Irrungen und Wirrungen

85 5 1
                                    

Auktoriale Erzählperspektive:

Trotz des Wissens, dass eine Dringlichkeit intendiert schien, dass Doktor Lipp und Herr Ahlbeck bei der Luftrettung eine Möglichkeit für den schnellstmöglichen Flug nach London bekamen, wollte Doktor Lindner doch zumindest sichergegangen sein, dass er die Kollegin mit Ben allein lassen konnte und vorerst alles unter Kontrolle schien. Ein Umstand, der von Weitem betrachtet vielmehr undenkbar war. An den Geschehnissen der letzten Minuten war vielmehr gar nicht mit einer Normalität zu beschreiben. 

Aktuell gestaltete sich die Situation derartig, dass der Mann von Doktor Sherbaz weiterhin auf dem Boden der Notaufnahme zusammengekauerte und von markerschütternden Schluchzern durchzogen, hockte. Wobei Ben derweil zumindest wieder etwas fokussiert schien, als vor wenigen Augenblicken, sodass er auf die Kommunikationsversuche von Doktor Lipp einzugehen versuchte und nicht mehr apathisch vor sich hin blickte. Die Neurologin hatte ihn in einem klaren Moment daher hinüber zum Empfangstresen gelotst, sodass er sich anlehnend an die harte Frontseite, einen verbesserten Augenfokus zu seinem Gegenüber suchen konnte. Doktor Lipp hockte nunmehr ebenfalls auf seiner Höhe, um eher mit ihm interagieren zu können, so weit das überhaupt realisierbar war. Auch wenn es primär den Anschein hatte, dass an dieser Stelle für den Moment alles in Ordnung schien, so trat Marc dennoch hinüber, um auch die aktive Zustimmung der Kollegin zu erhalten. Die Gefahr, dass ein emotional aufgewühlter und verzweifelter Angehöriger plötzlich die Fassung verlor, war schließlich ein ständiger Begleiter dieses Berufes. Da war es vollkommen egal, ob es sich dabei eigentlich um einen Kollegen handelte oder eine außenstehende Person hier im Fokus stand. „Hier bis hierhin alles in Ordnung?", versuchte er etwas ungalant in Gebärdensprache zu zeichnen, sodass die Kollegin, die durch den gesamten Sprachstimulus seitens Ben sicherlich froh schien, zumindest für einen Augenblick einfach nur über Gebärden sprechen zu können. Wobei Doktor Lipp hastig zeigte, dass alles in bester Ordnung sei und daraufhin dazu überging zu gestikulieren, dass der Anruf bei der Luftrettung, der zuvor schon intendiert schien, viel aufdringlicher war als der Umstand, dass man hier proaktiv helfen konnte. 

Somit trat der Onkologe des JTKs seinen Weg hoch in die chirurgische Fachabteilung an, wo alle benötigten Unterlagen, die er nunmehr brauchte, zu finden sein würden. Auf Station angekommen, wurde er davon überrascht, dass Elias bereits am Counter saß, wobei Marc von Doktor Lipp mitbekommen hatte, dass dieser vielmehr erst zum Nachdienst erscheinen dürfte, wenn ebendem Schichtwechsel war. Der wiederum erst in einer Stunde sein würde. „Elias, was machen sie denn schon hier? Sie haben doch den Nachtdienst des heutigen Tages?!", wollte Lindner in Erfahrung bringen, während er im Schrank unter dem digitalen Dienst und OP-Plan nach dem blauen Ordner mit den gesuchten Kontaktinformationen strebte. 

Elias, der sonstig für seine aufgeschlossene und freundliche Kommunikation bekannt war, erwiderte allein schmallippig: „Hatte zuvor Bereitschaftsdienst und war daher für den Notfall eh in der Klinik. Daraufhin habe ich Frau Berger bei ihren Patientendokumentationen helfen wollen. Doch wie man sieht, ist diese nunmehr verschwunden und ich bin allein mit diesen Akten, von Verlegungen, die nur sie ausfüllen dürfte. Haben sie die Kollegin vielleicht irgendwo auf ihrem Weg angetroffen? Sie sollte wirklich ihre Dokumentation zu Ende bringen!" Ein fragender Gesichtsausdruck, der vielmehr mit übersteigertem Unverständnis durchzogen war, bildete sich auf Lindners Gesicht. Wenn er die Beschreibung von Julia Berger zuvor im richtigen Kontext wahrgenommen hatte, dann hatte es sich so angehört, als sei Ben bevor er in die Notaufnahme gestoßen war, zuvor hier auf Station gewesen. Und es war kaum denkbar, dass der junge Kollege zu dem Zeitpunkt fokussierter und orientierter gewirkt haben möge. Vor allem nicht, wenn Julia aufgrund dessen merkwürdiger Verhaltensweise extra hinter ihm her gelaufen war, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung sein würde. Demnach war Elias Verhaltensweise gegenüber seines besten Freundes und seiner guten Freundin mehr als merkwürdig, schließlich musste er doch zumindest etwas mitbekommen haben, wenn er schon länger mit der jungen Kollegin am Counter Akten abarbeitete. Dennoch war da gleichzeitig das Wissen, dass zwischen den Kollegen Ahlbeck und Bähr derzeitig dicke Luft herrschte. Daher rührte wohlmöglich auch die Gleichgültigkeit in Bezug auf seinen besten Freund. Nunmehr machte es daher auch keinen Sinn mit den halbinformativen, vielmehr eher undurchsichtigen Informationen, die er in der NA erlangt hatte, hausieren gehen. Vor allem nicht, wenn es im Rückschluss bedeuten würde, dass man Julia, die standhaft versuchte eine neutrale Position zwischen den beiden Herren zu halten, ans Messer lieferte. Und das alles nur weil man Elias ebendem erklären würde, dass diese unten bei einem mehr als verstörten Ben war. Dieses gesamte Verhalten der Herren wäre sicherlich etwas, was zeitnahe offen im Kollegium besprochen werden musste, wenn sich diese nicht baldig zusammenreißen würden und ihre Streitigkeiten beilegten. Doch für den heutigen Abend, würde Marc Lindner Ben nicht noch mit weiteren Dingen belasten wollen. Denn was er aus all dem Umgebenden herausgehört zu haben glaubte, wäre doch genügend, was man derzeitig schultern musste, da sollte nicht noch irgendetwas potenzierendes hinzugezogen werden.

Der trügerische ScheinWhere stories live. Discover now