Trennungsschmerz

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Julias Perspektive:

Resigniert begann Ben zu erklären: „Ohne dich undElias hätte ich in einigen entscheidenden Momenten nicht einmal imEntferntesten derartig für meine Familie da sein können, wie es durch euch daraufhinmöglich wurde... Sicherlich kann ich mich derweil verbessert auf die Hilfe meinerEltern verlassen. Nun nachdem sowohl Mutter als auch Vater sich um ihre eigenenProbleme gekümmert haben, respektive sich ihrer Fehler ersichtlich wurden. Trotzdemwohnen sie halt im Norden der Republik, gute 400 Kilometer entfernt. So schönHamburg als Stadt auch ist und meiner kleinen Familie zwei wunderschöne Urlaubean der Küste eingebracht haben, die Entfernung ist doch riesig, wenn es malschnell gehen muss. Das gleiche gilt für Badri. Sicherlich hat sie eingesehen,dass es dauerhaft nicht möglich ist, allein im Iran zu bleiben ohne jeglicheNähe zu den Kindern, die über den Erdball verteilt sind. Doch Wien ist ebensowie Hamburg unerreichbar, wenn es tatsächlich notfallmäßig schnell gehen muss... Ich versicheredir, dass ich spätestens auf dem Weg zum Flughafen meine Eltern über dieGesamtlage ins Bild setze und darum bitte, dass sie sich ab Morgen um ihrEnkelkind kümmern müssten. Bis dahin leistet du mir echt einen Bärendienst,Julia Berger! Etwas, was bereits ohne weitere Umstände definitiv nicht selbstverständlichist. Aber ebendem, durch den Streit in den Elias und ich dich mit hineingezogenhaben, noch bedeutsamer ist. Hoffentlich kann ich dir auf ähnliche Art einesTages zur Seite stehen." 

Auchwenn alles weiterhin weit entfernt, davon schien einer Normalitätentgegenzusteuern und das, was sich nach Bens Erklärung bei mir festgesetzthatte, gewiss auch nicht die Quintessenz dessen sein sollte, so konnte ich ausdem, was er eben eröffnet hatte, zumindest etwas Hoffnung mitnehmen, diejenige, dass zumindest einerder beiden Streithähne auf dem Pfad der Erkenntnis angelangt war. Vielleichtwar die Freundschaft zwischen den beiden doch noch zu retten.  

„Wiebereits erwähnt: ‚Dafür sind Freunde doch da!'", stellte ich heraus, währendmeine Gedanken vorerst zu den wichtigeren Dingen zurückkehrten, „Muss ich beiRaya noch irgendwas Spezielles beachten? Ist schon etwas länger her, dass TanteUlia auf sie aufgepasst hat. Sonst war Onkel Lias sofort zur Stelle und hatjegliche Möglichkeiten, die sich ergeben haben an sich gerissen."

WährendBen in eine kurze Überlegungsphase abdriftete, konnte ich mittels einesSeitenblick durch die offene Tür des Behandlungsraums in den Empfangsbereichder Notaufnahme spähen. Doktor Lindner schien seine Aufgaben zu einem Ende gebrachtzu haben und signalisierte nunmehr mit einer leichten Handbewegung, dass es inden kommenden Minuten, sowohl für Doktor Lipp als auch Ben, zum Flughafen gehenmüsste. Ich musste also zeitnahe Ben von seinem emotionalen Rettungsankertrennen, den er momentan noch sehr fest in seinen Armen hielt. Ein Unterfangen,vor dem ich größten Respekt hatte.

„Solangesie Herrn Brumm oder Straußi bei sich hat, bist du schon mal auf der sicherenSeite. Die beiden haben nämlich magische Kräfte und können alles, was einemSorgen macht, durch eine riesige Umarmung aus der Welt schaffen. Das sind RayasWorte. Nicht meine! Ganz unten in ihrem Rucksack solltest du ihre Kuscheldecke finden,die die Badri ihr zur Geburt geschenkt hat. Damit kuscheln sich Raya und Leyla abendsgerne ein und lesen die jeweilige Gute-Nacht Geschichte. Diese hat demnach nochimmer den latenten Duft von Leyla. Wenn Raya nach ihrer Mama verlangt, dannkann es ganz hilfreich sein, ihr ihre Kuscheldecke zu geben und ihr aus demLieblingsbuch ‚Doktor Sonnenschein' einige Seiten vorzulesen. Das hat in denletzten Wochen oft geholfen, wenn die Kleine nach ihrer Mama sehnte. Für denabsoluten Notfall, dass Raya richtig unruhig und quarkig werden sollte, schickeich dir gleich noch eine Audio-Datei. Die definitiv niemals die Runde hier imJTK machen darf. Wann das geschehen sollte, dann bringt mich meine Frauplötzlich und unerwartet eines Nachts im Schlaf um. So viel ist klar. Dazu soviel: Es handelt sich um ein persisches Wiegenlied. Golelale. Ich verstehe vondem ganzen Text so überhaupt gar nichts. Leyla hat mir zumindest mal halbwegsbeschrieben, dass es um eine Mutter geht, die Blumen für ihre Tochter sammelnmöchte. Aber wie dem auch sei... Bei der Datei handelt es sich um eine Aufnahme,die ich von Leyla eines Abends gemacht habe, als sie dieses Lied Raya beimEinschlafen vorgesungen hat. Wenn sie sich von nichts anderem beruhigen lassen sollte,dann ist dies die ultimative Waffe. Wenn Raya vehement nach Mama oder Papafragt und auch Herr Brumm nicht mehr helfen kann, dann spiele ihr dieses Wiegenliedvor. Es wird echte Wunder bewirken! Wie gesagt, das Wichtigste für heute Abendsolltest du im Rucksack finden. Wechselsachen, drei Bücher und Straußi sinddort zu finden. Herrn Brumm ist von der kleine Maus, wie du siehst, in einenTodesgriff verwickelt worden, also den hast du dann auch. Ich lasse dir ebenfallsmeinen Wohnungsschlüssel hier. Je nachdem wie es dir besser passt, kannst dusie heute Abend mit in eure Schwestern-WG nehmen, Rebecca ist ja noch immer inBerlin und würde dadurch nicht gestört werden, oder ihr Fahrt zu uns nach Hause.Das ist vollkommen dir überlassen! Bloß da ich nicht weiß, wie lange es dauernwird, bis wir Leyla wieder mit nach Deutschland bringen können, ist es einfach sinnvoller,dass du bei Bedarf in die Wohnung kannst." versuchte Ben, alles, was ihm durchden Kopf schoss, möglichst schnell und geordnet an mich weiterzugeben.  

Der trügerische ScheinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt