IV

20 10 5
                                    

Es war noch immer dunkel, als Henry sich wieder auf den Weg machte. Die Nacht hatte er auf der Baustelle verbracht, eingeengt im Bauwagen, ohne Decke oder Matratze. Aber es hatte Vorräte gegeben, und das war die Hauptsache.

Der alte Mann war kurz darauf eingeschlafen, zu erschöpft von all der Aufregung und dem Stress, kaputt von seinem Irrweg durch verlassene Häuser. Allerdings: Lange hatte er es nicht ausgehalten. Wo war Henry hier? Was sollte das alles? Nicht einmal die Sterne erschienen.

Es erschien ihm zur unsicher, als dass man entspannt schlafen konnte. So war er bald wieder aufgewacht. Die Sonne war noch nicht wieder aufgegangen, die Arbeiter noch nicht wieder zurück und er immer noch allein.

Mit neuen Kräften schob er seinen Rollator in Richtung der Lichter, die ihm bereits gestern aufgefallen waren. Je näher er kam, desto klarer wurde ihm, dass er sich direkt vor einer hell erleuchteten, riesigen Stadt befand.

Der Lärm der vielen Motoren brummte in seinen Ohren und immer wieder blitzten grelle Lichtfontänen auf. Es war unglaublich. Gewaltiger als jeder Berg, heller als jede Sonne, vielschichtiger als jeder noch so hohe Torte.

Henry bezweifelte, dass er zu so etwas noch Stadt sagen durfte. Die Mega-City erstreckte sich über den gesamten Himmel, und Wolkenkratzer waren die Regel, einstöckige Häuser die Ausnahme. Merkwürdige Fahrzeuge schwirrten durch die Luft und landeten auf Balkonen, manchmal auch Dächern.

Der alte Mann ließ die leeren Grundstücke langsam aber sicher hinter sich. Er befand sich nun im Übergangsbereich zwischen Stadt und Land, wenngleich hier, in dieser seltsamen, maßlosen Metropole, überhaupt kein solcher stattfand.

Neben einem in Brache liegendem Feld schraubte sich ein Hochhaus mit pflanzenüberwucherter Glasfassade in die Höhe, gegenüber wirkte ein farbenprächtiges, mit blinkenden Reklameschildern ausgestattetes Haus von nur fünf Stockwerken beinahe mickrig. Die Neonröhren strahlten stechend, er konnte nicht erkennen, was sie bewarben.

Menschen sah er. Ja, endlich, Menschen!

Massen davon irrten zwischen den Blocks hin und her, wie ein Ameisenvolk bevölkerten sie die riesigen, kalt erscheinenden Bauten. Nach seiner Odyssee war Henry mehr als erleichtert, doch nicht der einzige hier zu sein- wo auch immer dieses hier war.

Er verstand langsam, dass Autos hier die Ausnahme waren. Wie er liefen die meisten Einwohner auf der Straße, welche eher ein Gehweg sein zu schien. Sie eilten wenig gesprächig von einer Seite zur anderen und würdigten ihn kaum eines Blickes. Wenn, dann mit solchen, die Verachtung ausdrückten.

Das war Henry jedoch gewohnt. Zuhause in seiner Stadt hatte sein Ruf im Laufe der Jahre sehr gelitten, sodass er kaum noch mit seinen Nachbarn sprach. Der alte Mann ignorierte folglich die neugierigen und abfälligen Städter und bahnte sich mit seinem Rollator einen Weg durch die Meere an geschäftigen Personen.

Je weiter er ging, desto mehr Menschen kamen auf ihn zu. Er beobachtete sie, um herauszufinden, wo auf dieser Welt er sich befand. Denn sooft er auch seine Stimme im Kopf befragte, sie war immer noch verstummt. Das behagte dem alten Mann überhaupt nicht.

Er sah viele junge Menschen mit detaillierten Gesichtszüge und makelloser Haut, häufig verzogen zu einer Maske von Gleichgültigkeit. Auch wenn er darin kein Experte war, vermutete er, dass sowohl Männer als auch Frauen stark geschminkt waren. Teils sahen die Personen aus, als ob sie in einen Farbkasten gefallen wären.

Auch ihre Klamotten waren farbenfroh und vielseitig, manche leuchteten sogar wie die Fassaden der Häuser, die überall den Himmel begrenzten. Die Haare dieser Menschen bildeten da keine Ausnahme, von Silbergrau bis Feuerrot und deren Kombination gab es alles.

Was ich gesehen hätteWhere stories live. Discover now