𝚑ö𝚕𝚕𝚎𝚗𝚏𝚎𝚞𝚎𝚛𝚝𝚎𝚞𝚏𝚎𝚕

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𝚔𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 𝟾: 𝚑ö𝚕𝚕𝚎𝚗𝚏𝚎𝚞𝚎𝚛𝚝𝚎𝚞𝚏𝚎𝚕




𝐃𝐈𝐄 𝐙𝐄𝐈𝐓 𝐀𝐋𝐒 𝐈𝐃𝐄𝐄 𝐄𝐍𝐓𝐒𝐓𝐀𝐍𝐃 entstand vor schätzungsweise sechshundert Jahren und diente als Wecker für Mönche.
Sie war eine praktische Erfindung, um das Voranschreiten des Tages zu bewerten.
In Hawkins schien die Maßeinheit nicht ganz aufzugehen, denn es verging beinahe eine Ewigkeit, in der der Junge und ich still nebeneinanderher weinten.

Vielleicht mochte erst eine halbe Stunde vorangeschritten sein, für mich fühlte es sich jedoch wie ein halbes Leben an.
Weinen war anstrengend und es machte einen so verdammt müde.
Ich schätze es verging ungefähr eine weitere Stunde, als meine Tränen endlich begannen zu versiegen.
Mein Wehklagen hörte aber eine ganze Weile länger nicht auf.
Die einst zarte Haut meiner Wangen fühlte sich mittlerweile rau an und brannte fürchterlich.
Auch der Junge neben mir sah erschöpft aus, trotzdem traute sich keiner ein Wort zu sagen.

Im stillen Einverständnis trauerten wir um das was wir verloren hatten.
Weil mein Kopf immer schwerer geworden war, hatte ich ihn mit der Zeit auf meine Arme gebettet und sah nun mit trägen Augen auf den Picknicktisch.
Neben leeren Bierdosen fanden sich dort noch Zigarettenstummel und ein Paar abgewetzte Stifte wieder.
Während ich mit meinen Fingerspitzen die wettergegerbten Maserungen im Holz nachfuhr, begann ich leise „The Final Countdown" von Europe zu summen.
Ich brachte zwar eher eine Abfolge von melodischen Lauten heraus, als, dass ich wirklich sang, dennoch verließen die bedeutsamen Zeilen meine spröden Lippen.

​⏯​ We're leavin' together but still it's farewell.

Lüge. Eine verdammte Lüge.
Ich war weder mit Eddie zusammen gewesen, als er diese Erde verließ, noch hatte ich ihm Lebewohl sagen können.
Nicht in den Momenten seines tapferen Todes und auch nicht als er mit zehn Jahren nachts aus dem Haus seines Vaters in einen rostigen Van gezerrt und weggefahren wurde.
Immerwährend in Gedanken an die Zeit, in der meine größte Sorge zu wenig Taschengeld oder zu schlechtes Wetter gewesen war, griff ich nach einem Kugelschreiber und begann auf den Tisch zu kritzeln.

Die Vielzahl an Unterschriften, vulgären Zeichnungen und nicht zuletzt die eingeritzten Worte des Jungen hatten den Tisch bereits so in Mitleidenschaft gezogen, dass es auf die paar Striche nun auch nicht mehr ankam.
Früher hätte ich mich vielleicht als talentiert bezeichnet, aber seitdem Eddie gegangen war, war ich dem Zeichnen nicht mehr nachgegangen.
Wie so vielem nicht mehr.
Mein Leben hatte ab dem Zeitpunkt seines Verschwindens nur noch aus dem Lernen bestanden.
Ich wurde zu der Perfektionistin, die meine Mutter in mir sah und da der wichtigste Mensch – abgesehen von meiner Mutter - nicht mehr da war, setzte ich alles daran nun sie glücklich zu machen.

In unserer Kindheit hatte Eddie mir ständig neue Ideen aufgetragen, die ich zu malen hatte.
Als Hommage daran zeichnete ich den mit Hörnern besetzten Teufel, den ich so oft aufs Papier hatte bringen müssen.
»Hey!«, meldete sich der gelockte Junge plötzlich zu Wort als er mein Gekritzel bemerkte und im gleichen Atemzug sprang er auf und gestikulierte wild mit seinen Armen.
»Woher kennst du das Motiv?«, fragte er aufgeregt. »Sag mir nicht, dass du eine Spionin bist? Wir hatten damit letztens Jahr echt genug zu tun.«

Verwirrt kniff ich die Augen zusammen und verdeutlichte ihm so, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, wovon er da eigentlich sprach.
Dann richtete ich mich auf und streckte meine müden Glieder. „Das ist der Höllenfeuer-Teufel.«
Bei der Erinnerung musste ich zärtlich lächeln.
»Eddie hat ihn erfunden und ich durfte ihn skizzieren.«
Sachte lachte ich bei der flüchtigen Erinnerung auf.
»Ich glaube er war da neun und ich gerade einmal sieben. Meine Mutter hat fast einen Herzinfarkt bekommen, als sie die ganzen Blätter mit einem getuschten Teufel sah. Ich glaube ich war noch nie so nah daran, einen Kinderpsychologen ins Haus geschickt zu bekommen.«

»Das...«, er verstummte. Dann schüttelte er ungläubig seinen Kopf und fuhr fort.
»Das glaube ich echt nicht.«
In einer weiteren ausladenden Bewegung zog er sein gemustertes Hemd auseinander und offenbarte darunter ein T-Shirt mit dem Hellfire-Teufel.
Ich spürte, dass mein Mund offen stehen musste, denn innerhalb kürzester Zeit verursachte die stickige Luft ein unangenehmes Gefühl in meinem Rachen.
»Ich..ich verstehe nicht.«
»Das ist unser Logo! Eddie hat einen DnD-Club gegründet und der Teufel ist unser Maskottchen. Er hat es zwar nicht so genannt, würde er nie. Aber wir laufen alle mit den Shirts rum. Also passt es irgendwie doch. Oh du weißt wahrscheinlich gar nicht was DnD ist. Das ist ein -«

Abermals auflachend stoppte ich seinen Redefluss durch meine ausgestreckte Hand.
»Ich kann es zwar nicht spielen, aber ich weiß schon was das ist. Ich lebe schließlich nicht hinter dem Mond.«
Erleichtert bemerkte ich, wie mein zuvor schmerzhaft zusammengezogenes Herz langsam dabei war sich zu entspannen.
Dieses kleine Gespräch bedeutete mir die Welt.
Es lenkte mich für einen kostbar flüchtigen Augenblick von dem Schmerz ab, der mir Eddies Tod bereitete.
Unser Geplänkel wurde abrupt gestört, als einige schwere Regentropfen auf meine nackten Schultern fielen.

𝐃𝐈𝐄 𝐏𝐋Ö𝐓𝐙𝐋𝐈𝐂𝐇𝐄 𝐍Ä𝐒𝐒𝐄 bewirkten eine sofortige Gänsehaut auf meinen Armen und Beinen, seufzend sah ich gen Himmel.
»Hey, du weißt nicht zufällig, wo die Spenden verteilt werden?«, fragte ich.
Vielleicht könnte ich bei Robin und Steve etwas Zuflucht finden, zumindest solange es regnete.
Was ich danach tun würde, wusste ich nicht. Alles was ich wissen musste, war mir qualvoll auf einem Silbertablett serviert worden.
Eigentlich hielt mich nichts mehr in dieser verfluchten Stadt.
»Doch, klar. Hier in der Schule. Du befindest dich schon auf dem Gelände. Soll ich es dir zeigen?«

Ich nickte zustimmend. »Das wäre wirklich nett von dir.«
Der Junge hatte eine seltsam gute Ausdauer für mein Empfinden, ich hatte kaum mithalten können. Vielleicht lag es auch einfach nur daran, dass ich so klein war und viele Schritte machen musste, um überhaupt voranzukommen.
Wenige Minuten später standen wir vor der massiven Eingangstür der örtlichen Highschool.
Eigentlich war ich ziemlich froh darüber gewesen, meinen Abschluss bereits in der Tasche zu haben und das Betreten einer Schule war nicht das was ich mir vom Leben momentan erwünschte.
Trotzdem stieß ich meinen Körper gegen die rechte Tür und öffnete sie.

Mein Blick glitt sofort über die Masse an Menschen, die entweder reihenweise auf Nahrung und Kleidung warteten, oder dabei halfen genau diese zu verteilen.
»Wo sind sie nur.«, murmelte ich suchend.
Die große Menge an Menschen erschwerten mir die Suche nach einem der beiden. Aber sie mussten hier sein.
Sonst hätte der Junge mir sicherlich weitere mögliche Orte genannt, an denen Spenden verteilt worden.
»Oh, da. Robin!«, rief ich und eilte in ihre Richtung.
Der Junge folgte mir gehetzt und als er Steve und Robin erkannte, bestückte seine kindlichen Lippen ein großes Lächeln.
»Steve!«, brüllte er strahlend.

»Henderson!«, antworte ihm dieser nicht minder euphorisch.
»Bekah?«, fragte er dann offensichtlich verdutzt und wechselte seinen Blick zwischen mir und dem Jungen hin und her.
»Du hast Dustin kennengelernt?«
Überrascht drehte ich mich zu meiner neuen Bekanntschaft.
»Du bist Dustin?«, fragte ich ihn.
Unwissentlich hatte ich ein weiteres Puzzlestück in einer Welt aus Rätseln erhalten.
Dustin, der Dustin, der Eddie's letzte Minuten erlebt hatte. Der ihm beigestanden war.
Dustin war...noch ein Kind?

𝐖𝐎 𝐃𝐀𝐒 𝐆𝐄𝐒𝐓𝐄𝐑𝐍 𝐍𝐈𝐂𝐇𝐓 𝐌𝐄𝐇𝐑 𝐒𝐄𝐈𝐍 𝐊𝐀𝐍𝐍【𝚔𝚊𝚜】Where stories live. Discover now