Kapitel 22

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Es war die längste Woche, die sie je durchlebt hatte. Von ihrem Sturz hatte sie sich erholt, doch nicht von dem, was danach passiert war. Der Streit mit Xavier spukte noch immer in ihrem Kopf, die Worte steckten in ihren Knochen und ließen sie wie einen Geist durch die Schule schweben. Sie sprach kaum, auch nicht mit Enid. Immer wieder dachte sie daran zurück, wie er sie getragen hatte, wie schnell sein Herz geschlagen hatte, sie dachte an seinen Duft, seine Hände, die zitterten.

Ihr Stolz hinderte sie daran, einfach an seiner Tür zu klopfen, zu sagen, dass es ihr leidtut und einfach alles zu vergessen. Dafür war sie zu verletzt und die Angst war zu groß, dass dann das passierte, was immer zwischen ihnen passierte. Sie würde ihn ignorieren und er würde schreien. Mittlerweile hatte sie das Muster erkannt. Wenn sie nicht einer Meinung waren, sollte man besser nicht in der Nähe sein, doch wenn sie zusammen arbeiteten, waren sie wie zwei Puzzleteile, die zueinander gehörten, passten und unzertrennlich waren. Der Gedanke daran half ein bisschen.

Wednesday war kein hoffnungsvoller Mensch. Sie hatte immer geglaubt, dass Hoffnung Schwäche bedeutete. Zu erwarten, zu erhoffen, dass etwas passiert, hatte meistens zur Folge, dass man enttäuscht wurde. So war es zumindest bei ihr, also hoffte sie nie. Doch jetzt war das anders. Tief in ihrem Inneren hoffte sie darauf, dass Xavier seinen eigenen Stolz und die Angst überwinden würde, weil sie es nicht konnte. Sie hoffte, dass er zu ihr zurückkommen würde, so wie er es immer tat. Doch nachdem er sich auch an den ersten beiden Tagen nicht bei ihr gemeldet hatte, kein Wort mit ihr gesprochen hatte, fiel sie in ein Loch, aus dem sie nur schwer wieder herauskam.

Am dritten Tag aber entdeckte sie einen kleinen Brief. Er hatte vor ihrer Zimmertür gelegen. Jemand hatte mit Feder und Tinte schwungvoll und wunderschön ihren Namen darauf geschrieben. Sie legte den Brief in die Schublade ihres Schreibtisches und starrte eine gefühlte Ewigkeit auf die feinen Linien ihres Namens. Sie wusste genau, wer diesen Brief geschrieben hatte.

Sie schlug die Schublade zu und widmete sich wieder ihrer Schreibmaschine. Sie ertappte sich dabei, wie sie immer wieder zur Schublade sah. Die bloße Existenz dieses Briefes verursachte ein Brennen in ihr, das sie wahnsinnig machte. Doch sie konnte es nicht. Sie konnte den Brief nicht lesen, schließlich hätte es auch ein Abschiedsbrief sein können, ein endgültiges Auf-Nimmer-Wiedersehen mit einer Nuance „Lass uns einfach Freunde sein“. 

An den folgenden Tagen erreichten sie weitere Briefe. Einen hatte sie beim Essen im Speisesaal in ihrem Rucksack entdeckt, einen hatte ihr Enid ausgehändigt, zwei weitere haben an den nächsten Tagen wieder vor ihrer Tür gelegen. Sie hatte alle fünf Briefe ungeöffnet in die Schublade gelegt. Das Brennen wurde immer stärker, die Neugier stieg ins Unermessliche und die Sehnsucht nach ihm machte alles nur noch schlimmer.

Um es irgendwie zu ertragen, stürzte sie sich in ihren Roman, die Hausaufgaben und die Recherche nach dem Stalker. Die Suche nach Antworten lenkte sie ab, wenn auch nur ein bisschen. Mit Enids Hilfe hatte sie herausgefunden, was mit Tylers Vater passiert war. Sie hatte herausgefunden, wo er nach seiner Suspendierung angefangen hatte zu arbeiten. Er war nun Mitarbeiter in der Verwaltung des Rathauses von Jericho, seine Kontaktdaten waren für alle zugänglich, auf der Website der Stadt hatte sie sein Bild gefunden, Telefonnummer und E-Mail-Adresse. 

Enid war an diesem Nachmittag wieder einmal unterwegs, wahrscheinlich verbrachte sie Zeit mit Ajax im Pentagon oder hinter dem Gewächshaus. Neid war ein recht neues Gefühl für sie, auf dass sie gern verzichtet hätte. Zu sehen, wie glücklich die beiden waren, macht ihr eigenes Leid nur noch schlimmer. Sie schüttelte den Gedanken aus ihrem Kopf und wählte die Nummer. Es klingelte. Immer wieder. Keine Reaktion, doch dann. „Hallo. Hier Galpin. Was kann ich für sie tun?“

Seine Stimme klang rau und verbraucht. Sie hörte sofort, dass es diesem Mann keineswegs gut ging. „Hallo. Hier ist Wednesday. Wednesday Addams.“ Stille. Sie hörte nur seinen Atem. „Hallo?“, hakte sie nach.

Woe is me, my loveWhere stories live. Discover now