Kapitel 11

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Wir reden über alles mögliche. Schule, Freunde, Musik, Bücher und das Versagen der Politik. „Vielleicht werde ich eines Tages dieses Land regieren und ein besseres daraus machen", sagt Jenny und ich lache. „Was? Ich meine das Ernst." Sie schaut mich fast schon tadelnd an, wodurch ich jedoch nur noch mehr lachen muss. „Dann viel Glück dabei", wünsche ich ihr. Ich kann mir Jenny nicht als Politikerin vorstellen, auch wenn sie gute Absichten hat. „Pff", gibt Jenny von sich und verzieht ihr Gesicht zu einer Grimasse.

„Was möchtest du denn werden?" Ich muss überlegen. Mir wurde diese Frage schon häufig gestellt, aber ich kann mir mein Leben nicht ohne Schule vorstellen. Meine Tage sind fast komplett durchgeplant und von einem Tag auf den nächsten auf sich alleingestellt zu sein, wirkt für mich völlig absurd. „Um ehrlich zu sein, weiß ich es noch nicht." Ratlos ziehe ich meine Schultern hoch und denke noch einmal über diese Frage nach. Was möchte ich werden? Ich weiß noch nicht einmal, wer ich wirklich bin. Woher soll ich dann wissen, was ich die nächsten Jahre machen möchte? Würde es nach mir gehen, würde ich einfach mit meinen Freunden zusammenziehen und nichts tun.

„Hast du nicht einmal einen Anhaltspunkt? Irgendwas, dass dich interessiert?" Jenny stützt ihr Kinn auf der Hand ab und wirft mir einen fragenden Blick zu. „Ich male gerne", sage ich wie aus der Pistole geschossen, „aber ich kann doch unmöglich Künstlerin werden. Da verdiene ich doch nichts. Und ich will mich von niemanden abhängig machen!"

„Künstlerin ist in der Tat nicht das einfachste." Jenny starrt verträumt an mir vorbei und schüttelt dann den Kopf, als wäre sie aus einem Albtraum erwacht. „Du hast ja noch Zeit." Ich nickte. Die Zeit vergeht aber in den unpassendsten Momenten immer zu schnell.

Als hätte Jenny meine Gedanken gelesen, schaut sie zu einer Uhr, die an einer der von Bildern und Postern zugehängten Wand vor sich hin tickt. Mein Blick folgt ihrem. Mittlerweile haben sich meine Eltern zwar schon daran gewöhnt, dass ich öfters später nach Hause komme, aber so langsam wird es trotzdem Zeit für mich aufzubrechen. „Ich muss jetzt dann gehen", sage ich etwas wehmütig zu Jenny, denn ich hab jede einzelne Sekunde mit ihr genossen. „Soll ich dich nach Hause fahren?" Dankend nehme ich das Angebot an.

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„Und wie war's?" Ich kann Kalles neckische Lächeln durch das Telefon wahrnehmen. „Artemis hat mir schon erzählt, dass du den Tag bei 'nem Mädchen verbracht hast." Ich verdrehe die Augen und zeige Artemis in Gedanken den Mittelfinger. Ich will nicht wissen, was sie sonst noch so erzählt hat.

„Da läuft nichts", sage ich mit entschlossener Stimme. Kalle lacht laut auf und es dauert eine Weile, bis er sich wieder einkriegt. „Natürlich. Und Merlin hat aufgehört zu rauchen."

„Echt? Hat er das?"
„Das war Ironie, Elena." Kalle konnte noch nie etwas ironisch rüberbringen. Alles, was er sagt, könnte der Wahrheit entsprechen. Ich schüttele grinsend den Kopf. „Er sollte aber damit aufhören. Rauchen ist ungesund."

„Wer bist du und was hast du mit Elena gemacht?"

„Was?", frage ich fast schon vorwurfsvoll, denn ich habe keine Ahnung, was Kalle da redet. Vielleicht hat er zusammen mit Merlin was getrunken. Meine Eltern haben mich so gut erzogen, dass ich nicht rauche. Und manchmal, wenn die Nacht den Schatten über den vergangenen Tag legt, habe ich Angst um Merlin. Ich will nicht, dass er eines Tages viel zu früh an Lungenkrebs stirbt. Er ist wie ein großer Bruder für mich, an dem ich mich immer wenden kann, wenn ich nicht mehr weiterweiß.

„Egal", holt Kalle mich wieder zurück aus meinen Gedanken in die Wirklichkeit, „wir kommen von Thema ab. Erzähle mir lieber von Jenny. So heißt sie doch, oder?"

„Ja, Jenny", sage ich und bin froh, dass Kalle mich nur hören und nicht sehen kann, denn ich merke, wie ich bescheuert grinsen muss. „Sie hat ziemlich viel Energie. Sogar noch mehr als Artemis, wenn das überhaupt geht." Ich halte einen Moment inne, schließe die Augen und lasse den Tag Revue passieren. Jenny hat mich glücklich gemacht. „Sie ist selbstbewusst und unabhängig und vielleicht komme ich deshalb so gut mit ihr klar."

„Du magst sie also", stellt Kalle fest. „Ja, das tue ich. Aber ich weiß nicht, ob nur auf freundschaftlicher Ebene oder ob da noch mehr ist." Mit meiner früheren Freundin Lyria war alles viel einfacher. Uns war beiden von Anfang an klar, dass es zwischen uns funkt. Ohne große Umschweife hatten wir unseren ersten Kuss und eine oberflächliche Beziehung, da es sowohl von Lyria als auch mir die erste war. Wir wussten noch nicht einmal, was Liebe überhaupt ist und vielleicht habe ich immer noch nicht das Rätsel um das beste und schönste Gefühl der Welt gelöst.

„Küsse sie doch einfach, dann weißt du's."
„Ich kann sie doch nicht einfach küssen!" Wenn Kalle neben mir sitzen würde, hätte ich mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Kissen mach ihm geschmissen. „Ich meine das Ernst, Elena. An meiner alten Schule hat das ein Kumpel von mir gemacht und es hat funktioniert." Amüsiert schüttle ich den Kopf. Kalle und seine verrückten Geschichten. „Aber wir sind hier in Amerika und nicht in Norwegen. Hier kommen die Leute nicht auf so durchgeknallte Ideen und außerdem möchte ich Jenny nicht vertreiben", sage ich fast schon verzweifelt.

Kalle stöhnt leise in sein Handy. „Dann sag ihr, dass es nur freundschaftliches Rummachen ist."

„Das funktioniert vielleicht bei dir und Merlin, aber ich bin nicht so der Typ dafür." Jetzt bin ich endgültig am verzweifeln. Ich wünschte ich hätte Kalles Gelassenheit, Merlins Talente im Flirten und Artemis' Selbstbewusstsein.

„Okay, hör mir zu", fängt Kalle an, mir einen neuen Ratschlag zu geben, „atme einmal tief ein und wieder aus und überlege, ob du dir etwas mit ihr vorstellen kannst." Ich befolge seinen Ratschlag. Jenny ist mir sympathisch. Bei ihr fühle ich mich wohl und gleichzeitig macht sie mich wahnsinnig nervös. Ich kann bei ihr so sein, wie ich bin und solche Menschen sind eine Seltenheit. „Ich denke schon", antworte ich zögerlich. „Dann versuch's doch einfach mit ihr", sagt Kalle und er wirkt fröhlich und munter, obwohl es schon ziemlich spät in der Nacht ist. Ich muss mit ein Gähnen unterdrücken, verabschiede mich von Kalle und lege mich schlafen.

und mittendrin sind wirWhere stories live. Discover now