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November 2022, Vormittag

Staub verfing sich in den sanften Strahlen der Herbstsonne, die über die weißen Seiten der aufgeschlagenen Zeitung huschten. Über diese beugte sich ein Herr mit schütterem Haar, trotz seiner Lesebrille auf der Nase hatte er die Augen zusammengekniffen. Eine Wolke schob sich vor den fernen Stern und verdüsterte ihn. Sorgsam las der Senior sich den Bericht über das örtliche Krankenhaus durch, während er, ohne hinzusehen, seinen Tee umrührte.

Der alte Mann seufzte auf, schüttelte den Kopf und blätterte um. Mit faltigen Fingern fasste er die Tasse und nippte vorsichtig an dem heißen Getränk. Es war wirklich noch sehr heiß, er pustete vorsichtig, um den Tee abzukühlen.

Dann wandte er sich wieder dem Lokalblatt zu. Henry überflog die Überschriften. Fußball, Basketball, ein neuer Kinofilm – nichts davon spannend. Er lehnte sich kurz in seinen Ledersessel zurück, um noch einen Schluck zu trinken. Erneut wendete er das Papier.

Plötzlich fing der alte Mann an zu husten, und hätte er sein Getränk nicht weggestellt, hätte er es prustend quer über seinen Esstisch verteilt. Potzblitz!

„Besorgte Anwohner in der Schmiedgasse", flüsterte er vor sich hin. Er schüttelte den Kopf und las die Schlagzeile erneut. Das konnte doch nicht sein!

Henry konzentrierte sich auf den Text. Anscheinend hatten einige Nachbarn in letzter Zeit äußerst merkwürdige Dinge gesehen, nämlich einen Laden, der gar nicht existierte. Die Nummer 9 fehlte seit dem Krieg, besagtes Haus war zerbombt worden, doch es wurde nicht wiederaufgebaut; weder im letzten Jahrhundert noch in diesem. Die Besitzer des Grundstücks hatten kein Interesse daran, die Baulücke in der Innenstadt – beste Lage, nah am Markt gelegen – zu schließen.

Aber dass diese Leute ausgerechnet in der Schmiedegasse etwas Seltsames entdeckt hatten... Henry schüttelte den Kopf. Zufälle gab es. Er nahm noch einmal einen Schluck von seinem Tee, diesmal zur Beruhigung. Ein Zufall, purer Zufall.

Ob er den verängstigten Berichten außerdem überhaupt Glauben schenken sollte? Der alte Mann grübelte. Menschen redeten viel, wenn der Tag lang war. Sehr viel. Sicherlich waren es nur junge Leute, die den Nachbarn einen gehörigen Schrecken eingejagt hatten; ja, so musste es sein.

Er lächelte, zufrieden, eine Lösung gefunden zu haben.

Doch dann zerstörte die unvermeidliche Wahrheit sein sorgsam aufgebautes Kartenhaus: Er würde dorthin gehen. Sehr bald. Und an diesen schrägen Augenzeugenaussagen war etwas dran.

Nein, Henry wollte nicht unbedingt zu diesem Ort. Er würde dorthin gehen, das wusste er. Dies wusste er wie die Ergebnisse der heutigen Sportpartien und den Ausgang der Parlamentswahl in Australien, wie das Wetter von morgen und wie das, was er heute Abend essen würde.

Der alte Mann hatte nicht nach diesem Wissen gefragt. Es tauchte auf, sobald er sich mit einer Thematik beschäftigte. Er musste nur einen Artikel über seinen Bürgermeister lesen und wüsste, was dieser (zum Beispiel in Sachen undichte Turnhalle) tun würde. (Nichts, in jenem Fall.)

Oder wenn er sich ein Sportereignis ansah: Kaum hatte er eingeschaltet, wusste er, wer gewinnen würde. Deswegen fand er all dies unsäglich langweilig, genauso wie Romane, denn wer wollte auch gerne auf der ersten Seite wissen, dass besagte Person sterben würde?

Henry seufzte. Er würde also in die Kreisstadt fahren und diesen Erzählungen auf den Grund gehen – mehr oder weniger widerwillig. Denn dieser Straßenname erinnerte ihn an etwas, was vor langer Zeit geschehen war...

Auf einmal klingelte die Hausglocke.

„Guten Morgen, Herr Schneider!", tönte es von draußen. „Lassen Sie mich herein, sobald Sie Ihre Maske aufgesetzt haben, ja? Ich habe Ihre Einkäufe dabei!"

Was ich gesehen hätteWhere stories live. Discover now