Kapitel 1

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Meine Mutter hat mir früher immer vor dem Schlafengehen Geschichten vorgelesen. Geschichten, in denen der Held immer gewinnt. Geschichten mit Happy End, Geschichten, die immer gut ausgehen. Oder Märchen. Meistens, während ich dann im Bett eingekuschelt war und meiner Mutter lauschte, stellte ich mir vor, ich wäre die Hauptperson. Meistens war der Protagonist ein Held oder die Prinzessin. Ich habe mir vorgestellt, ich wäre genauso mutig, genauso furchtlos. Während meine Mutter aus der Geschichte rauslas, hab ich die ganze Handlung vor meinem inneren Auge abspielen sehen. Wie ein Film. Nur dass ich der Direktor meines eigenen Films war und alles so gestalten konnte, wie ich es wollte. Das ich mich den Gefahren und Herausforderungen genauso stellen könnte wie der Held in meinen Gutenachtgeschichten. Gegen Drachen kämpfte, mich mit meinen Gefährten durch Eis und Sturm durchkämpfte ... doch die traurige Wahrheit ist, dass ich das nicht bin. Stattdessen sitze ich hier in meinem Gefängnis, das eigentlich eher eine ganze Wohnung ist, und spüre die Angst in meinem ganzen Körper. Sie ergreift mein Herz und das schlägt jetzt so schnell, dass es fast aus der Brust springen will. Oder es explodiert gleich. Meine Hände sind eiskalt und zittern. Es fühlt sich an, als würde ich neben meinem Körper stehen. Ich wollte immer etwas Besonderes sein, die Hauptperson in einer Geschichte. Aber ganz ehrlich, jetzt wünsche ich mir nichts sehnlicher, als normal zu sein. Ich möchte mein altes Leben zurück. Ich bin kein Held. Nicht der Protagonist, der über sich hinauswächst und im entscheidenden Moment mutig ist. Ich... ich bin nur ich. Und ich, ich habe Angst. Fürchterliche Angst.

9 Monate zuvor

Ich schaue aus dem Fenster und tippe mit dem Finger den Takt von "Cornelia Street" von Taylor Swift mit. Die Welt zieht an mir vorbei und ich stelle mir vor, dass dieser Zug in den wilden Westen fährt. Mit Musik kann man am besten Tagträumen. Ich beobachte die Vögel, wie sie immer kleiner werden, wenn sie davonfliegen. Manchmal wünschte ich, ich wäre auch ein Vogel. Dann könnte ich überall hinfliegen, wäre an keinen Ort gebunden, immer frei. Nicht eingesperrt in einem monotonen Leben. Ich könnte tun, wonach mir der Sinn steht. Keine Termine, keine Verpflichtungen und vor allem kein Lernen für Klausuren. Ja, ein Vogel müsste man sein. Ich schaue auf die Anzeige des Busses. Noch zwei Haltestellen, dann bin ich zu Hause. Danach muss ich Mittagessen machen und mich dann mit dem Uni-Stoff beschäftigen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass mein Leben nur aus Essen, Uni, Arbeit und Schlaf besteht. Wobei Schlaf manchmal der beste Teil ist. Versteh mich bitte nicht falsch, ich treffe auch Freunde, gehe raus und verabrede mich. Aber momentan, während der Klausurenphase, besteht mein Leben hauptsächlich aus Uni, Pauken, Essen, Arbeiten und Schlafen. Ziemlich monoton und langweilig. Der Bus hält an meiner Haltestelle. Die Türen öffnen sich mit einem "tschhh". Ich nehme meine Tasche und steige aus. Werfe nochmal einen Blick zurück, um zu überprüfen, dass ich nichts vergesse. Ein Regentropfen fällt auf meine Stirn. Es hat vorhin wieder geregnet, obwohl das Wetter Ende Mai eigentlich schon ziemlich warm sein sollte. Aber dieses Jahr nicht. Dieses Jahr wechseln sich semi warme Tage und regnerische Tage fließend ab. Während ich die Straße entlanglaufe, weiche ich den Pfützen aus und schnuppere die Luft. Sie ist zwar nicht so sauber wie auf dem Land, hier in der Stadt. Aber sie riecht immer frischer nach einem kräftigen Regenschauer. Keine Ahnung warum, aber die Luft nach dem Regen duftet immer ein bisschen nach Freiheit. Ich schließe die Eingangstür auf, checke meinen Briefkasten und gehe die Treppen hoch zu meiner Wohnung. Zum Glück wohne ich nur im zweiten Stock. Das Gebäude hat zwar einen Aufzug, aber für den kurzen Weg lohnt es sich nicht, ihn zu benutzen. Ich öffne die Tür zu meiner Wohnung, schlüpfe aus meinen Schuhen, hänge meine Jacke auf und lege meine Tasche ab. Ich liebe meine Wohnung. Jedes Mal, wenn ich nach Hause komme, ist der erste Gedanke, den ich habe: "Ich liebe meine Wohnung". Ach ja, ich hatte wirklich Glück, so schnell eine bezahlbare Wohnung in München zu bekommen. Es ist zwar nur ein 1-Zimmer Apartment, aber ich liebe die Art und Weise, wie ich es eingerichtet habe. Jedes Mal, wenn ich diese Wohnung betrete und meine Pflanzen sehe, freut mich das. Egal wie schlecht mein Tag war, in dieser Wohnung kann es einem nicht so schlecht gehen. Ich seufze. Eine der Dinge, die ich am Alleinleben wirklich schätze, ist, dass man tun und lassen kann, was man will. Die Kehrseite ist allerdings, dass man sich um alles selbst kümmern muss. Das betrifft auch das Mittagessen. Da ich mal wieder in einem Motivationstief stecke und keine Lust habe, mir etwas zu kochen, koche ich einfach Wasser für Nudeln. Meine Standardlösung, wenn ich keine Lust zum Kochen habe, sind Nudeln, Reis oder Brot. Und momentan fehlt mir oft die Motivation. Also ist mein tägliches Essen genauso trist wie der Rest meines Lebens. Während das Wasser kocht, gehe ich zu meiner JBL-Box und verbinde sie mit meinem Handy. Ich kann einfach nicht ohne Musik sein. Musik ist immer da, wo ich bin. Wenn ich unterwegs bin, gehören meine Kopfhörer quasi zu mir wie Arme und Beine. Wenn ich sie mal vergesse, fühlt es sich an, als wären mir Arme und Beine amputiert. Ich kann mich nicht recht entscheiden, welche Playlist ich anhören soll. Unschlüssig scrolle ich durch Spotify. Momentan weiß ich ziemlich oft nicht, was ich will, sondern nur, was ich NICHT will. Aber immerhin etwas. Es könnte auch schlimmer sein. Nicht zu wissen, was man will und auch nicht zu wissen, was man nicht will. So circa fünf Minuten nachdem ich angefangen habe auf Spotify nach einer geeigneten Playlist zu suchen, entscheide ich mich für die K-Pop Happy Boots Playlist. Ich schütte die Penne in das mittlerweile kochende Wasser. Dann gebe ich Salz hinzu, und zwar soviel, dass das mein Topf gefühlt der kleine Cousin vom Roten Meer sein könnte. "Shit." Ich schicke ein Stoßgebet an die Götter der Nudeln und bete, dass meine Nudeln später nicht komplett versalzen sind. Während die Nudeln vor sich hin köcheln, nutze ich meine Zeit "sinnvoll" und knipse ein Foto für meine Instagram Story. Die nächsten zehn Minuten verbringe ich damit, dass ich meine Insta Story ästhetisch gestalte. Ich gieße das Nudelwasser ab und mische die Nudeln mit dem Pesto. Es rächt sich, dass ich gestern zu faul gewesen bin einkaufen zu gehen, deswegen muss ich jetzt meine Nudeln ohne Parmesan essen. Ich bin ehrlich, Nudeln ohne Parmesan ist eher so meh. Eigentlich soll man während dem Essen ja nichts nebenbei machen, auch nicht am Handy scrollen, aber natürlich halte ich mich nicht dran. Manchmal ist alleine zu wohnen das beste überhaupt und manchmal fühle ich mich so gottlos einsam. Irgendwie wie ein Baum ohne tiefen Wurzeln. Manchmal ist die Stille, die man hat, wenn man alleine wohnt, unendlich erdrückend. Deswegen lenke ich mich mit meinem Handy ab und scrolle durch Instagram durch. Eigentlich weiß man ja, dass man auf den Social Media Kanälen nur das beste von seinem Leben zeigt, aber manchmal... manchmal vergisst man das auch wieder. Also, ich vergesse das hin und wieder. Ich ertappe mich ab und zu dabei, wie ich mich frage, warum mein Leben nicht so aufregend ist wie bei den anderen. Warum die anderen Work-Life-Balance so gut hinbekommen. Warum die anderen irgendwie mühelos ihr Sozialleben am Laufen halten können, sich gleichzeitig auch um sich selber kümmern und zur Uni gehen und arbeiten. Am Wochenende feiern und nie energielos sind. Ich meine, ich kann mich eigentlich gar nicht beklagen über mein Leben. Ich studiere, habe einen Studentenjob, der eigentlich ziemlich Spaß macht und habe Freunde, mit denen ich regelmäßig etwas unternehme. Nur manchmal frage ich mich, ob es nicht mehr gibt. Manchmal frage ich mich, ob es wirklich das ist, was ich will. Meinen Bachelor zu machen, dann den Master, dann den Doktor. Will ich wirklich einen Titel nach dem anderen machen und dann arbeiten, damit ich das Leben finanzieren kann? Ist das wirklich, was ich mit meinem Leben machen will? Also hört sich alles jetzt ein bisschen depressiv an, aber eigentlich gehts mir echt gut. Nur momentan struggle ich ein bisschen mit mir. Mit meinem Leben. Dem Sinn. Während ich eine Gabel nach dem andere in meinen Mund schiebe, schaue ich mir Kochreels an und speichere sie ab. So wie ich mich kenne, werde ich mir vornehmen diese Rezepte nachzukochen. Speichere sie ab und schon in den nächsten fünf Minuten habe ich vergessen, dass ich das Reel überhaupt gespeichert habe. Die Quintessenz daraus ist, ich werde die abgesicherten Rezepte niemals nachmachen. So wie mit allen anderem Zeugs, dass ich auf Instagram abspeichern. Ich stelle meine Schüssel, die ich mittlerweile leer gegessen habe in der Spüle ab, öffne das Regal über dem Spülbecken und hole mir ein Glas heraus. Befülle es mit Wasser und trinke es in langen, durstigen Schlücken leer. Eigentlich sollte ich jetzt gleich abspülen, aber ich bin irgendwie zu müde. Stattdessen beschließe ich einen Mittagsschlaf zu machen. Ach, momentan bin ich einfach so energielos. Immer so müde. Manchmal fühle ich mich wie eine 80-jährige Oma, die den Körper einer 20-Jährigen hat. Die müssen auch jeden Tag einen Mittagsschlaf machen, damit sie ihren Alltag hinbekommen. Ich laufe in mein Schlafzimmer, lasse die Rollladen runter und schlüpfe unter die Decke. Dann kuschele ich mich an mein Pikachu und schließe die Augen. Draußen höre ich einen Krankenwagen vorbeifahren. Ein Vogel zwitschert und Leute gehen vorbei, die sich angeregt unterhalten. Irgendwie merke ich, dass ich ziemlich gefangen in meinen Gedanken bin. Ich atme ein und zähle gedanklich bis drei. Dann halte ich die Luft an, zähle wieder bis drei, atme aus und zähle bis. Diesen Vorgang wiederhole ich, damit ich zur Ruhe kommen. Und es klappt. Kurze Zeit später merke ich, wie mein Körper immer leichter wird, wie er sich entspannt. Die Gedanken langsam leiser werden, in den Hintergrund rücken. Langsam drifte ich ab. In das Land der Träume. 

Ich sitze in einem Auto. In einem weißen BMW. Die Türen sind verschlossen. Es läuft Apache. Ich will mich bewegen, aber ich kann nicht. Ich habe Angst. So scheiß, schreckliche Angst. Sie hat meinen ganzen Körper befallen. Ich will schreien, aber mein Mund öffnet sich nicht. Ich habe die Kontrolle über meinen Körper verloren. Das einzige, was sich bewegt, sind meine Gedanken. Rasend, ziehen sie an mir vorbei. Ein Gedanke folgt dem anderen panischen Gedanke. Wie ein scheußliches Unwetter. Wehr dich! Wehr dich! Wehr dich! Seine großen schwitzigen Hände sind überall. Sie tatschen mich an. Überall, da wo er mich angefasst hat, fühlt es sich an, als hätte ich mich verbrannt. Es ekelt mich an. Ich spüre seinen heißen Atem auf meiner Haut. Am Ohr, am Hals. Meine Haare stellen sich auf. Eigentlich will ich mich bewegen, ich will mich übergeben. Ich will hier nicht sein! Warum ist denn keiner da, der mir hilft? Mit meinen Gedanken versuche ich mich an einen anderen Ort zu denken. Aber alles was da ist ... ist Panik. Angst. Nein! Bitte nicht! Hilfe! Hilfe! Ich will wirklich schreien, aber es kommt nichts raus. Nicht mal ein Krächzen. Ich spüre, wie seine Hand sich unter mein T-Shirt sich schiebt. An meinem BH Verschluss rumfummelt. Wie er sich öffnet. Meine Brüste betatscht. Irgendwie kann ich dann doch meinen Körper bewegen. Ich fange an, zu zappeln. Ihn wegzuschieben. Zu treten. Zu schlagen. Aber er ... er mit seinen 100 kg hat, mehr macht über mich. Er holt mit seiner Hand aus. Wie in Zeitlupe sehe ich die Hand auf mich zukommen. Dann spüre ich, wie sie auf meiner Backe auftrifft. Zuerst ist da nichts. Dann, breitet sich ein Schmerz aus. Heiß, wie Feuer. Ich schreie auf. Schmecke etwas metallenes. Etwas Warmes, flüssiges. Blut. Meine Lippe ist aufgeplatzt. "Widersetz dich mir nicht, du dummes Stück Scheiße! Frauen wie du haben es doch nicht anders verdient! Du willst das doch! Sieh dir doch an, was du anhast!" Wieder kann ich mich nicht bewegen. Mein inneres Ich schreit verzweifelt. Ich soll mich doch bewegen. Mich wehren. Aber alles, was ich kann, ist da zu liegen. Mich nicht zu bewegen. Ich spüre, wie er seinen Mund auf meinen drückt. Seinen Bart, der an meinem Gesicht kracht. Kann ihn riechen. Hugo Boss. Seinen schlechten Atem. Spüre, wie seine Zunge sich in meinen Mund sich drängt. Das Gefühl sich übergeben zu müssen wird immer größer und größer. Ich entziehe ihm meine Zunge. Plötzlich sind da Hände an meinem Hals. Sie drücken zu. Fester und immer fester. "Was hab ich dir gerade gesagt, du Bitch?! Weiche! Mir! Nicht! Aus!" Tränen rollen mir über die Wange. Es brennt. Wenn die Hölle nicht auf Erden ist, was ist das dann? Er lässt meinen Hals los. Ich muss husten. Ringe nach atmen. Aber ehrlich gesagt, wäre es nicht so schlimm, hätte er mich erwürgt, dann müsste ich das, was jetzt kommt, nicht erleben.

Schreiend wache ich auf. Ich bin schweiß gebadet. Mein Mund ist trocken und in meiner Brust zieht es. Ich zittere am ganzen Körper. "Es war nur ein Traum...", flüstere ich mir selber zu. "Nur ein Traum...es ist vorbei. Es ist vorbei." Ich schlinge die Arme um mein Pikachu und schluchze in es hinein. Wiederrollen mir Tränen über mein Gesicht. Ich fühle mich so schmutzig. So leer, aber auch irgendwie nicht. Da ist auch ...Wut. Wut und Scham. 

DREAMWALKERWhere stories live. Discover now