Zerreissprobe

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Während sich alle daran machten, Feuerholz zu suchen, Fisch und Hase zu fangen oder den Lagerplatz herzurichten, stand Enola abseits all dem bis zu den Knien im Wasser des Großen Sees. Ihr Blick schweifte immer wieder über den See, sie beobachtete stumm, wie die Sonne unterging. Kein einziges Mal sah sie zum Lager rüber.

Als der erst Hase gegrillt war, lief er auf Enola zu, da hielt ihn jemand am Arm.

„Ich hole sie" meinte Apenimon mit einem traurigen Lächeln und Francis nickte enttäuscht. Er beobachtete, wie Apenimon durch das Wasser watete und Enola zart am Arm anfasste. Erschrocken zuckte sie zusammen und Apenimon zog seine Hand sofort zurück. Er flüsterte etwas, dann nickte sie und folgte ihm zum Lager.

Sie trug noch immer das Baumwollhemd, an dessen Saum mittlerweile das Blut von Rolfe getrocknet war. Stumm setzte sie sich zwischen Apenimon und Francis ans Feuer und pulte in dem Stück Fleisch, welches Robin ihr gegeben hatte.

Nachdem Francis sein Fleisch, den Fisch und frische Beeren gegessen hatte, nagte Enola noch immer am selben kleinen Stück Hase herum. Er hatte ihr Fisch angeboten und Beeren hingehalten, beides lag auf ihrem Schoß.

„Hast du keinen Hunger?" fragte Francis leise und sofort hielt sie ihm ihr Essen hin. „Du kannst es gerne haben."

Er schüttelte verwundert den Kopf. „Ich frage nicht, weil ich dein Essen haben möchte, ich frage, weil du doch hungrig sein musst."
Sie senkte den Blick und Biss in den Fisch, kaute, schluckte und füllte den Mund mit Beeren.

„Enola." Er legte seine Hand auf ihre, bevor sie sich erneut eine Handvoll Beeren in den Mund zwingen konnte. „Du musst nicht essen, wenn du nicht magst. Ich hatte dich doch nur gefragt... Ach, vergiss es." Überfordert und ratlos, was er sagen sollte, verstummte er.

Sofort stiegen Enola Tränen in die Augen und sie stand gequält auf, als hätte sie überall schmerzen. Die Lebensmittel auf ihrem Schoß landeten auf dem Boden und jeder starrte ihr nach, als sie davonlief.

Francis war im Begriff, aufzustehen, als Apenimon ihm wieder die Hand auf den Arm legte.

„Francis, lass sie allein." Dieser schüttelte die Hand ab. „Wieso soll ich sie allein lassen? Ihr geht es offensichtlich nicht gut."

Apenimon senkte seinen Arm und schaute auf seine Hände.

„Sie hat viel durchmachen müssen die letzten Tage. Sie leidet an den Taten, versteht ihre Gefühle nicht und fühlt sich unwohl. Es sind schwere Tage und sie braucht Zeit."

Francis spürte, wie sich seine Brust zusammenzog. „Was hat sie dir erzählt?" fragte er leise und suchte sie in der Dunkelheit, konnte sie jedoch nicht erblicken.

„Nichts, aber das muss sie auch nicht. Ich sehe, wie sie sich bewegt. Ich sehe, wie sie schweigt. Ich sehe, wie sie leidet. Und sosehr ich es will, ich kann im Moment nichts tun außer ihr klarzumachen, dass ich da bin und ihr alle Zeit der Welt gebe und immer für sie da bin, wenn sie mich braucht."

Apenimon blickte Francis traurig in die Augen und Apenimon sah plötzlich weit älter aus als seine fünfzig Jahre. Enola war wie die Tochter, die er nie hatte und ihr Leid war sein Leid.

„Wenn du wirklich etwas für sie empfindest, dann ist dies ebenfalls das einzige, was du für sie tun kannst- ihr Zeit geben."

Lange starrte Francis stumm in die Flammen des Lagerfeuers. Er beobachtete, wie das Feuer flackerte und züngelte und sah Enola, wie sie an ihrem letzten Abend in ihrem Tipi saß, das Kleid hauchdünn, wie sie sich küssten, unbeschwert und verliebt.

Dann stand er auf und lief in die Richtung, in welche sie verschwunden war. Dort fand er sie, wieder kniehoch im Wasser, der Saum ihres Kleides schwamm auf der Wasseroberfläche.

Francis krempelte seine Stoffhose hoch und watete zu ihr.

„Enola" sagte er, bevor er neben ihr ankam, doch sie erschreckte sich trotzdem.

„Entschuldigung, ich wollte dich nicht eschrecken."

Sie lächelte schwach. „Alles gut" hauchte sie schwach und ließ ihren Blick weiter über den See schweifen. Der Mond stand hoch am Himmel, die Nacht war klar und es waren unzähliche Sterne am Himmel zu sehen. Francis tat es ihr gleich und so standen sie da, dass leise Lachen der anderen klang herüber, die Luft wurde kühler.

„Enola..." begann Francis und nahm ihre Hand, doch sofort riss sie sich los.

Scheinbar schockiert von ihrer eigenen Reaktion, schaute sie Francis mit großen Augen an. „Ich... es tut mir leid, ich wollte nicht..." stotterte sie, dann brach ihre Stimme und wieder traten ihr Tränen in die Augen.

„Hey, psscht" versuchte Francis sie zu beruhigen und zog sie an der Hüfte zu sich.

„Ich weiß nicht, was die letzten Tage geschehen ist, doch ich weiß, dass es schrecklich gewesen sein muss. Du musst mir nichts erzählen, wenn du nicht willst, doch du musst wissen, ich bin da, wenn du mich brauchst. Zu jeder Zeit."


Die IndianerinWhere stories live. Discover now