Der Saal war mit einem Schlag still. Sie blieb ruhig, sie zitterte nicht, sie sah aus, als würde sie schlafen. Xavier blickte sich in Sorge um, bis sich Enid und einige Lehrer schließlich in Bewegung setzten. Sie eilten zu den beiden. Er hob sie hoch. Xavier musste sie fortbringen, so viel stand fest. Irgendwohin, wo sie Ruhe hätten. Er lief zügig mit ihr den Mittelgang entlang in Richtung der riesigen Doppeltür. Enid lief ihm hinterher, Ajax und Eugene folgten ihnen, so wie auch Mrs. Ashton und Mr. Daniels.

Diese Vision war anders. Real, langsam, so als würde das, was sie sah, wirklich passieren. Sie fühlte, was er fühlte. Sie konnte klar denken und ihr wurde sofort bewusst, dass dies das erste Mal war, dass sie eine Vision hatte, nachdem sie Xavier berührt hatte. Ihr Herz raste bei dieser Erkenntnis. 

Xavier saß auf einem Bett, der Raum war hell, kühl und wirkte steril.

Eine Praxis… ein Krankenhaus…

Wednesday konnte es beinahe riechen. Die Medikamente, das Desinfektionsmittel. Sie lief um das Bett herum, musterte ihn. Er sah aus wie immer. Er trug ein weinrotes T-Shirt, seine Haare lang und offen. Er starrte auf seine Finger, die auf seinem Schoß lagen. Schließlich kam eine junge Frau ins Zimmer. Ihrer Kleidung nach musste sie eine Ärztin sein oder eine Krankenschwester. Er ignorierte sie. Die Frau hielt in ihren Händen eine glänzende, medizinische Schale. Wednesday konnte nicht sehen, was darin lag.

Sie stellte die Schale auf einen kleinen Tisch. „Wir sind gleich fertig. Dein Vater wird gleich hier sein.“, sagte die Frau. Sie lief zu einem Schrank, um etwas aus den Schubladen zu nehmen. Schließlich wandte die Frau sich wieder zu ihm. Mit einer klaren Flüssigkeit aus einer Flasche und einem kleinen Wattepad desinfizierte sie seinen Oberarm. Xavier blieb vollkommen unbeeindruckt. „Hast du Angst vor Nadeln?“, fragte sie ihn. Er schüttelte den Kopf, so als wäre er mit seinen Gedanken ganz woanders und dann bemerkte Wednesday erst, wie traurig er aussah, unendlich traurig. 

Die Ärztin stellte die Flasche beiseite und nahm den Inhalt aus der Schale. Eine Spritze, gefüllt mit einer grünschimmernden Flüssigkeit. Wednesday ging voller Sorge sofort einen Schritt auf ihn zu, hob instinktiv ihre Hand, um ihn zu beschützen. Doch dann hatte die Frau ihm die Nadel bereits in den Arm gedrückt. Sie gab ihm die Watte und legte seine Hand damit auf die Einstichstelle. „Sanft drücken.“, sagte sie zu ihm und plötzlich öffnete sich die Tür.

Vincent Thorpe betrat den Raum. Er nickte der Ärztin zu. Als sie ihm zu verstehen gab, dass sie fertig waren, sprach er: „Sie können nun gehen. Dankesehr.“ Die junge Frau verließ augenblicklich den Raum und schloss die Tür hinter sich. Xavier sah seinen Vater an, seine Brauen waren ernst zusammengezogen: „Meinst du nicht, dass diese Spritze etwas unnötig war? Grippeimpfung? Im Sommer?“

Mr. Thorpe antwortete ernst: „Man kann nie wissen… bald gehst du zurück nach Nevermore. Da kann man sich sonst was einfangen…“ Dann blieb er still und setzte sich neben seinen Sohn auf das Bett. Er legte die rechte Hand auf seine Schulter und sah ihm tief in die Augen. Wednesday entdeckte den Ring an seinem Finger. Moodys Ring hatte genauso ausgesehen. Das Bild begann plötzlich zu rauschen und das Letzte, was sie noch deutlich sehen konnte, waren Xaviers Augen und wie sie gebannt seinen Vater betrachteten. 

„Wednesday?“, seine vertraute Stimme war ganz nah. „Wednesday? Kannst du mich hören?“

Sie öffnete ihre Augen und da war er. Direkt über ihr, ganz nah. Er hatte sie bis zu ihrem Zimmer getragen, sie auf ihr Bett gelegt und gewartet. Hinter ihm stand Mrs. Ashton, Enid lief nervös im Raum auf und ab. 

Wednesday setzte sich auf und fiel ihm um den Hals. Enid blieb erschrocken stehen, als sie es bemerkte. Er hielt sie fest und legte Kinn und Mund auf ihre Schulter, er sog ihren Duft auf und sagte das Erste, was ihm einfiel: „Danke für das Lied… es war wunderschön.“ Sie drückte ihre Arme fest um ihn zusammen und schloss für einen Moment ihre Augen. Ihre Stimme war leise und besorgt: „Xavier, ich weiß, was passiert ist…“

Woe is me, my loveWhere stories live. Discover now