Ungewissheit

418 8 0
                                    

Bens Blickwinkel:

„Papa? Noch eine Gute-Nacht-Geschichte?", kam es schüchtern von dem kleinen Lockenkopf, der mich mit einem fragenden Blick von ihrer Position in der Wohnzimmertür aus bedachte. Wir hatten doch bereits zwei Bücher gelesen! Wobei ich mir auch sicher gewesen bin, dass Raya nach der zweiten Hälfte ‚Die kleinen Raupe Nimmersatt' tief und fest eingeschlafen war. Da hatte ich mir scheinbar etwas eingeredet, als ich mich aus dem Kinderzimmer tretend, auf einen entspannten Restabend eingestellt hatte. Doch auch wenn alles in mir vielmehr danach schrie, dass ich einfach einmal eine Pause brauchte, von all dem, was mich momentan umgab, so kam meine kleine Maus weiterhin stets an erster Stelle. Egal was sich alles um mich herum momentan zusammenbrauen mochte und dabei patu nicht aus der Welt zu schaffen war. Die Familie kommt weiterhin und immer an erster Stelle! 

Meine Arme öffnend, sodass meine Bohne wusste, dass sie hinüber zu mir auf die Couch kommen sollte, kollidierte Sekundenbruchteile später ein kleiner Körper in meinen. Raya zu mir auf den Schoss setzend, schaute ich plötzlich nicht mehr in das verschlafende Gesicht, welches mich noch vor wenigen Augenblicken bedacht hatte, sondern in eine sorgenvolle Miene mit kleinen Krokodilstränen in den Augenwinkeln, welches eine so enorme Ähnlichkeit zu Leylas hatte. Leyla... Ein kleiner Stich durchfuhr ein weiteres Mal meine Brust. Hatte ich einige Tage zuvor endlich das Gefühl gehabt, dass nach ihrer abklingenden RSV-Infektion folgend wieder ein Hauch der Normalität in mein und unser Leben zurückkehren würde, so wurde ich ebendem im gleichen Atemzug davon überrascht, dass vorerst überhaupt Nichts wieder in das richtige Licht gerückt wurde, wie ich mir das gewünscht hätte. Sicherlich verstand ich in meinem tiefsten Innersten, dass Leyla momentan dort war, wo sie am dringendsten benötigt wurde. Aber auf der anderen Seite brauchte ich nach der gesamten Zeit der Abstinenz und räumlichen Trennung gleichwohl meine Frau an meiner Seite, sowie Raya ihre Mutter. Nähe, Geborgenheit, Vertrautheit und Liebe. 

Speziell nach dem, was sich zwischen Elias und mir in den letzten Tagen abgespielt hatte. Das wäre der Balsam, dem ich derzeit entgegensehnte. Sicherlich haben Bährchen und ich uns schon häufiger in die Haare bekommen und danach etwas Zeit gebraucht, bis wir wieder aufeinander zugehen konnten... Doch dieses Mal hatte ich den Karren so gewaltig in den Dreck gefahren, dass eine Rückkehr ins ‚Normale' gewiss länger dauern würde, als es sonstig der Fall gewesen war. Wenn es denn überhaupt noch ein Zurück gab?! Denn wenn ich ehrlich mit mir selbst war, so wäre es sogar denkbar, dass Elias und ich uns wohlmöglich auf Ewig miteinander verkracht hatten. Julia war mit ihren Schlichtungsversuchen bisher bei uns beiden auf vollkommende taube Ohren getroffen, da keiner von uns nunmehr einsah den ersten Schritt zu gehen. Wenn überhaupt noch jemand hier positiv einwirken könnte, dann wäre es Leyla. Aber die war ebendem momentan kilometerweit entfernt in London und nicht da, wo ich sie so dringend benötigte. An meiner Seite! Mit meinen Gedanken immer wieder zwischen Leyla und Elias hin und her springend, hatte ich tatsächlich vergessen, dass ich dort auf meinem Schoss noch immer meine kleine Prinzessin hocken hatte, die ebenfalls meiner Aufmerksamkeit bedürfte. 

Denn auch wenn ich bis hierhin stetig versucht hatte, alles Umgebende von der Kleinen fernzuhalten, so wusste ich auch, dass es in den letzten Tagen definitiv nicht genug der Anstrengung gewesen war. Der Stress, den ich nie mit nach Hause bringen wollte, verfolgte mich derweil wie ein unsichtbarer Rucksack, der sich einfach nicht abschütteln ließ, weshalb ein gewisses Maß meiner Betrübtheit auch auf Raya übergegangen war. Wie mir nunmehr erneut klar vor Augen geführt wurde, als ich in Rayas betrübtes Gesicht blickte. „Papa traurig! Raya dann auch trauig. Kann Raya helfn?", kam es besorgt von meiner kleinen Bohne, die schon seit Tagen immer wieder versuchte etwas positives Licht in mir zu entzünden. Gestern Abend hatte sie mich beispielsweise auf dem Sofa einige Tränen weinen sehen, weshalb ich daran anschließend ihren geliebten Herrn Brumm unbedingt mit zu mir ins Bett nehmen sollte. ‚Sie hatte schließlich auch noch Straußi, der auf sie aufpasse würde. Aber ich wäre dann zumindest nicht ganz allein im großen Bett.' Irgendwie musste ich versuchen meine Gefühle noch besser voneinander loszulösen. Denn vorerst würde es sicherlich nicht so schnell besser werden. Das war sicher! Raya hingegen hatte noch nicht vollständig aufgegeben, ihren heutigen aufmunternden Plan zu formulieren. „Mama anrufen!", kam es als naheliegendste, klare Lösung von meiner Maus, in deren Gesicht sofort ein Strahlen auftrat, sobald sie an ihre Mama dachte. Gott, Leyla! Wie sehr du ebenfalls hier in Erfurt gebraucht wirst, könnte ich nicht einmal in Worte fassen. Auch wenn ich das erbauende Glitzern der Hoffnung in Rayas Augen sah, dass sie heute wohlmöglich noch mit ihrer Mama telefonieren konnte, obwohl es bereits weit nach ihrer Zubettgehzeit war, war ich bereit diesbezüglich den strengen Papa raushängen zu lassen und die Maus daran zu erinnern, dass die Mama heute keine Zeit habe. Schließlich hatten Liam und Lilly heute einen sehr späten Arzttermin, zu dem ihre Oma mit musste, um Zoe zur Seite stehen zu können. Demnach hatten wir uns bereits gestern Abend darauf verständigt, dass heute kein Gespräch über das Telefon möglich wäre. Leylas würde mir später sicherlich noch eine Nachricht schicken, in der sie mir das Wichtigste mitteilte und mir schrieb, dass sie mich liebe, aber das wäre dann auch alles für den heutigen Tag auf was ich hoffen durfte. 

Während ich mir in meinem Kopf bereits die Worte zusammenlegte, wie ich Raya beibringen würde, dass das leider nicht möglich sei und sie vielmehr zurück ins Bett sollte, sodass sie morgen ausgeruht in den Kindergarten konnte, wurde ich davon überrascht, dass auf dem Wohnzimmertisch plötzlich mein Handy zu vibrieren begann und Leylas Profilbild dabei parallel den Bildschirm erleuchtete. Etwas verwirrt über das Klingeln, verharrte ich einige Augenblicke in Bewegungslosigkeit, ehedem Rayas Ungeduld mich schnellstmöglich zum Handeln brachte. „Papa! Mama ruf an! Du muss rangehen!", kam es quengelig von meiner Kleinen, bei der sich gleichzeitig die vorgerückte Stunde, sowie alles weitere Umgebende langsam aufs Gemüt legte.

„Hey Leyla, schön von dir zu hören. Ich hatte gar nicht damit gerechnet, dass es heute doch noch klappen würde.", kam es freudig über meine Lippen, wobei sich in dem tiefsten Inneren meines Seins trotz meiner eigentlichen Freude ein enger und erdrückender Knoten bildete. Woher dieses plötzliche zusammenpressende Gefühl auf meiner Brust herrührte, konnte ich tatsächlich kaum verstehen. Sicherlich gab es dafür eine harmlose und einfach zu beschreibende Erklärungen. Doch Bruchteile später erkannte ich, warum plötzlich ebendem sich nichts mehr so anfühlte wie zuvor. Denn statt der herzlichen und ruhigen Stimme meiner Frau, war am anderen Ende der Leitung ein tränennasses, tiefes Durchatmen von jemand anderem zu hören. Zoe! Alles um mich herum begann zu Kreisen, da die Realität sich mit potenziellen Geschehnissen zu mischen begann und mich dabei in einen starken und herabreißenden Strudel hineinzog. Irgendwie schaffte ich es dennoch mit gepresster Stimme zu fragen: „Was ist passiert Zoe? Geht es euch gut?!" 

Wissend, dass sicherlich gar nichts gut war, wenn Zoe derartig aufgelöst war, wartete ich mit jedem Ticken des Sekundenzeigern der Wohnzimmeruhr auf eine Antwort von meiner anderen Tochter, die mir hoffentlich belegen könnte, dass es nicht so schlimm sei, wie ich es mir derzeitig zeichnete. „Ben... Ich weiß auch nicht was genau passiert ist... Es geht, es geht um Mama... Ich weiß auch nicht? Erst war alles gut, dann plötzlich nicht...", versuchte Zoe mit aller Mühe eine Erklärung von sich zu geben, doch am Ende waren es ihre Emotionen, die dies unmöglich machten.  

Der trügerische ScheinМесто, где живут истории. Откройте их для себя