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Ace

„Himmel, das ist ein Beschleunigungsstreifen, kein Schleichstreifen", schimpfte ich, als meine Schwester mit sechzig km/h auf die Autobahn auffahren wollte.

„Halt die Klappe, ich weiß, wie man fährt!"

„Wie hast du bloß deinen Führerschein bekommen?", fragte ich nervös und reckte den Kopf, um zu sehen, ob uns gleich jemand hinten auffahren würde. „Drück endlich aufs Gas, sonst mach ich es!"

Mein Herzschlag beruhigte sich erst, als Freya auf hundertdreißig beschleunigt hatte und uns kein Autofahrer mehr am Hintern klebte. Mit einem Seufzen ließ ich mich zurück in den Sitz fallen. Wenn Freya am Steuer war, sah ich meist mein gesamtes Leben an mir vorbei ziehen. Ich war mir bis heute sicher, dass ihr der Fahrprüfer die Lizenz nur deshalb ausgestellt hatte, um nicht Gefahr zu laufen, noch einmal mit ihr im selben Auto zu sitzen.

Freya hielt das Lenkrad mit beiden Händen umklammert, so fest, als wolle sie das Armaturenbrett mit ein paar Boxübungen beeindrucken.

Mein Handy vibrierte in der Hosentasche und ich kramte es heraus. Es war eine Nachricht von Dee, die bei Latein hing.

„Romani deos colunt ut Iovem et Iunonem", hatte sie geschrieben. Mit einem tiefen Seufzen tippte ich die Übersetzung als Antwort.

„Die Römer verehrten Götter wie Jupiter und Juno." Streng dich ein bisschen an, so schwer war das nun wirklich nicht.

Zehn Sekunden später kam ihre Antwort.

Leck mich doch, Streber.

Ich lachte und steckte das Handy wieder weg.

Als ich wieder hochsah, war das Auto vor uns vielleicht noch eine Armlänge entfernt.

„Freya!", brüllte ich. Sie erschrak und drückte auf die Bremse. Mit einer Hand am Türgriff und der anderen an ihrer Schulter, machte ich mir fast in die Hose, während wir wieder etwas Abstand zu dem Wagen vor uns gewannen. Mein Herz pochte, als wollte es mir aus der Brust springen und aus diesem Todesgefährt flüchten, was ich ihm nicht verübeln konnte.

„Okay, das reicht!", beschloss ich atemlos. „Fahr bei der nächsten Abfahrt runter!"

Sie atmete zitternd aus, setzte den Blinker und fuhr an der Tankstelle rechts von der Autobahn ab. Als sie sich eingeparkt hatte, blieben wir noch einen Augenblick sitzen, sie ließ das Lenkrad nicht los, sondern starrte einfach nur wie hypnotisiert geradeaus. Da begriff ich.

Ich wusste genau wo sie war, auch wenn ich davon nicht viel mitbekam: Sie war in meinem Kopf gefangen. Ich lehnte mich zurück und wartete, bis sie wieder in die Realität zurückfand.

Ich fragte mich, was sie in meinem Kopf wohl sah. Sie behauptete zwar immer, dass sie keine meiner Gedanken fassen konnte, aber das glaubte ich ihr nicht ganz. Mir wäre es lieber, sie wäre ehrlich gewesen, und hätte mir gesagt, dass sie sich gerade durch Dinge grub, die sie eigentlich nichts angingen, aber ich konnte ihr deshalb nicht böse sein. Ich wusste, dass sie nicht kontrollieren konnte, wann sie aus der Realität glitt und in meinen Kopf schlüpfte. Es passierte einfach. Sie hatte es einmal mit Tagträumen verglichen, in die man einfach so glitt, ohne es recht zu bemerken.

Wir hatten herausgefunden, dass es besser war, sie einfach eine Weile in meinem Kopf herumgeistern zu lassen, wenn es passierte. Sie immer wieder heraus zu zerren brachte gar nichts. Es verschlimmerte alles nur und sie rutschte immer wieder ab, in immer kürzeren Abständen.

Wir wussten nicht, warum das passierte und warum es nur ihr passierte. Ich war noch nie in ihrem Kopf gewesen. Nicht, dass ich es gewollt hätte, aber ich hätte gerne gewusst, wie sich das anfühlte.

Cold Blood (Band 5)Opowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz