ", erklärte er standhaft. Ich weiß. Ich weiß doch aber...
„aber wollen Sie ihre Erinnerungen einfach zur Seite schieben uns so tun, als wären diese nicht existent?", ergänzte Akashi neben mir meine Gedanken, ruhevoll und gefasst wie immer, auch in dieser Situation. Dabei übte er mit seiner Hand auf meinen Handrücken Druck aus, als wäre er ernsthaft sauer.
„Schwache Erinnerungen, die von anderen Aussagen widerlegt werden, nützen uns leider nichts aber wir vermerken jede Information. Keine Sorge", wiederholte Mori mit einem Lächeln. Es war eine irre Idee, die Polizeistelle aufzusuchen, irrsinnig und umsonst.
„Richtig, tut mir leid und...Danke, Mori-san. Lass uns gehen, Akashi." Ich griff nach dem weinroten Ärmel seiner Uniform und Akashi nahm meine Bitte ohne Widerspruch an, auch wenn sein geknickter Blick das Gegenteil vermittelte. Es führt ins Nichts. Der Hinweis ist angekommen und das muss genug sein.

„Nana." Wir verließen das Revier, erneut, das zweite Mal ohne jegliches Ziel und standen ohne einen weiteren Schritt auf dem Bürgersteig „du möchtest Yamaguchi nichts erzählen?" Keine Frage, mehr eine Bestätigung.
„Ich möchte die Gefühle von Akio nicht verletzen oder ihn weiter aufwühlen. Wir einigten uns darauf, die Sache für immer zu vergessen und nach vorne zu schauen aber..."
„Was ist mit deinen Gefühlen?", redete er in meinen zögerlichen Satz rein. Meine?
„Hat dir Daiki es nicht an deinem Geburtstag schon gesagt?" Ich guckte Akashi zweifelhaft an.
Er sah...
„Ich weiß aber das ist die rationalste Entscheidung."
„Du möchtest auch nicht mit deiner Ex-Kameradin über den Ring reden?" Ich überlegte.
„Es ist...Es ist wahrscheinlich nur ein ähnlicher Ring, nichts weiter..."
„Nana, zweifel nicht an deinen Erinnerungen. Bitte. Du musst dir selber glauben, dir selber vertrauen, sonst...", schnitt er mir erneut verzweifelt das Wort ab aber seine Sorge war groß. Ich merkte, dass Akashi unbedingt versuchte, mich nicht mehr selber mit Lügen zu ersticken, mir selber Zuversicht zu schenken und es nicht einfach anzunehmen, als wäre es nichts Großes. ...als wäre es nichts Großes, dass Minako, meine eigene Kameradin...

Erneut schafften es diese wahnwitzigen Vorstellungen nach oben und jedes Mal riss es mir ein Stück meines Herzens raus, darüber mir weiter den Kopf zu zerbrechen und jeden glücklichen Moment in Samzu in Frage zu stellen. Es wird sich nichts ändern, wenn wir nicht die Konfrontation suchen. Es wird immer in der Ungewissheit stecken und nie einen Weg nach oben finden. Doch möchte ich die Wahrheit erfahren? Vielleicht renne ich gewollt vor der Realität weg, nur um dieser nicht gegenüber zu treten?

„Das war zu viel für einen Tag, nicht? Du solltest dich ausruhen, lass uns die Nachhilfe verschieben." Akashi legte die Hand sanft auf meine Schulter.
„Nein...Bitte..." Ich richtete mich im Rollstuhl auf. Ich möchte nicht, dass Akashi geht. ...noch nicht.
„Bist du dir sicher, dass du nicht nach Hause möchtest?" Ich nickte scharf.
„Gut, dann müssen wir aber gemeinsam eine gute Ausrede für Yamaguchi finden, okay?" Eine einfache Aufgabe.

Mit Akashi den Tag zu verbringen und lockere Aktivitäten zu unternehmen, die mich an meine Schulzeit mit Kyoko erinnerten, löste den verworrenen Knoten in meinem Herzen. Ein leckeres Eis zu essen oder in Arcade Stores mein ganzes Kleingeld zu verbrennen, waren an diesem sonnigen Nachmittag die schönsten Tätigkeiten der letzten Monate und es war albern. Dinge, die ich mit Kyoko jeden Tag nach der Schule unternahm, waren mit Akashi zusammen ein Stück wertvoller. Bedeutungsvoller.

Ich wusste aber, dass man die Realität mit einer Mahlzeit oder Zocken nicht einfach verscharrt und die Welt ist wieder in Ordnung. Das wusste Akashi auch aber dass er mir diese ausgelassenen Stunden schenkte, war eine riesengroße Entlastung, die mich meine Sorgen vergessen ließ. Mit Akashi vergesse ich fast, dass ich mit toten Beinen in einem Rollstuhl sitze. Ich vergesse, dass ein Teil von mir fehlt. ...als würde er genau diesen fehlenden Teil mit seiner unersetzbaren Existenz füllen. Ist das nicht genug, Nana? Ist die Wahrheit ein Gewicht, welches ausschlaggebend für meine Zukunft ist? Ist es für mich nicht eher von Vorteil, den finsteren Abschnitt in meinem Leben für immer einzubuddeln? Ich lebe mit einem tollen Vater zusammen, Freunde, die mich unterstützen stehen an meiner Seite und auch Akashi, der mir das Gefühl von Zuneigung gibt. Ist das alles nicht genug? Doch tief in meiner Seele regiert eine Unzufriedenheit, die mich in all der wohligen Liebe in einen Abgrund voller Angst und Furcht wirft. Eine wütende Nana, die es niemals schafft, so abzuschließen und glücklich zu leben.

„Ah, schlecht", ertönte Akashis Stimme neben mir, als wir es aus dem lauten Arcade Store schafften. Mein fragender Blick wich zu ihm und er starrte auf sein Handy, entsetzt „dein Vater. Elf Anrufe in Abwesenheit."
„Ah...schlecht...", wiederholte ich schreckhaft. Akashi lachte leise auf und meinte, dass wir langsam aber sicher wieder zurück nach Samezu müssen. Welche Strafe mir Akio wohl diesmal um den Hals wickelt?


*


Zuhause angekommen, stand mein Vater schon mit einem verärgerten Blick und verschränkten Armen im Eingangsbereich, mit dem Handy zwischen den Fingern. Doch Akio war nicht die einzige erzürnte Person, die im langen Flur ruhte und mit der gleichen Haltung uns stark observierte. Mein Blick wich über seine Schulter. Eine Frau? Ich zuckte auf, meine Wangen wurden merklich rot. Eine Freundin? Seine...Freundin?
„Akashi's Großmutter", erklärte Akio mit einem bedenklichen Ausdruck. Oh. Akashi machte einen ängstlichen Schritt zurück, als würde ihn ebenfalls eine Standpauke erwarten. Seine Oma? Anhand ihres Auftreten, war mir sofort erkenntlich, dass es die Mutter von Akashis Vater ist. Ich guckte interessiert nach oben, in die gleichen roten Augen. Sie war fit, fast schon gut in Form und sah ziemlich jung aus dafür, dass es seine Oma ist. Der goldene Schmuck an ihren Fingern und die glänzenden Ohrstecker, der rote Lippenstift, die gefärbten dunkelbraunen Haaren mit den leichten grauen Härchen. Sie sah toll aus, elegant in ihrem grünen Rock und dem Blazer, strahlte eine gewisse Anmutigkeit aus. Das ist also Akashi's Großmutter? Ich stellte sie mir ganz anders vor, eher wie Nanami-chan, süß und putzig aber die Frau vor mir wies schon nahezu scharfe Gesichtszüge vor, die etwas streng aussahen und mich überkam ein wenig Panik. Ist sie sauer, dass Akashi sich nicht meldete und wir erst so spät eintreffen?

Sie ging auf mich zu, mit verschränkten Armen und einem prüfenden Blick. Ich schluckte schwer. Sie ist sauer, oder?
„Du musst also Nana sein, von die Akashi den ganzen lieben Tag erzählt." Wie?
„Touko...", flehte Akashi fast schon verlegen. Moment. Akashi erzählt von mir? Ich versuchte mir auszumalen, in welchem Ton und mit welchem Gesichtsausdruck er über mich redete und was er wohl ohne meine Anwesenheit über mich sagte?
„Ihr wart also in der Bibliothek?" Fragwürdig guckte sie von mir zu ihm und wusste wohl möglich, dass es einigermaßen eine ausgedachte Lüge war. Akio auch. Mein Vater wusste auf Anhieb, wenn mich eine schlechte Ausrede verlässt. Immerhin log Kyoko ständig, sodass wir noch einige Stunden in der Karaoke Bar verbrachten. Das wird eine lange und schmerzvolle Predigt.

Touko aß mit uns zu Abend und Akio freute sich unglaublich darüber, wieder mit anderen Menschen an einem Tisch zu sitzen und einfach eine warme Mahlzeit zu essen. Akio liebte es ungünstige Geschichten über mich zu enthüllen und auch das verstaubte Fotoalbum mit all den schrecklichen Outfits meiner Kindheit vorzuführen. Die Nacht traf ein und die zwei Gäste setzten zum Gehen an. Nur Akashi zögerte, fragte mich still und leise, ob er nicht bleiben soll aber das wäre zu viel des Guten gewesen, also einigten wir uns darauf, die Nachhilfe auf morgen zu verschieben und den Tag in dieser Form abklingen zu lassen. Ich möchte nicht mehr darüber einen mickrigen Gedanken verlieren, einfach in mein Bett legen und schlafen, für immer vergessen.

Ich atmete tief aus, als die Tür ins Schloss fiel, streichelte Mikan neben mir und starrte auf den ausgeschalteten Fernseher. Das war ein anstrengender Tag. Vor Akashi elendig zu weinen und mich schutzlos zu zeigen, war irgendwo ein Schritt, der im Nachhinein gut tat. Er sah zwar eine verletzliche Seite von mir, die sonst nur Akio je mitbekam aber die eiserne Maske abzuziehen fühlte sich wie erlösende Befreiung an. Neben Akashi fällt es mir einfacher, mich zu zeigen. Nicht mit der ständigen Sorge, dass er mich für diese Persönlichkeit verurteilt.

„Maus." Akio. Ist er wieder zurück? „Entschuldige. Touko wollte mich nicht gehen lassen."
„Ist etwas vorgefallen?" Ich schob meine eigenen Gedanken zur Seite, fokussierte mich auf meinen Vater, der die Schiebetür zum Wohnzimmer wieder schloss.
„Oh, Nein! Wir schweiften etwas in den Smalltalk über. Sie mag dich total gerne", erklärte er fröhlich.
„Wirklich? Ich finde sie auch sehr lieb." Akashi's Oma ist nett, ganz anders als mein erster Eindruck.

„Wie geht es dir?" Er legte die Schlüssel auf den Kotatsutisch ab und zog die schwarze Trainingsjacke aus.
„Gut, etwas müde." Ein Glück ist Akio nicht dahinter gekommen. Akashi rettete mir erneut das Leben mit seiner Ausrede und dass wir in der Bibliothek die Nachhilfe fort führten.
„Wie wäre es dann mit einem stärkenden Getränk?" Ich nickte und er verschwand in der offenen Küche. Mikan schnurrte zufrieden und ich schmunzelte über Ryouta's meckernden Nachrichten im Chat.

„Nana..." Ich guckte von meinem Handy, auf der eine einkommende Nachricht von Akashi aufblitzte zu Akio, der mit dem Erwähnen meines Vornamen mich etwas verunsicherte.
„Es gibt noch etwas Wichtiges, was ich dir gerne erzählen würde. Würdest du mir für einen Augenblick zuhören?" Er legte mir eine Tasse auf den Couchtisch und setzte sich zu mir auf das Sofa. Es roch nach Kaffee. Das koffeinhaltige Getränk lief mir an diesem Tag zu oft über den Weg.
„Natürlich", entgegnete ich unsicher. Meine Stimme zitterte und mich umhüllte eine ziehende Enge. Ist er doch auf den Vorfall an meinem Geburtstag oder den Ring gekommen?

„Ich weiß, dass es an der Zeit ist und eigentlich war es schon viel früher geplant aber dann waren wir im Urlaub und dein Geburtstag...", erzählte er und Akio's sonst starke Stimme bebte vor Unsicherheit. Meine Alarmglocken schlugen auf. Ich legte meine Hand vorsichtig auf seine, denn das was er mir jetzt sagen möchte, scheint gewaltig zu sein. Ich merkte es sofort. Er wirkte aufgewühlt. Er seufzte auf, ehe er fortfuhr.
„Es geht um...Nao. Wenn du noch nicht mit mir darüber reden willst, dann ist es auch okay." Nao? Wieder. Akio macht selten das Thema Nao auf. Und wenn er es doch tat, ging es meist um etwas Wichtiges. Dann lag meine Vermutung in Fukuoka damals richtig. Was genau ist es?
„Ich möchte. Wenn es dir wichtig ist, dann mir auch", sagte ich ehrlich. Seine Finger um meine Hand wurden fester.

„Ich werde nicht unnötig drum herum reden und dich auch nicht anflehen, mich dafür nicht zu verurteilen oder mir das Versprechen geben, dass du mich danach nicht verabscheuen darfst." Er strich sich die mittlerweile dunkelblonden Haare zurück und seine Unruhe war merkbar. Was ist mit Akio los? Es macht mich traurig, dass er diese negativen Gedanken vorweist. Ihn verabscheuen? Das wird niemals geschehen. Niemals. Er ist doch mein geliebter Vater. Vor allem nach meinem Geburtstag und dass wir offiziell eine Familie werden möchten.
„Egal, was es ist Akio...du wirst immer mein Vater sein und das wird sich nie ändern. Das weißt du doch schon..." Der Blonde lächelte aber es war ein schmerzliches Lächeln, welches mir eher weh tat als dass es mich ruhig stellte wie sonst immer.
„Ich weiß und du bist auch meine Tochter...", fing er an „also werde ich dir die ganze Wahrheit sagen, die du mehr als verdienst." Ganze Wahrheit? Ich schluckte schwer, die Angst stieg auf und auch ein Hauch Nervosität. Was möchte er mir sagen? Dass er mich doch zurück zu meinen Eltern schicken will und er es mit der Adoption bereut? Nein. Nein. Nein. Akio würde so etwas nie machen. Mir Hoffnung und ein Zuhause geben und es wieder wegwerfen. Keineswegs. Er rang nach den Worten, schien sehr stark zu überlegen, wo er ansetzte sollte, was mich nicht weniger zappelig machte.

„Nao war...", startete er vorsichtig an und das Ticken der Uhr wurde lauter. Ich lauschte meinen eigenen wilden Herzklopfen zu und mir wurde für einen Moment schwindelig „Nao war für mich mehr als nur ein Bruder...", flüsterte er und guckte überall umher, außer in meine Augen. Es wurde augenblicklich still, nur für einen Moment. Dann wurde es mir mit einem Schlag bewusst. Und das war Akios Satz, der in meinem Kopf wie ein Ballon aufging. Wie eine Erleuchtung, ein Geistesschlag, eine plötzliche Einsicht, die in meinem Gehirn alle Tore aufzerrte. Mehr als ein Bruder sagt er. Ich empfand es als Kind immer als normal. Es ist normal. Das Normalste auf Erden, jemanden zu lieben aber diese Art von Liebe war eine andere. Ich verstand endlich. Akio liebte Nao. Nicht nur als Bruder, nicht als Familie. Er liebte ihn. Ich schüttelte fest den Kopf. Natürlich tat er das. Dumme Nana. Es lag jeden Tag vor deinen Füßen, vor deinen Augen. Dass zwischen ihnen ein unzertrennbares Band gab, das wesentlich weiter als nur Brüderschaft reichte. Ich wusste es schon seit Anbeginn, seit dem ersten Treffen. Jetzt, wo er diesen Fakt aussprach, mit voller Ernsthaftigkeit, wurde es mir erst erkenntlich.

„Es tut mir so leid, Maus. Es ist meine Schuld, dass Nao...dass...", verhaspelte er sich panisch. Ich griff mir Akios Handgelenk und verkrallte meine Finger in seine Haut.
„Du darfst so etwas nicht sagen!" Natürlich ist es nicht seine Schuld. Niemand trägt Schuld und vor allem Akio nicht.
„Ich weiß, entschuldige...Ich...", flüsterte er gebrochen.
„Wieso...Hast du mir nicht früher davon erzählt?" Wieso jetzt? Wieso dann, wenn in meinem Kopf so viel Negatives geschieht und alles auf mich einfällt wie eine Lawine. Wieso?
„Natürlich wollten wir dich darüber irgendwann in Kenntnis setzen aber du warst noch so jung und es passierte unendlich viel auf einen Schlag", erklärte er. Ich erinnere mich. Nao schaffte es nicht, diesen in den Abgrund ziehenden Druck zu überstehen. Er wirkte müder, schwächlicher, abweisender und verschanzte sich nach seinen Matches in sein Hotelzimmer. Ich war zu jung, um zu verstehen, dass es ihm mental nicht gut ging, dachte nur, dass er seinen Körper ausruhen möchte und deshalb nicht mit mir reden wollte aber jetzt wurde es mir mit all seine Intensität klar. Dass Naos plötzlicher Herzinfarkt nicht eine Tragödie des Zufalls war, sondern durch immensen Stress ausgelöst wurde, verbunden mit zu viel Training, zu wenig Schlaf, zu wenig Zeit, jahrelange Belastung. Er machte weiter, weil...

„Die Erwartungen der Nationalmannschaft, der Fans, ganz Japan. Nao war es nicht mehr möglich, es standzuhalten. Dann die Sache mit uns und da fanden wir nie die Zeit, dir von allem zu erzählen und...", las Akio meine wirren Gedanken und ergänzte meine Vermutung. Im Profisport eine verbotene Liebe, ein regelrechtes Tabu.
„Warum ist er nie damit zu uns gekommen? Hätten wir nicht eine Lösung gefunden?" Eine Lösung? Wofür, Nana? Es an sein Lebensende zu verstecken wäre nicht ansatzweise eine gesunde Lösung gewesen...
„Ist er. Eiji war der Erste, den wir alles anvertrauten aber er fand es schwachsinnig..." Schwachsinnig? War Eiji nicht ihr Freund? Es ist so absurd. Er durfte nicht er selbst sein aber mein Bruder wollte auch nicht den Basketball verlieren, seinen Traum verlieren, wofür er all die Jahre schuftete und trainierte, auf den verranzten Basketballfeldern in Fukuokas rustikaler Gegend und in engen Hallen in der Schule. Nao, es tut mir so leid, so unglaublich leid. Dass du dich in diesem männlichen Wirrwarr gefangen gefühlt hast. War das auch der Grund, wieso er ohne eine Sekunde der Überlegung mit mir nach Fukuoka geflüchtet ist? Weil mein leiblicher Vater genau an diese Glaubenssätze fest hielt? Hat sich Nao schon so früh nicht verstanden gefühlt, unter Druck gesetzt, und mir war es einfach nicht bewusst? War es das? Denn für Nao gab es aus meinen sechsjährigen Augen nichts, was ihn aus unserem Elternhaus rausziehen würde. Es machte so vieles Sinn, so viel, was mein jüngeres Ich nicht verstand und was mir jetzt, nach mehr als zehn Jahren, im Inneren weh tat, mir das Herz aus der Brust riss.

„Bist du deswegen nicht der Nationalmannschaft beigetreten?", fragte ich flüsternd und starrte immer noch auf den ausgeschalteten Fernseher, wusste die Antwort, die er mir geben würde. Mit einem leisen Ja bestätigte er meine Frage. Das ist der Grund. Das ist der Grund, wieso er das Angebot der japanischen Nationalmannschaft verbissen ablehnte. Natürlich. Er fand als Trainer seine Mitte, denn auch er liebte den Sport und wollte ihn nicht aufgeben.

„Es tut mir so leid, Akio..." Mir fiel nicht ein anderer Satz ein, der das erklären könnte, was ich im Moment fühlte. Ich musste mich zusammennehmen, um nicht an dem fetten Kloß zu ersticken, der in meinem Hals feststeckte. Es tat weh, die Tränen zurück zu ziehen aber es gelang mir. Mit stechenden Kopfschmerzen, Schwindelgefühl und einem drehenden Magen aber es gelang mir, nicht loszuweinen vor Kummer. Weil ich so naiv war und es nicht verstand, obwohl es jeden Tag direkt vor meinen Augen war.
„Ich werde es dir immer wieder sagen. Wenn es sein muss, jeden Tag. Dass du meine Tochter bist und das nicht wegen Nao, nicht wegen einem Versprechen, den Schuldgefühlen oder wegen deinen Eltern, sondern weil du es schlichtweg bist Nana. Du bist meine Tochter. Ich liebe dich. Dich und Nao. Immer." Akio guckte mich tieftraurig an, legte die Hand fürsorglich auf meine Wange und dann gelang es mir doch nicht mehr. Der innerliche Kampf gegen meine Tränen überdauerte nicht lange. Nicht, nachdem Akio selbst still und leise weinte, wie noch nie zuvor und mich in eine feste Umarmung zog. Nichtmal nach Naos Tod tat er das und der Gedanke, dass mein Bruder in dieser aussichtslosen Form von uns gegangen ist, fühlte sich wie das Ende der Welt an.

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