Kapitel 5

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Hicks

Als die Sonne fast ganz verschwunden war, gingen wir wieder alle rein, Ohnezahn an Astrids Seite, und auch an ihrem Zimmer blieb er dort. Natürlich, auf einmal mochte er die Mädchen, die ich rettete. Ach, ist doch egal, dass ich der Einzige war, der ihn wollte, jetzt konnte er mich ja einfach so für sie verlassen.
   »Du kannst ruhig noch rein kommen, wenn du willst«, sagte Astrid und lächelte leicht. Zusammen setzten wir uns auf ihr Bett. Ich bemerkte ein einziges Bild auf ihrem Nachttisch.
   »Ist das deine Mutter?«, fragte ich vorsichtig und zeigte auf das Bild.
   Sie sah hin und ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht.
   »Ja, das ist sie.«
   Sie gab mir das eingerahmte Bild. Sie waren beide zu sehen, ich schätze mal, dass Astrid ungefähr zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen war. Sie hielten sich im Arm und hatten jeweils ein Eis in der Hand; die Sonne schien von der Seite auf sie beide drauf. Astrid sah ihrer Mutter wirklich ähnlich; sie hatten beide diese langen, gewellten Haare, aber Astrids Mutter hatte hellbraune, wobei Astrid blonde hat. Aber die Augen und die Gesichtszüge waren dieselben.
   »Da waren wir in San Francisco und haben dort Urlaub gemacht. Ich war dreizehn, es war ein halbes Jahr vor ihrer Diagnose. Damals hatte sie noch keine Anzeichen, sie war gesund und lebensfroh, du hättest sie sehen müssen. Ich hatte nie jemanden gekannt, der sein Leben mehr geliebt hat. Und genau sie musste es aufgeben.« Astrids Stimme war immer trauriger und trauriger geworden, desto mehr sie erzählt hatte.
   »Es ist ziemlich traurig, dass ich sie nicht persönlich kennenlernen kann, aber durch dich kann ich sie wenigstens ein wenig kennenlernen. Das ist nicht dasselbe, wie bei dir. Ich kann ihr nie persönlich gegenüber stehen und nicht sehen, wie sie lächelt oder ihre Stimme hören.«
   Tränen schimmerten in ihren Augen. Behutsam und recht zögerlich legte ich meine Hand auf ihre Schulter.
   »Ich will nur, dass du weißt, dass du immer mit mir reden kannst. Ich werde dir zuhören.«
   Sie lächelte mich an.
   »Versuch zu schlafen«, sagte ich noch, dann gab ich ihr das Bild zurück und verließ ihr Zimmer, ohne meinen schwerbehinderten Kater.
   Mein Zimmer war nicht weit entfernt von Astrids, ich musste nur nach rechts abbiegen und ein wenig laufen. Dieses Mal aber stand Merida vor meiner Tür und wartete. Was war denn jetzt schon wieder los?
   »Hey, Merida«, sagte ich ganz locker, als wäre sie nicht wieder die übertrieben Eifersüchtige. »Wo warst du den ganzen Tag?«
   »Üben«, antwortete sie mir knapp. Ich stand nun vor ihr und sie lehnte leicht an der Wand hinter ihr und hatte die Arme gekreuzt.
   »Gibt's etwas?«, fragte ich dann nach ein paar Sekunden.
   Sie kniff ihre Augen feindselig zusammen. »Ich traue dieser Astrid nicht.«
   Ich runzelte die Stirn. »Merida, sie ist nicht mal vierundzwanzig Stunden hier. Wie kannst du ihr jetzt schon nicht trauen?«
   »Merkst du nicht, wie sie an dir hängt? Den ganzen Tag hing sie dir am Arsch.«
   Ich verdrehte die Augen. »Sie hat Angst und kennt das doch alles gar nicht. In ein paar Wochen wird sie sich eingelebt haben.«
   »Red du dir nur weiter ein, dass sie verängstigt ist. Deinen Kater hat sie schon an sich gerissen. Bald klaut sie noch den Mädels die Freunde weg.«
   »Hey«, protestierte ich jetzt. »Bei jedem Mädchen führen wir dieses Gespräch, ist dir das mal aufgefallen? Sie wird den Mädels nicht die Freunde ausspannen und das mit Ohnezahn ist auch ganz neu. Vielleicht ist sie einfach anders.«
   »Klar, sie ist ja neu und unbekannt und so besonders, weil sie vermietet werden sollte. Das passiert auch tausend von anderen Mädchen auf dieser Welt. Aber wie schon gesagt: Red dir das nur weiterhin ein, ich glaube lieber an die Wahrheit.«
   Damit ging sie und ließ mich im Flur allein. Jedes Mal hielten wir diese Konversation und jedes Mal endete sie so. Ich wusste, dass sie in mich verknallt war, aber für mich war sie eben nur eine Freundin und diese Eifersuchtsszenen gingen mir langsam echt auf die Nerven.
   Den Kopf wollte ich mir jetzt aber auch nicht deshalb zerbrechen, also ging ich in mein Zimmer und machte mich fertig. Es war zwar seltsam, Ohnezahn nicht neben mir liegen zu haben, aber die Erschöpfung war so groß, dass ich schnell einschlief.

Am nächsten Morgen ging ich unter die Dusche und danach zum Gemeinschaftsraum. Von draußen hörte ich zwei Stimmen. Die lautere war von Merida, die mal wieder eine ihrer Attacken hatte, und die kleinlautere war von Astrid.
   »Hast du ein Problem? Habe ich irgendetwas getan?«, sagte Astrid noch sanft.
   »Mein Problem?«
   Kurze Stille.
   »Gut, mein Problem bist du! Du bist nämlich hier diejenige, die alles zerstört.«
   »I-ich verstehe nicht -«, sagte Astrid gebremst. Natürlich unterbrach Merida sie.
   »Komm mir nicht mit der Nummer!«, fauchte sie richtig giftig. »Du und auch die Mädchen davor, ihr seid alle gleich! Jeder von euch runiert mir das, was ich mit Hicks habe!«
   Aber mal ehrlich! Was wir hatten? Wir waren Freunde, nicht mehr und auch nicht weniger.
   »Du -«, sagte Astrids Stimme kurz, wurde aber wieder unterbrochen.
   »Ich sage dir das nur jetzt: Zerstör es mir, und ich zerstöre dich.«
   Laute, polternde Schritte kamen zur Tür. Merida war so wütend, dass sie mich gar nicht gesehen hatte, als ich mich an die Wand drückte.
   Ich hörte ein Fauchen: Ohnezahn.
   »Ist schon gut, sie ist weg«, sagte Astrid, immer noch ein wenig verängstigt.
   »Ich würde niemals zu schnell urteilen, aber die hat einen Knall«, sagte Astrid. Ohnezahn gab ihr seine Antwort.
   »O man, ich rede mit einer Katze!«
   »Mit einem Kater, wenn ich bitten darf«, sagte ich und trat in den Raum. Sie sah Ohnezahn verdutzt an, als ob er es gerade gesagt hätte. Oder sie dachte es zumindest.
   »Ich hab das gesagt«, sagte ich und sie sah erschrocken zu mir.
   »Oh«, sagte sie nur. Ich fing an zu lachen, wo sie mit einstieg.
   Ich ging zu dem Stuhl, wo Ohnezahn saß und hob ihn hoch. Er drehte sich in meinem Schoß und legte sich dann gemütlich hin. Ich kraulte ihn an den Ohren.
   »Und, wie hast du geschlafen?«, fragte ich Astrid.
   »Eigentlich ganz gut. Außerdem war es schön, mal Gesellschaft zu haben.«
   »Ja, ich musste mich damals erst daran gewöhnen. Anfangs lief er immer über das Bett, inklusive mir. Ich hatte die halbe Nacht nicht geschlafen. Aber irgendwann ist er dann immer schnurrend eingeschlafen, weil ich ihn gekrault hatte.«
   »Ja, vorhin saß er sofort im Bett, als ich mich nur umgedreht hatte, um das Licht einzuschalten.«
   »Er ist echt seltsam, aber dafür mag ich ihn ja.« Dann biss er mir in den Finger, aber nur leicht.
   »Lass das!«, meckerte ich. Es fühlte sich an, als würde er lachen. Ich verdrehte die Augen. Astrid lächelte wie eine Idiotin vor sich hin.
   »Wenn ich euch sehe, dann erinnert ihr mich an meine Mutter und mich. Sie war immer meine beste Freundin gewesen und wir haben immer so einen Quatsch gemacht. Aber gebissen haben wir uns nie.«
   Wir blieben still für eine Weile. Sie starrte auf meine Hand, die Ohnezahn immer noch hinter den Ohren kraulte. Sein Bein fing schon wieder an zu zucken.
   »Ich, äh«, sagte Astrid und guckte auf ihre Finger, die miteinander rangen. »Ich habe dir noch gar nicht gedankt.«
   »Oh, das brauchst du nicht, ehrlich. Das ist mein Job, wortwörtlich.«
   »Doch, denn nicht jeder würde mir dann helfen. Ich weiß, dass es dein Job ist, aber trotzdem. Ach, weißt du, ich stammel nur Mist. Vergiss es einfach«, sagte sie und legte ihr Gesicht in ihre Hände.
   Ich musste schmunzeln, denn sie war irgendwie süß, wenn sie das tat. Ohnezahn drehte sich auf seinen Bauch und schnurrte.
   »Hast du's vergessen?«, sagte Astrids dumpfe Stimme hinter den Händen.
   »Nö«, sagte ich und grinste. »Aber ich weiß, was du meinst. Selbst ich war froh, als meine Freunde helfen wollten. Glaub mir, manche Menschen siehst du an und denkst dir, dass sie das niemals tun würden und am Ende sind sie diejenigen, die dir helfen.« Wieder sah ich meinen schwerbehinderten, dennoch liebenswürdigen Kater an.
   »Weißt du, Ohnezahns Besitzer war ein obdachloser Mann gewesen. Als wir bei ihm vorbei gingen, hatte er uns fast angefleht, dass wir ihn mitnehmen sollten, weil er nicht für ihn sorgen konnte. Er hatte uns so leid getan, dass wir sie beide mitgenommen hatten, Ohnezahn und den Mann. Heute arbeitet er in einem Supermarkt, lebt in einer Wohnung und hat sich noch eine Katze geholt.«
   Astrid hatte mich interessiert angesehen, als ich es erzählt hatte.
   »Nie hätte ich gedacht, dass dieser Mann das tun würde. Ich hatte eher gedacht, dass er ihn als Geldmagnet benutzt. Als Dank, dass wir ihm auf die Beine geholfen haben, hatte er mir Ohnezahn dann geschenkt. Bis heute haben wir noch Kontakt mit ihm.«
   Astrid sah mich noch an und dann zu Ohnezahn, der da lag, aber auch halb hing, wie ein fetter Kartoffelsack.
   »Das war großzügig von ihm«, sagte sie dann.
   »Allerdings, und ich bin froh darüber.«

Meine Rettung, bevor ich zur Sexsklavin wurdeWhere stories live. Discover now