Echt genug

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Er antwortete mir nicht direkt, doch seine Hand fand die Signatur an meinem Hals. Das Gefühl glich einem Stromstoß. Ich biss mir auf die Lippe, versuchte das Stechen zu ignorieren.

Du solltest nicht hinkratzen.. Im Ernst, die können sich so richtig entzünden...

Nein, stopp!

Daran wollte ich jetzt nicht denken! Aber es war zu spät. In diesem Moment waren Rogers Worte bereits zum Phantom geworden. Ein Geist in meinem Kopf, der sich nicht so einfach fassen und wegsperren ließ. Und einer, der nicht alleine auftauchte.

Das ganze Gespräch am Fluss kam mit einem Mal wieder hoch. Rogers gut gemeinter Rat.. und dann die Enttäuschung. Und die Anschuldigungen und die Fragen, die wie Peitschenhiebe auf mich niedergegangen waren.

Ich hatte die heutigen Ereignisse bisher von mir geschoben. Den Streit. Die Kündigung. Weit, weit weg, in den hintersten Winkel. Es war einfach gewesen. Der Schock vom Unfall. Dann Adrien, der plötzlich aufgetaucht war und die Auseinandersetzung zwischen Jarvis und Grant.. 

Aber jetzt umgab uns plötzlich Ruhe und Stille wie ein Vakuum. Und in dieser Stille schrie mein Kopf immer lauter, verlangte nach Aufmerksamkeit. Rogers Worte mutierten zum Virus, infektiös und allgegenwärtig und sie brachten all das mit sich wieder an die Oberfläche, was ich tief in mir begraben hatte.

Seit wann vögelt ihr? Ich dachte, wir wären auf einer Seite!

Ich merkte, wie sich meine Kehle zuschnürte.

..Das ist ein Ort für anständige Leute.. ..Indem du die Beine für ihn breit machst?! Ich hoffe der Vampir-fick war es Wert. Wir sind so enttäuscht von dir.. .. wahnsinnig enttäuscht von Ihnen..

Meine Finger umkrallten den Stoff von Jarvis Shirt, suchten einen Anker. 

Ist überhaupt noch etwas von der alten Beatrice in dir übrig?

Die Frage glich einem Fluch.

Jarvis leises Lachen riss mich aus meinen Gedanken. Ich blickte auf. Ein dunkles Leuchten lag in den Augen des Vampirs.

"Sag mir, woran du gerade denkst, Bea."

Ich wollte nicht. 

Die Erinnerung quälte mich mehr als alles andere und offensichtlich sah er mir das auch an. Aber wenn ihn meine Gefühle jemals von irgendwas abgehalten hätten, wären wir jetzt nicht hier. 

"Ich wünschte, ich könnte vergessen...", sagte ich leise.

"Oh? Wie schnell die Sympathie aufgebraucht ist? Oder wie seicht die Beziehungen zu deinen Mitmenschen sind, über die du dich definierst?", fragte er provokativ.

Ich antwortete nicht, doch Jarvis konnte in meinem Gesicht ohnehin lesen, wie in einem offenen Buch.

"Familie. Freunde.. Am Ende des Tages sind sie alle gleich", sagte er, sein Blick hart und kalt. "Nie da, wenn man sie braucht, nicht wahr?" Seine Hand strich mir langsam durchs Haar, folgte der Kontur meines Kiefers bis er schließlich mein Kinn anhob. "Aber keine Sorge. Ich nicht. Ich bin noch hier."

Ein schmales Lächeln umspielte seine Lippen. 

Er wusste es. Ich hatte keine Ahnung, wie, aber ich war mir sicher. Er wusste, was Roger zu mir gesagt hatte. Und er wusste auch, dass ich sonst niemanden mehr hatte, mit dem ich über diese Dinge reden konnte.

Ich schloss die Augen. Es spielte keine Rolle mehr, wie viel von der alten Bea noch übrig war. 

Irgendetwas war an mir kaputt gegangen. Vielleicht durch Rogers Worte, vielleicht auch schon viel früher. Ich wusste nicht, wann und wo es passiert war, nur dass meine Seele einem Scherbenhaufen glich.

In seinen FängenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt