Kapitel 2 - You have to be Social

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Ich bin kein Freund von Routinen. Zumindest nicht von denen an diesem Ort. Dieser rasselnde Alarm jeden morgen um 6:30. Das Geräusch von meinem Zellenmitbewohner, wenn er den Schleim in das Waschbecken rotzt, nachdem er aufgestanden ist, der graue Haferbrei, der mich eher an Zement erinnert. Niemand nennt mich hier Marly, ich bin Wallis. Einfach nur Wallis.

>Hast du eine Säge für mich?< Saylah stößt mich vorsichtig am Ellenbogen an, bevor sie auf die kleine Handsäge auf der anderen Seite des Tisches deutet. Mit zusammengepressten Lippen reiche ich sie ihr, gebe ihr aber deutlich zu verstehen, dass ich keine Lust habe mich weiter zu unterhalten und stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren. Das gefällt mir am College. Es gibt keine Regeln, wie man Projekte zu bearbeiten hat- es zählt nur das Ergebnis. Mit einem schwachen Lächeln wendet sie sich wieder den anderen an unserem Gruppentisch zu und ich vertiefe mich in mein Projekt. Ich habe in diesem Semester Modellbau und Ölmalerei belegt und leider habe ich nicht nur ein mal daran gezweifelt, ob ich wirklich fürs College und erst recht für ein Stipendium gemacht bin. Meine Werke sehen aus, wie die eines Kindes. Und ich stehe kurz vor einem Trotzanfall. Im Vergleich zu den anderen hier bin ich nicht nur vergleichbar mies in dem was ich fabriziere- nein. Ich bin auch hier ein Außenseiter- irgendwie. 

>Liliah, was meinst du dazu?< Erst als ich bemerke, dass alle mich anstarren, ziehe ich meinen Kopfhörer aus dem Ohr und schaue in die Runde. 

>Wir wollen nachher alle in die Flüsterkneipe und uns den Poetry Slam anschauen, bist du auch dabei? Du kommst sonst nie mit...< Saylah schenkt mir ein Lächeln und legt ihren Arm um meine Schultern. Sie weiß genau, dass ich einfach nur in unserem Apartment rumhänge, während sie mit Rain und den anderen durch New Orleans zieht. Das hier ist nur wieder einer ihrer Versuche mich dazu zu überreden, dumme Entscheidungen zu treffen. Ich bin hier nur dank ihm. Er ist überall in dieser Stadt, da möchte ich mich wenigstens in meinem kleinen Zimmer vor der unendlichen Präsenz von Marlow Wallis verstecken. Es reicht, wenn er in meinen Gedanken ist. Er ist dort in jeder Sekunde. Morgens, wenn ich aufwache und abends, wenn ich einschlafe. Es ist mir egal, wie sehr es schmerzt, ich werde das nicht einfach loslassen. Sofort versteife ich mich unter Saylahs Arm und schlinge meine eigenen um den Brustkorb. 

>Ich kann nicht, ich bin noch nicht 21...< Auch wenn ich mich um einen sicheren Tonfall bemühe, klingt meine Stimme belegt. Zwei der Jungs, die mit gegenüber sitzen, stecken ihre Köpfe zusammen und lachen, während mir Saylah über den Oberarm streicht. 

>Ich auch nicht, das ist keine Ausrede. Die Flüsterkneipe ist ab 18, wenn du deinen Studentenausweis zeigst...Komm schon Lily, du wirst noch genug Zeit haben in unserer Wohnung zu versauern, aber jetzt in den ersten Wochen ist es doch so wichtig, dass du neue Leute kennen lernst und Spaß hast!< Wenn es nach mir ginge, dann reichen Sie und Rain mir völlig aus. Und da wäre noch Sam...

>Du brauchst dir gar keine neue Ausrede zu überlegen. Du kommst heute mit uns mit. Punkt, Aus, Ende!< Ich kann mir das Augenrollen nicht verkneifen. Allein der Gedanke an die Flüsterkneipe bringt mich zu dem Abend der Vernissage zurück. Zu der leichten Gitarrenmusik und wie wir unseren ersten gemeinsamen Song geschrieben haben. Die Zeilen haben sich in meinen Verstand gepflanzt, wie die Tattoos auf meiner Haut. Er ist dort überall. Und ich kann das nicht ertragen. Auch wenn ich es versuche zu verhindern, steigen mir die Tränen in die Augen, als ich mich zu Saylah drehe, die mir euphorisch entgegen lächelt. 

>Saylah, bitte...< Meine Stimme ist nur ein leises Flüstern, so sehr presse ich meine Zähne aufeinander. Ich habe keine Kraft mehr hier zu sein. Ich schüttle Saylah ab, sammle meine Unterlagen zusammen und verschwinde, so schnell es geht aus dem Kursraum. Erst als ich auf den Steintreppen vor dem Gebäude stehe, lasse ich die Tränen frei. Ich habe seitdem ich hier bin, jeden Tag geweint und mit jedem Tag habe ich das Gefühl, dass mein Akku schwächer wird. Egal wie lange ich schlafe, zeichne oder schreibe. Es ist, als hätte ich einen Wackelkontakt.
> Hey, alles okay mit dir?< Hektisch wische ich mir die Tränen vom Gesicht und drehe mich zu der warmen Stimme mit dem merkwürdigen Akzent herum. Neben der Mülltonne lehnt ein schlaksiger, bleicher Junge mit einer runden Brille und Aknenarben und schaut mich besorgt an.
>Ich...ähm ja. Schon okay. Es ist alles noch ein bisschen neu für mich. Es ist nichts.< Ich räuspere mich und versuche mich an einem Lächeln, aber der Junge legt nur seinen Kopf schief und macht einen Schritt auf mich zu.
>Okay? Ich bin Alexander Larrson und auch erst diese Woche angekommen. Weißt du wo die Physikbibliothek ist?< Ich muss einen kurzen Moment überlegen, während ich mir das Gesicht von Alexander etwas genauer anschaue. Seine dunkelblonden Haare hängen ihm strähnig ins Gesicht und verdecken seine markante Knochenstruktur- und seine Pickel. Er könnte wirklich mehr aus sich machen, glaube ich. Im nächsten Moment spüre ich jemandem in meinem Rücken. Saylah, Rain, Hero und Mike, die sich eben noch über mich lustig gemacht haben, und auch Leyla verlassen das Gebäude und unterbrechen sofort ihre Unterhaltung als sie mich mit Alexander sehen.
>Hey Lily, ich wollte dich nicht zum weinen bringen, aber bitte erzähl uns doch endlich, warum du so eine Angst hast raus zu gehen...< Saylah ergreift meinen Unterarm und schaut mich mitleidig an. Ohne es steuern zu können, wandert mein Blick zu Alexander, der für mich antwortet.
>Lily ist so nett und zeigt mir den Campus, ich bin erst vor ein paar Tagen hier angekommen. Alex Larrson. Freut mich.< Er streckt Saylah seine Hand entgegen und ich schenke ihm ein Lächeln.
>Saylah Nicols...ich studiere Kunst und Geschichte. Und du?< Ich trete einen Schritt zurück und danke Alex still für die Rettung aus dieser Situation.
>Ich studiere internationales Management und Physik in Groeningen in den Niederlanden. Ich bin hier für meine Zulassung zum Masterabschluss.< Beinahe ehrfürchtig ergreift Saylah seine Hand. Sie murmelt noch ein paar freundliche Floskeln, bevor sie gemeinsam mit den anderen in die Richtung der Mensa verschwindet.
>Eigentlich wirkt sie ganz nett...< Ich nicke nur kurz, bevor ich mich auch zum Gehen wende.
>Was meinst du, kannst du mir zeigen, wo die Physikbibliothek ist? Oder muss ich noch weiter mein Glück versuchen?< Ohne stehen und bleiben, drehe ich mich zu ihm um. Alex hat beide Hände in den Hosentaschen vergraben und lächelt mich verlegen an. Ich weiß wo diese Bibliothek ist.
>Sicher, ich hab mich schon gefragt, warum du da immer noch stehst...< Ich weiß, der Witz ist schlecht. Aber Alex lacht trotzdem als er zu mir aufschließt. Als ich gemeinsam mit Alex an der Bibliothek ankomme, möchte ich nicht direkt weiter gehen. Es ist einfach mit ihm. Außerdem ist die Naturwissenschaftliche Bücherei, die schönste des ganzes Campus. Und er ist nicht hier. Hier kann ich frei atmen.

Niemals hätte ich gedacht, dass ich als Kunststudentin so viel Zeit mit Naturwissenschaften verbringen werde. Die Bibliothek ist groß, es duftet nach Eichenholz und Wissen und niemand würde hier jemals nach mir suchen. Abgesehen von Alex vielleicht. Alex Larrson stellt mir keine Fragen zu meiner Vergangenheit, aber er ist wirklich gute Gesellschaft. Ich zeichne, er sitzt über seinen Büchern. Wir trinken gemeinsam Kaffee. Mit ihm habe ich nicht das Gefühl, dass meine Batterie versagt.
> Darf ich dir was zeigen?< Alex taucht hinter dem Display meines Laptops auf und schaut mich durch seine Haarsträhnen fragend an. Er hat sehr viel Respekt vor mir und meiner Arbeit, das schätze ich so an seiner Gesellschaft. Man ist allein, aber nicht einsam mit ihm.
>Klar, was gibt's?< Ich klappe in einer Bewegung den Laptop zu und stütze meinen Kopf auf meine Handfläche.
> Ich habe an meiner Präsentation für meine These gearbeitet, darf ich es dir vorstellen und du sagst mir ob du es verstehst?< Ich habe absolut keine Ahnung von Physik. Ehrlich gesagt, finde ich Physik sogar noch unlogischer und kryptischer als Mathe, also nicke ich nur zögerlich.
> Also wenn ich es verstehe, dann bist du definitiv auf der sicheren Seite, dass alle anderen es auch tun...Physik ist für mich genau so fremd wie...Chinesisch.< Ich lächle verlegen, aber Alex lacht nicht. Er schaut eher verwirrt.
>Um ehrlich zu sein, denke ich dass du eine der wenigen hier bist, die überhaupt die Kapazität besitzen um etwas derartig Komplexes zu begreifen. Du solltest dich nicht immer so unterschätzen.< Im nächsten Moment dreht er sich auch schon um und reicht mir einen Stapel Papier mit verschiedenen Diagrammen und Zeichnungen darauf. Ich verstehe nichts von dem was dort steht, aber Alex Gesichtsausdruck ist so ruhig, dass ich wirklich gespannt bin, ob er in der Lage sein wird, Licht ins Dunkle zu bringen.
>Bei meiner Arbeit geht es um Astrophysik und die natürlichen Vorkommnisse von sogenannten Wechselsternen und wie das überhaupt möglich sein kann, da ein Stern im Grunde eine bereits verglühte Substanz beschreibt.< Ich ziehe erstaunt die Augenbrauen nach oben. Ich habe mich noch nie mit Sternen beschäftigt. Ich bin kein Mädchen, dass ihr Horoskop liest. Ich höre Alex zu, der mir erst einmal den Unterschied zwischen Astronomie und Astrologie erklärt. Es fühlt sich beinahe so an, als würde er mir die ganze Existenz der Menschheit erklären und nicht nur das kleine Thema seiner Arbeit. Es fasziniert mich. Wie er zwischen den Bücherregalen mit unermesslichen Wissen hin und her läuft und mir versucht die Welt zu erklären. Schade, dass er kein Lehrer werden möchte, denn ich glaube seine Schüler würden ihn wirklich mögen. Nein nicht mögen. Sie würden tatsächlich etwas von ihm lernen, ob die wollen oder nicht.
>...und wenn die Venus im Mai die Erde überholt, dann verschwindet sie als Abendstern und taucht weiter entfernt, westlich der Sonne wieder als Morgenstern am Himmel auf. Aber um das genau zu berechnen muss man sich den Unterschied zwischen den Sonnentagen und den Sterntagen genau anschauen, denn meistens geht es da nur um wenige Minuten, die aber eine immense Auswirkung auf unter Leben auf der Erde haben können... Kannst du mir bisher folgen?< Alex lässt sich verkehrt herum auf den mir gegenüberstehenden Stuhl fallen und legt den Kopf auf die Lehne. Mein Blick wandert über die dreidimensionale Zeichnung der Planeten und wieder zu seinem Gesicht.
>Ich denke, dass du wirklich ein richtig guter Lehrer wärst...und dieser Fakt mit der Venus der würde bestimmt auch bei einem Date gut ankommen...< Ich kann sehen, dass Alex sich bemüht sein Augenrollen zu unterdrücken aber dabei kläglich scheitert. Es geht ihm nicht darum mich zu beeindrucken. Mir geht es nicht darum, ihn zu beeindrucken und das nimmt so viel Druck aus unserer Freundschaft. Denn ich glaube, dass Alex mein Freund geworden ist. Von der Liliah, die ich heute bin. Die Liliah ohne Marlow.

SOCIAL ANXIETY (Toxic Traits Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt