Kapitel 8

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Der Wind sorgt dafür, dass sich einige Strähnen aus meinen Pferdeschwanz lösen und meine Augen leicht anfangen zu tränen. Dennoch ist der Sturm nicht mehr ganz so stark wie heute früh. Auch Jennys Locken sitzen nicht mehr perfekt. Aber selbst in einem Kartoffelsack würde sie bestimmt eine gute Figur abgeben. Jenny ist groß für ihr Alter, hat lange, schöne Beine und ein hübsches Gesicht. Sommersprossen verzieren ihre etwas längere Nase und ihre grünen Augen haben dieses ganz bestimmte Glitzern, das einen Menschen sympathisch wirken lässt.

„Was hast du heute noch vor?", fragte Jenny mich ganz nebenbei, während wir über den leeren Parkplatz laufen. Es ist früher Abend und die meisten Schüler sind mittlerweile wieder zu Hause. „Eigentlich wollte ich noch zu Merlin", sage ich und werde einen Blick nach hinten, wo Merlin und Freya Hand in Hand gehen und sich verliebt in die Augen schauen, „Aber ich glaube, er ist heute anderweitig beschäftig."

Jenny grinst und zieht prüfend eine Augenbraue hoch. „Oh nein." Ich schüttle wild den Kopf und noch mehr Haare lösen sich aus meinen Zopf. „Hör auf. Ich bekomme noch Kopfkino."

„Tja..." Sie schenkt mir einen gespielt bemitleidenden Blick und bleibt dann vor einem Tesla stehen. „Deine Familie muss ja echt reich sein", spreche ich meinen Gedanken laut aus. Neben einem Tesla kann ich mit meinem klapprigen, fast antiken Fahrrad wirklich nicht mithalten.

Jenny zuckt gleichgültig mit den Schultern. „Meine Mom ist halt ein hohes Tier in der Politik." Sie verdreht ihre Augen. „Ich habe und bekomme quasi alles. Glaub mir, das ist manchmal echt nervig. Ich möchte selbstständig leben und nicht auf Knopfdruck alle Wünsche erfüllt bekommen. Aber oh, ich vergesse- ich bin weiblich und noch dazu nicht hetero. Wie kann so ein Mensch schon selbstständig leben und etwas zustande bringen?" Jennys Stimme nimmt einen verbitterten Tonfall an und die Hand, in der sich der Autoschlüssel befindet, ballt sich zu einer Faust.

Vorsichtig mache ich einen Schritt auf sie zu. Ich habe keine Ahnung, woher ich den Mut nehme, aber ich umarme sie. Jenny legt den Kopf auf meine Schulter ab und ihre Hände umklammern meinen Rücken. Sie atmet schnell und als sie ein leises „Danke" murmelt, zittert ihre Stimme.

„Alles wird gut", sage ich und fahre mit einer Hand durch Jennys dichte Locken. Sie sind unfassbar weich. „Das Leben ist nicht immer einfach, ich weiß. Aber irgendwo, irgendwo da mittendrin sind auch noch wir. Wir, die nicht aufgeben, sondern versuchen unser bestmögliches Leben zu leben. Jenny, du bist unfassbar hübsch und selbstbewusst. Du kannst alles schaffen. Ganz sicher."

Jenny schweigt, aber ich merke, dass ihr Schulterblatt bebt. Als sie dann auch noch aufschluchzt wird meine Vermutung bestärkt. Jenny weint. „Das hört sich alles so einfach an, aber wie? Wie, Elena? Die Menschen sehen nur das, was sie sehen wollen und für meine Eltern bin ich das schwache und zerbrechliche Mädchen, das sie beschützen müssen."

„Du bist nicht schwach oder zerbrechlich", sage ich sanft, „Du bist unfassbar stark. Du erlaubst deinen Gefühle vor einer fast fremden Person auszubrechen. Ich kann das nicht. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass deine Eltern dich sehr gerne haben. Auch wenn sie das nicht oft zeigen mögen."

Jenny löst sich wie auf Knopfdruck aus der Umarmung. „Natürlich. Und ich bin eine Nachfahrin von der Queen", faucht sie und starrt auf den Schotterboden.

Unsicher trete ich einen Schritt näher an sie heran. „Jenny, es tut mir wirklich leid, wenn ich gerade etwas falsches gesagt habe. Es ist bloß so.." Ich weiß nicht, wohin mit meinen Händen. Aus irgendeinen unerklärlichen Grund macht Jenny mich nervös. „Ich wollte dir nur helfen." Jetzt starre auch ich auf den langweiligen, grauen Schotter. Einmal habe ich hier auf den Parkplatz einen Dollar gefunden. Ich weiß noch, wie sehr ich mich darüber gefreut hatte.

Jenny faßt sich an die Schläfe und fährt dann durch ihre Haarpracht. „Ich weiß. Das Ding ist bloß, dass alle so etwas in die Richtung zu mir sagen. Du kannst gerne mit zu mir kommen und dir selbst ein Bild von meinen Eltern machen."

Ich nicke. „Klar, gerne. Und so schlimm werden sie ja wohl nicht sein."
„Du kennst sie nicht", kontert Jenny. „Auch wieder wahr."

Jenny sperrt das Auto auf, wir werfen unser Schulzeug achtlos in den Kofferraum und setzten uns dann auf die edlen Ledersitze. Sanft setzt sich das Auto in Bewegung und ich schließe meine Augen und atme tief ein. „Elena?"

„Hm?", gebe ich von mir und lasse meine Augen weiterhin geschlossen. „Ich wollte mich noch bedanken. Dafür, dass du da warst. Obwohl wir und ja kaum kennen."
Ich lächle. „Du musst dich dafür nicht bedanken. Es sollte selbstverständlich sein, anderen zu helfen."

und mittendrin sind wirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt