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Ace

Freya und ich hatten beide -wenig überraschend-, eine Eins auf den Englischtest geschrieben. Meine Schwester schrieb nur Bestnoten, dabei hatte ich sie noch nie für einen Test ihre Nase in ein Schulbuch stecken sehen. Aber solange Freya Bestnoten schrieb, schrieb ich sie auch.

„Ich weiß wirklich nicht, wie ihr das macht", sagte Ms. Mercer mit einem studierenden Lächeln und schüttelte den Kopf. „Wieder einmal fast identisch."

„Zwillingsmagie", sagten Freya und ich wie aus einem Mund und holten uns die Tests an ihrem Pult ab.

„Wir haben telepathische Fähigkeiten", schob ich vollkommen ernst hinterher und Freya versteckte ihr Grinsen hinter ihrem Testbogen.

Ms. Mercer lachte. Ich fand diese Frau zum Dahinschmelzen. „Natürlich. Freya, Ace, ich möchte dieses Semester gerne noch einmal mit eurem Vater sprechen", sagte sie, während sie ihre Unterlagen in ihre Tasche schob und Freyas Lächeln erstarb. „Richtet ihr ihm bitte aus, dass er demnächst in meine Sprechstunde kommen soll?"

„Schon wieder?", fragte meine Schwester patzig und ich packte sie unauffällig am Handgelenk, damit ihr nicht unabsichtlich etwas Dummes herausrutschte.

Reiß dich zusammen.

„Ja", sagte Ms. Mercer lediglich und Freya stieß einen verärgerten Laut aus, zerknüllte ihren Test und warf ihn bockig in den Mülleimer neben der Türe, bevor sie aus dem Klassenzimmer stampfte. Ms. Mercer sah Freya missbilligend nach und ich lächelte ihr kurz entschuldigend zu, dann verließ ich den Raum.

Bleib stehen! Ich reckte den Hals, in der Hoffnung, ihren Lockenkopf zu entdecken. Freya!

„Diese blöde Kuh", sagte sie, als ich um die Ecke bog. Sie lehnte mit verschränkten Armen an der Wand und hatte auf mich gewartet. „Wir schreiben nur gute Noten, wir arbeiten in ihrem Unterricht immer mit und wir geben unsere Hausaufgaben pünktlich ab! Was will sie denn noch?!"

„Reg dich nicht auf", sagte ich müde.

„Ich kann nun Mal nicht anders."

Ich legte einen Arm um ihre Schultern und drückte sie kurz. „Ich weiß. Komm, in der Cafeteria gibt es heute Schokoladenpudding zum Nachtisch."

An diesem Tag war Dad zur Abwechslung einmal vor uns zu Hause, stand in der Küche und bereitete das Abendessen zu. Der herrliche Geruch von Bratensoße genügte mir, um meine Stimmung anzuheben.

„Wie war die Schule?", fragt Dad.

„Ms. Mercer will mit dir reden", murrte Freya und schleuderte ihre Schuhe in eine Ecke. „Schon wieder."

„Was ausgefressen?", hakte Dad unbesorgt nach und wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab. „Einen Test verhauen? Spickzettel umgehen lassen?"

„Nein, wie immer! Wir sind gute Schüler!"

„Dann ist ja gut. Ich werde sehen, dass ich demnächst an eurer Schule vorbeischaue."

Freya stieß einen genervten Laut aus. „Das ist so lächerlich!"

„Reg dich nicht auf", sagte Dad, in fast demselben Tonfall, denn ich heute in der Schule verwendet hatte. Wahrscheinlich hatte ich es mir sogar von Dad abgeschaut.

„Weißt du, was mich aufregt? Wenn mir ständig jeder sagt, dass ich mich nicht aufregen soll!" Sauer stampfte sie die Treppen nach oben. Dad sah ihr nach.

„Blendende Laune, wie immer. Ob diese... sagenumwobene Pubertät jemals aufhört?"

Wahrscheinlich nicht. Ich konnte mich zumindest an keine Zeit erinnern, in der Freya nicht stur und aufbrausend gewesen war.

Cold Blood (Band 5)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt