Kapitel 30 ~ Kindheit

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»Du bist dir sicher, dass du das allein schaffst?«, fragt Alexis besorgt auf Rourën. »Den andern hast du ja gesagt, dass ich mit rein gehe, damit sie sich keine Sorgen machen, aber ich fühl mich schon unwohl dabei.« Aurea bleibt stehen, dreht sich zu siem um und schaut eindringlich in sies Augen. »Bitte sei ehrlich. Traust du dir das ganz sicher zu?« Sie versteht sies Zweifel, wenn ihre Rollen vertauscht wären, ginge es ihr vermutlich nicht anders.

»Ja, ich war mir schon sicher, als ich dich um den Gefallen gebeten habe, mein Alibi zu sein«, erwidert Aurea angespannt lächelnd und legt eine Hand auf sies Schulter. »Mein früherer Seelenanteil wäre wahrscheinlich nicht unbedingt begeistert, wenn noch wer mit ins Haus kommt.« Sie ist nicht angespannt, weil sie Angst hat. Nein, sie ist angespannt, weil sie das hier schnell und sauber hinter sich bringen will.

Alexis nickt. »Wenn du mir zu lange brauchst, dann komm ich rein«, sagt sier, als sie zu zweit vor der Haustür stehen. »Deine Freunde bringen mich um, wenn dir was zustößt, das ich verhindern hätte können. Und ich könnte mir auch nicht verzeihen.«

»Das wird nicht passieren«, antwortet Aurea entschlossen und sperrt die Tür auf. Bevor sie sie aufdrückt, blickt sie noch einmal zurück zu ihrem Couse und wirft siem den Anflug eines selbstbewussten Lächelns zu. »Freya hat knapp fünfzehn Schutzzauber über mich gelegt und ich habe von fast jedem von euch einen Glücksbringer bekommen. Ihr seid alle indirekt bei mir, da kann ja gar nichts schiefgehen.« Alexis seufzt mit vor dem Oberkörper überkreuzten Armen und nickt widerwillig.

»Pass auf dich auf«, sagt sier abschließend und zieht Aurea in eine stürmische Umarmung, bevor sier sie ins Innere gehen lässt. Sie tätschelt beschwichtigend sies Rücken und wartet, bis sier loslässt, statt sich zuerst von siem zu lösen. Es tut auch ihr selbst gut, noch einmal umarmt zu werden, denn ein wenig nervös ist sie schon. Wie wird die Rauchgestalt reagieren? Wer von ihnen ist stärker? Was, wenn ihr Seelenanteil ihnen nicht helfen kann oder will? Aurea will über so etwas gar nicht weiter nachdenken, sondern nach vorne blicken – wenn sie entschlossen genug ist, ist sie für alles, das sich ihr in den Weg stellt, ein wenig besser gewappnet.

Doch um irgendwie Kontakt mit ihrem Seelenanteil aufnehmen zu können, muss sie ihn erstmal finden. Sie hat gehofft, dass er einfach auftauchen und versuchen würde, sie anzufallen, wie beim letzten Mal, als San sie gerettet hat, aber bisher lässt er auf sich warten. Aufmerksam sucht Aurea ihr Zuhause ab, das ihr heute fremd vorkommt und nicht zum Verweilen einlädt. Vielleicht meint sie das, weil sie weiß, dass sie nicht hierbleiben kann. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass die Vorhänge zugezogen sind und alles aufgeräumt ist, was man im Alltag braucht. Es ist einfach... komisch, falsch irgendwie.

Als Aurea das ganze Untergeschoss und sogar Sans Werkstatt abgesucht hat, läuft sie zur Treppe, legt die Hand auf das Geländer und setzt einen Fuß auf die erste Stufe. Ihr ist ein wenig unwohl – man merkt, dass schon seit ein paar Wochen nicht mehr gelüftet wurde – und ihre Muskeln tun weh. Es ist daher ihre Absicht, es ein wenig hinauszuzögern, nach oben zu gehen. Seufzend hebt sie den Blick und erkennt am Ende der Treppe, die heute besonders steil und lang aussieht, nur schemenhaft den dunklen Flur. Aurea hat es zwar schon immer genervt, dass der Gang im ersten Obergeschoss so schlecht beleuchtet ist, doch heute sieht er besonders finster aus. Das letzte Mal hat sie ihren Seelenteil allerdings auch oben in ihrem Zimmer gesehen, also ist es wahrscheinlich, dass er wieder dort sein wird, nicht wahr? Egal, wie mies Aurea es gerade findet, Treppen steigen zu müssen, vermeiden kann sie es nicht. Sie atmet noch einmal tief aus, richtet den Blick auf die Stufen und macht träge einen Schritt nach dem anderen, bis sie am Ende angekommen ist. »War ja doch nicht so schlimm«, murmelt sie sich selbst zu, als sie über ihre Schulter nach unten schaut. Jetzt kann sie in Ruhe–

»Verdammt, willst du mich umbringen?!«, ruft Aurea geschockt aus und versucht zitternd, sich an dem Treppengeländer wieder auf die Beine zu ziehen. Ihre Knie sind einfach eingeklappt, als plötzlich ein blauschwarzer Luftstoß sie nach unten stoßen wollte, und jetzt kniet sie vor dem Treppenabgang und strengt sich an, aufzustehen. »Weißt du was, ich versteh ja, wenn du meinen Körper beherrschen willst, aber was soll der Scheiß? Was bring ich dir, wenn ich tot bin?« Ein lautes Schluchzen durchzuckt Aureas Körper, sobald sie wieder steht, und es laufen ihr heiße Tränen die Wangen hinab, ohne dass sie sie aufhalten könnte. Mit ihrem überlangen Ärmel wischt Aurea sich über die Augen und sieht nach unten, von wo aus dieses Rauchdings sie beobachtet. Sie sieht alles verschwommen, weil immer neue Tränen nachkommen, wenn sie sich welche weggewischt hat, aber sie meint, schemenhaft einen kleinen Menschenkörper zu sehen statt nur eines Gesichts wie bei ihrem letzten Aufeinandertreffen. Im Kopf sind zwei stechend eisblaue Flecken, vermutlich seine Augen. Waren sie das letzte Mal nicht dunkel...? Aurea ist sich nicht sicher und es ist ihr gerade eben eigentlich auch egal, wichtiger wäre es ihr, wenn dieses Teil ihr endlich mal eine Antwort geben würde. Aber es schweigt bloß. »Jetzt tu nicht so, als würdest du nichts verstehen. Wenn du wirklich mal ich warst, dann kannst du auch Tellouris!«

❀ endless questions ² || ATEEZWhere stories live. Discover now