Tiefer Dorn

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Julias Perspektive

Das war heute mal wieder ein Spätdienst zum Vergessen. Sicherlich war jedem im Haus ersichtlich, dass eine absolute Unterbesetzung der chirurgischen Station vorliegend war, doch gleichzeitig fühlte sich niemand auch nur im Geringsten dafür verantwortlich hier eine möglichst schnelle Abhilfe zu finden, beziehungsweise den anderen zu unterstützen. Vielmehr durften wir alle weiter unüblich, lange Stunden schieben, da mein Vater, der sonstig tönte, dass in seinem Haus Überstunden und Überlastung zu einem fast nie vorkommenden Unterfangen gehören, mit seinen Gedanken einfach nicht von der Wolke sieben herunterkommen wollte, auf der er noch immer schwebte. Sicherlich fand ich es wunderbar, dass er und Mama ihr Ehegelübde erneuern wollten und er nach der Gesamtheit seiner Fehltritte auch bereit dazu war, hier einen festen und loyalen Bund bis zum Ende des Lebens zu schließen und Mama ein weiteres Mal den Boden zu Füßen zu legen. Aber damit hatten vielleicht ein Großteil meiner privaten Probleme, wenn man diese denn so nennen möge, geendet, doch diejenigen die mich hier im beruflichen Feld tagtäglich begleiteten erst richtig an Fahrt aufgenommen. Es wurde Zeit, dass ganz langsam wieder Normalität Einzug erhielt. Wenn das denn überhaupt möglich sein sollte. 

Mich schnellen Schrittes in die Richtung des Aufenthaltsraumes bewegend, um einen Kaffee zu holen, ehedem auf Station erneut ein Patient meiner Hilfe bedurfte, lief ich, ohne es vorhersehen zu können direkt in die Arme von Elias. „Hey Bährchen, wo brennt es denn? Ich dachte du hast Bereitschaftsdienst?! Und auch wenn ich oben auf Station durchaus zu tun habe, so sehe ich doch keinen Grund, weshalb dich irgendwer aus deiner Ruhezeit gerufen haben sollte. Noch habe ich es unter Kontrolle." 

„Habe eh Nachtschicht und zu Hause war auch nichts mehr zu tun! Da dachte ich mir ich räume den Sauhaufen, der sich Aufenthaltsraum nennt, mal auf und sorge dafür, dass hier wenigstens etwas des Chaos vorerst beseitigt ist.", erklärte Elias mir gegenüber, als wäre es das normalsten der Welt, dass er an einemDonnerstagabend kurz von 19 Uhr nichts Besseres zu tun hatte, als bereits drei Stunden vor seinem eigentlichen Dienstbeginn hier den Putzbären zu mimen. Und auch wenn ich die Aussage von Elias vornehmlich einfach so hinnehmen wollte, da ich ganz genau wusste, dass er was sein privates Umfeld anging, derzeitig noch schmallippiger und ernster gestimmt war, so schoss dennoch ein Gedanke durch mich, der hängen blieb und mich einfach nicht loslassen wollte. 

Den Kopf schieflegend, um meiner Verwirrung noch stärker Ausdruck verleihen zu können, fragte ich: „Ist nicht sonstig donnerstags Onkel Lias und Raya Tag? Du hast doch die letzten Monate donnerstags immer den Frühdienst genommen, um danach Raya von der Kita abholen zu können, um daraufhin die Zeit mit deinem Patenkind zu verbringen." 

Schnaufend knallte Elias die Akten, die er bisher in den Armen gehalten hatte auf die nahegelegene Flachstrecke und fing wild gestikulierend an seinem aufgestautem Frust ein Ventil zu geben: „Ich will mit dieser Familie vorerst überhaupt nichts mehr zu tun haben! Schau dich doch mal dort oben auf Station um. Die große Doktor Sherbazhat die Biege gemacht, ohne sich auch nur im Entferntesten mit irgendjemandem abzustimmen. Sicherlich hat sie Frau Professor darüber in Kenntnis gesetzt, aber ein Anruf beim Übergangsausbilder, dafür war scheinbar keine Zeit. Viellieber lässt sie hier alles stehen und liegen, weil sie ebendem auch keinen Bock mehr auf die Großkotzigkeit und den Hochmut von ihren Mann hat. Und der? Anstatt, dass dieser alles Menschen mögliche in Bewegung setzt, um seine Frau zur Rückkehr zu bewegen oder seiner Rolle als Oberarzt gerecht zu werden und Ideen gegen die Personallücken zu suchen, geht er zu Frau Professor Patzelt und lässt sich erstmal auf eine halbe Stelle hinabsetzen. Und was für eine Überraschung, die Probleme hier im Haus sind dadurch nur noch schlimmer geworden. Ich habe bald ein Überstundenkonto was genauso lang ist, wie das von Doktor Moreau. Also verzeih mir, wenn ich DEM bei seinem bisherigen Egoismus und der an den Tag gelegten Engstirnigkeit vorerst nicht zur Seite stehe. Soll er einmal in den ganzen Jahren allein mit seinen Herausforderungen klar kommen. Er wird schon erkennen, dass er dem nicht gewachsen ist." 

Wow, diese Worte haben gesessen. Kannte man Elias eigentlich stets als freundlichen und offenherzigen Menschen, der positiv und gutherzig durchs Leben ging, so war das, was er mir gegenüber soeben offenbarte eine Seite von der ich gehofft hatte, dass sie wohlmöglich gar nicht in im Vorhanden sein möge. Mich sammelnd damit ich Elias vielleicht wenigstens ein gewisses Maß der Abneigung gegenüber Ben und seiner Familie von den Schultern heben würde, um diese durch einen Hauch der Realität und Einsicht zu ersetzen, versuchte ich es auf einem diplomatischen Weg. 

„Ehrlich Elias? Er hat seine Familie über den Beruf gestellt, als Lilly und Liam hier zu früh auf die Welt gekommen sind, während seine Frau mit RSV in London bleiben musste. War er in der Lage dieses ganze Ausmaß zu fassen und zu greifen, was sich dem nunmehr anschließen würde?Sicherlich nicht. Wir haben ihm beigestanden, wie es ebendem echte Freunde machen. Nach eurem Streit in der letzten Woche verstehe ich sowohl dich als auch Ben. Meine Güte ihr habt euch Sachen an den Kopf geworfen, die man wahrscheinlich nicht einmal seinem ärgsten Feind erwidern sollte. Doch im Herzen seid ihr trotz allem Brüder! Vielleicht nicht durch Blut, aber durch all das, was in der Vergangenheit geschehen ist. Ja wenn man es aufrechnen wollte, dann war es häufiger so, dass du Ben aus seinen tiefen, dunklen Orten helfen musstest, aber er hat immer wieder versucht auch an deiner Seite zu stehen, wenn es notwendig war. Er hat dir mit der Patenschaft von Raya das schönste und größte Geschenk gegeben, was zu der Zeit möglich gewesen ist. Ein Vertrauensbeweis der immenser nicht sein könnte. Und du willst mir jetzt mit aller Ernsthaftigkeit weiß machen, dass du das von nun an nicht mehr willst? Dieser kleine Engel, der uns alle schon so einige schlimme und mitnehmende Tage vergessen lassen hat, einfach nur durch ihre Präsenz. Du willst mir sagen, dass du keine Lust mehr darauf hast nach sechs aufeinanderfolgenden Spätdiensten an deinem freien Tag den Haushalt stehen und liegen zu lassen, um einfach ein oder zwei Stunden mit Raya zu verbringen. Ihr eine Geschichte vorzulesen und dich in Rollenspielen zu verlieren. Fein! Bitte. Das kannst du gerne machen, aber ich kann dir hier und heute versprechen, dass wenn du mit dieser Sache zu Ben gehst und ihm die Dinge, die du mir eben eröffnet hast, an den Kopf wirfst, Raya aus deinem Leben verbannst. Auf ewig! So viel ist sicher. Und wir beide wissen, dass dies am Ende etwas ist, was dein Herz definitiv nicht ertragen kann.", schloss ich meine Erwiderung, während ich gleichzeitig durch einige tiefe Atemzüge versuchte meine gleichzeitig aufgebaute Wut so gut wie möglich unter Kontrolle zu bekomme. Dies hier war der falsche Ort und die falsche Zeit sich in eine weitere Streitigkeit hineinzumanövrieren. Ich war wütend auf die beiden. So unbeschreiblich sauer! Sie sind in den letzten Wochen zusammen, Seite an Seite durch schwere Aufgaben hindurchgegangen, um anschließend ohne weiteres einen so großen Keil zwischen sich zu schlagen. Das konnte doch nicht deren Ernst sein. 

„Er hat in den letzten Monaten einfach vergessen, was es heißt Dankbarkeit zu spüren. Er hat unsere Freundschaft zu einem stetigen und andauernden Umstand erhoben und sich nicht mal die Mühe gemacht seinen Dank dafür auszusprechen. Das tat weh, Julia. Auch ich bin ein Mensch mit Gefühlen. Der seine Freizeit und seine sonstiges Leben pausiert hat, um einem Freund unter die Arme zu greifen, der nicht einmal richtig Danke sagen kann. Also verzeih, wenn ich dem großen Doktor Ahlbeck bisher einfach nicht unter die Augen treten kann. Sicherlich schmerzt es mich, dass ich deshalb aktuell nicht mein Patenkind sehen kann, aber es scheint mir ein notwendiges Übel, sodass Ben sieht, dass sich nicht immer alles nur um ihn drehen kann.", sprach Elias. Wobei die Wut, die unterschwellig die gesamte Zeit über in seiner Stimme mitgeschwungen hatte, derweil durch Resignation ersetzt worden war. 

„Elias, wie gesagt ich verstehe dich. Du wurdest von Ben mit den gesagten Worten sehr verletzt! Unmissverständlich bin ich diesseits auf deiner Seite. Doch ich versuche sowohl dich als auch Ben in dieser Gleichung gleichwertig zu bewerten. Ihr seid beide meine besten Freunde, meine Vertrauten. Ich will hier niemanden bevorzugen oder eine Meinung über die andere Stellen fällen, aber tief in mir ist da dieses Gefühl, dass am Ende doch nicht alles so einfach ist, wie es beim ersten Blickden Anschein hat.", versuchte ich zumindest etwas von meiner Hoffnung, dass vielleicht doch irgendwann zwischen den beiden Sturköpfen besser werden würde, an Elias abzutreten.  

Der trügerische ScheinDonde viven las historias. Descúbrelo ahora