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16.11.2027, Nachmittags

Der Nieselvorhang legte sich über Stadt und Dorf. Es war spät im Jahr, die Sonne bald verschwunden, obwohl sie kaum welche ihrer wärmenden Strahlen verschicken hatte können. Der Herbst zog ins Land und wurde zum Winter.

Arne Tiller dachte an einen genauso verregneten Tag zurück, den er wohl nicht so bald vergessen würde. Fünf Jahre war es nun her, dass er den alten Henry Schneider zuletzt gesehen hatte. Nun war er auf dem Weg, seinen Anwalt zu sehen und die restlichen, rechtlichen Dinge zu erledigen, nachdem der Senior für tot erklärt worden war.

Solche Besuche waren für seine Tätigkeit nicht unüblich. Arne hatte sich für diesen Beruf entschieden, und es gehörte nun mal dazu, dass er gelegentlich auch nach dem Ableben seiner Patienten mit ihnen zu tun hatte. Manchmal besuchte er Beerdigungen oder fertigte Abschlussberichte an, oder erklärte, wie er den Verstorbenen zuletzt lebend erblickt hatte.

Doch gab es etwas, das diesen Fall von so vielen anderen unterschied. Henry Schneider war am 12. November 2022 verschwunden und seitdem von niemandem lebend gesehen worden. Vor vier Tagen hatte man ihn, nach Verstreichen der juristisch dafür notwendigen fünf Jahre, schließlich für tot erklärt.

Arne hatte diesen Prozess als Zeuge, als der, der den alten Mann zuletzt getroffen hatte, begleitet. Gleichzeitig jedoch war es immer auch ein persönliches Anliegen gewesen, denn der Greis hatte keine Familie, die sich um ihn kümmerte. Er musste zugeben, dass er den Alten ins Herz geschlossen hatte. 

Der nun zweifache Familienvater war trotzdem etwas überrascht gewesen, da der Anwalt meinte, dass seine Anwesenheit gefordert war. Er hoffte, mit diesem Besuch alles geklärt zu haben und auch selbst mit diesem ungewöhnlichen alten Herrn abschließen zu können.

Nein, nicht nur sein – mutmaßlicher – Tod machte Henry für Arne zu etwas Besonderem. Der Mann mit dem schütteren Haar plauderte für gewöhnlich gerne mit seinem Pfleger und schien sowohl im Geist als auch in körperlich fit zu sein. Er zeigte Interesse für den jüngeren Mann und blühte regelrecht auf, sobald sie miteinander scherzten.

Nun, sie hatten miteinander gescherzt. Er seufzte.

Ihm war klar, dass nur ein trauriges Schicksal diesen alten Mann geformt haben konnte. Deswegen war es umso tragischer, dass es so geendet hatte. Ohne Verabschiedung, sogar im Streit.

Kurze Zeit später stand er in einem stickigen Arbeitszimmer, dessen Stirnseite voller Regale mit herausquellenden Aktenordnern gestopft war. Der überforderte Anwaltsgehilfe deutete ihm, kurz zu warten, schließlich wurde er in einen minimaler ordentlicheren Raum geführt. Es roch nach Schweiß und schwerem Herren-Parfüm. 

Herr Adams hatte kaum Zeit für ihn. Er erklärte knapp, dass Henry ihm etwas hinterlassen hatte, jedoch alles in einem versiegelten Umschlag stand, den nur Arne persönlich öffnen durfte.

Der braunhaarige Mann hob eine Augenbraue. Das war, nun, nicht wirklich das, was er normalerweise nach dem Tod seiner Patienten tat. Aber für alles gab es ein erstes Mal, oder nicht?

Um dem vielbeschäftigten Anwalt nicht noch mehr die Nerven zu strapazieren, brach Arne das rote Wachs und zog zwei kleinere Briefe aus dem Kuvert heraus. Einer war an ihn, der andere an Herrn Adams adressiert.

Der Sozialarbeiter wollte den DIN-A4-Umschlag schon zur Seite legen, da fiel ihm auf, dass sich in diesem noch etwas befand: ein Schlüssel. Das Schildchen daran verriet, dass dieser ebenfalls für ihn selbst war.

Unbewusst grinsend schüttelte er den Kopf. Arne erwartete eine Erklärung von seinem lieben, alten Kauz, die sich gewaschen hatte. Was sollte  dieser Aufwand? Er nahm den Brief an sich und öffnete ihn ebenfalls.

In diesem befand sich lediglich ein gewöhnliches Briefpapier, jedoch von oben bis unten dicht beschriebenen mit einer, für einen alten Mann sehr ordentlichen, Schönschrift wie gedruckt.

Lieber Arne,

wenn Du das hier liest, bin ich vermutlich tot. Verzeih mir, sollte ich Dir das Du noch nicht angeboten haben, dann mache ich das nun, posthum. Kein Herr Schneider mehr, nur noch Henry.

Ich muss zugeben, als mir damals erzählt wurde, dass mir nun ein Sozialarbeiter helfen würde, weil mir nicht zugetraut wurde, allein zurechtzukommen, war ich ziemlich ungehalten. Verzeih mir bitte, sollte ich zunächst unhöflich gewesen sein– Mumpitz, natürlich war ich das. Es tut mir sehr leid, dass ich all meine Wut an Dir ausgelassen habe.

Nach einiger Zeit dann habe ich mich an Dich gewöhnt– das hast Du wohlmöglich ebenfalls bemerkt – und ich habe mich immer auf Dich gefreut. Du warst so freundlich zu mir, hast von Deiner Freundin erzählt, die dann Deine Ehefrau wurde, schließlich von der süßen Rosalie.

Mein lieber Arne, wie Du weißt, habe ich keine weitere Familie. Auch keine nahen Freunde. Ich habe mir immer eine Frau, Kinder gewünscht– aber ach, ich will Dich nicht mit den Sorgen eines alten Mannes belasten. Du warst das, was einer Familie am nächsten kam, ja, in all den Jahren, meinem ganzen Leben. Ich vermute, das habe ich Dir noch nicht so offen gestanden. Selbst jetzt zittert mein Füllfederhalter ein wenig. Ich hoffe, Du bist mir nicht böse ob dieser Gefühle. Allerdings bin ich wohlmöglich tot, was also sollte mich noch aufhalten?

Ja, wenn Du dieses Gekrakel entzifferst, bin ich fortgegangen. Drück Deine kleine Tochter und liebe Frau von mir, auch wenn ich sie niemals persönlich kennengelernt habe.

Der Grund, mein lieber Arne, warum ich Dir all diese Zeilen schreibe, ist, dass ich Dir mein Erbe vermache. Es ist weitaus größer als Du Dir es vielleicht vorgestellt hast, doch dieser Mann hier hatte unwahrscheinliches Glück in seinem Leben. Der ein oder andere Lottogewinn und darüber hinaus war ich dem lieben Gott wohl anständig in Erinnerung geblieben... Nimm, es ist nun Deins.

Ich weiß, dass Du das Geld gut verwalten kannst; sollte es Dir zu viel sein, dann gib meinem Anwalt Bescheid. In einem zweiten Umschlag habe ich genau beschrieben, welchen Organisationen ich es in diesem Fall vermachen möchte.

Sei Dir nicht zu schade, selbst einen Teil zu nehmen. Ich kenne Dich, mein lieber Junge, Du bist genügsamer und bescheidener als ich es jemals war. Es ist mir auf beide Weisen recht, entscheide Du, lieber Arne.

Wenn Du zwei Absätze weiter nach oben blickst, siehst Du, was der Grund meines Reichtums ist. Das ist die offizielle Geschichte, und solltest Du mir die echte nicht glauben, dann gilt sie auch für Dich. Der wahre Grund für all das hier ist weitaus komplizierter; ich habe sie mit noch niemanden so detailgetreu geteilt.

Keine Sorge, lieber Arne, ich bin in keine illegalen Machenschaften verwickelt. Das verspreche ich Dir bei dem Grab meiner Mutter.

Wende nun dieses Papier. Beigelegt ist ein Schlüssel zu meinem Arbeitszimmer. Solltest Du mir nicht glauben, versichere Dich dort meiner wahren Worte. Wenn Du dies getan hast, vernichte bitte sowohl diesen Brief als auch mein gesamtes Arbeitszimmer. Äußerst wichtig sind die Festplatten der Computer. Wie genau, findest Du Anweisungen dort.

Ich hoffe sehnlichst, mein Lieber, dass Dich diese Worte nicht allzu verschreckt haben. Seit Kindestagen hüte ich mein Geheimnis und Du bist nun erst der zweite, der davon erfährt.

Vielleicht tröstet Dich dieses Wissen, denn ich bin nun nicht mehr da. Aber ich bin jetzt dort, wo es mir besser geht als bei euch. Dessen bin ich mir sicher.

Dein Henry

Was ich gesehen hätteWhere stories live. Discover now