7.Kapitel

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POV: Alicia

Gelangweilt starrte ich auf das Blatt, welches vor mir lag. Alle Zeilen waren mit einer ordentlichen, gleichmäßigen Schrift gefüllt. Ich war fertig und nun hatte ich noch eine halbe Stunde Zeit. Toll.
Der Lehrer hatte es mal wieder viel zu gut mit uns gemeint und die Arbeit mit Aufgaben gefüllt, die ich innerhalb einer Viertelstunde lösen konnte. Dem Anschein nach war ich leider die Einzige, die das so sah, denn der Rest der Klasse hing noch, mehr oder weniger konzentriert, über der Englischarbeit.

Ich hatte mein Geschriebenes schon mindestens fünf mal überflogen ohne einen Fehler zu entdecken und so blickte ich nun aus dem Fenster. Weiße Schneeflocken tanzten vor diesem umher und fielen langsam zu Boden. Alles was man sehen konnte war mit einer unberührten Schneeschicht überzogen und es sah schon fast magisch aus. Gedankenverloren blickte ich auf die Winterlandschaft.

»Alicia? Are you done?«, holte mich mein Lehrer irgendwann wieder ins Jetzt. Ich ignorierte ihn, wie sonst auch und er lief zu mir. Mich zum Reden zu bringen hatten bereits alle Lehrer aufgegeben und so musterte er nun einfach meine Arbeit.
Schließlich sagte er: »Well done«, und nahm die Arbeit mit sich.
Somit hatte er sich seine Frage selbst beantworten können.

Die Unterrichtsstunden bis zur Pause waren nicht viel spannender und so füllten sich meine Hefte mal wieder mit tausenden Kritzeleien. Sonderlich hübsch war davon keine, aber wenigstens nahmen sie mir etwas die Langweile.

Als es zur Pause gongte zog ich meinen Wintermantel an und machte mich auf den Weg nach draußen. Doch ich war noch nicht mal auf der Treppe, da hielt mich eine Lehrerin an der Schulter und sagte: »Joanna meinte, dass Emma gerne mit dir sprechen möchte. Wenn du der Bitte nachgehst, bist du von den restlichen Stunden befreit.« In ihrer Stimme hörte man Verwunderung über das, was sie selbst gesagt hatte, denn auch den Lehrern, die mich nicht unterrichteten, war bewusst, dass ich nicht sprach. Außerdem gab es auf unserem Internat seltenst Stundenausfall.
Als ich nicht antwortete, meinte sie: »Überleg's dir« Dann drehte sie sich um und ging.

Ich blieb stehen und überlegte, wie sie gesagt hatte:
Warum wollte Emma mich sprechen?
Doch sofort konnte ich mir die Frage selbst beantworten: Der Brief. Ich hatte ihn so gut aus meinen Gedanken gescheucht, dass ich ihn glatt vergessen hatte.

Sollte ich wirklich zu ihr? Wenn ja, was dann?
Ich grübelte und schließlich hatte ich einen Entschluss gefasst:
Ich würde zu ihr gehen. Denn auf vier langweilige Stunden Unterricht konnte ich dankend verzichten.

So machte ich mich nun auf den Weg in das Erdgeschoss, wo das Krankenabteil lag.
Dort ging ich durch eine Tür, die zum Krankentakt führte. Die Frau dahinter, hatte mich anscheinend erwartet und sagte: „Emma liegt im Zimmer 6."
Ohne darauf zu reagieren lief ich auf dieses zu, klopfte und ging rein.

Das Zimmer ähnelte sehr dem Zimmer im Krankenhaus, in dem ich ewig gewesen war. Eine Menge Erinnerungen überschwappten mein Gedächtnis. Nein. Nicht. Jetzt.
Mit Mühe verdrängte ich sie wieder. Darin wurde ich mit der Zeit immer besser, aber wie sagte man so schön: Übung machte nun mal  den Meister.

Ich richtete nun meinen ausdruckslosen Blick auf Emma. Sie wirkte blasser, als an dem Tag an dem ich sie das erste Mal gesehen hatte. Ihr Gesicht war verweint und ihr Blick war matt. Ein schwaches, sicher nur vorgespieltes Lächeln zierte ihre Lippen. Und ich merkte wie Mitgefühl in mir aufstieg. Der Tod geliebter Menschen war einfach schlimm und hinterließ Spuren...

Ich verdrängte meine Gefühle und lauschte Emmas schwacher Stimme: »Ich weiß, dass du weißt, dass du in dem Abschiedsbrief vorkamst.« Ihre Stimme zitterte und brach kurz ab. Dann erzählte sie weiter: »Du warst dabei als ich ihn gelesen haben und kennst somit den Inhalt.« Wieder machte sie eine Pause. Man merkte ihr an, dass ihr jedes Wort Unmengen an Kraft kostete. Erneut setzte sie an: »Was du wahrscheinlich aber nicht weißt, ist das mein Onkel keine Scherze machte. Das heißt, dass es wirklich wichtig ist.« Das letzte Wort verschwand fast komplett in einem Hustenanfall und Emma griff nach einem Glas.

Nachdem sie ein Schluck Wasser getrunken hatte, beendete sie ihr Reden mit: »Da ich nun nicht mehr lange hierbleiben kann, muss ich mich schnell auf die Suche machen... Ich würde mich sehr freuen, wenn du mitkommen würdest... Ich denke es hat was zu bedeuten, wenn mein Onkel dich extra erwähnt hat, aber... wenn du nicht möchtest, verstehe ich das natürlich auch.«

Emmas Blick war bittend, hoffnungsvoll und erschöpft zugleich. Irgendwo hatte ich das erwartet, aber ich hatte keine Ahnung wie ich mich entscheiden sollte. Obwohl... Eigentlich war es klar:
Ich kannte weder ihren Onkel noch sie richtig.
Außerdem hatte ich keine Ahnung was mich erwartete, Emma hatte nicht mal die Kraft dazu und ohne mich zu verständigen würde ich sicher nicht weiterkommen.
Auch hatte ich keinen Grund, weshalb ich es tun sollte.

Bestimmt tausend Gründe, die dagegen sprachen, sammelten sich in meinem Kopf an, doch auch Gedanken dafür:
Was diese Renée, von der die Rede war, uns wohl zu erklären hatte?
Hatte ich überhaupt etwas zu verlieren, würde ich mitkommen?
Ich könnte meinem langweiligem, schmerzvollem Trott entfliehen...
Und Emma müsste nicht alleine umher irren...

Ein paar Sekunden stand ich regungslos da. Total in Gedanken, und somit im Zwiespalt zwischen der Entscheidung, versunken. Dann drehte ich einfach um und lief aus dem Zimmer.

Ich musste mich schnell entscheiden, das stand außer Frage, aber diese Entscheidung konnte ich nicht zwischen Tür und Angel treffen.
Ich würde ihr meine Entscheidung mitteilen, sobald ich das Risiko und meine Vor- und Nachteile abgewogen hatte.

Ich lief in mein Zimmer, holte mein Tanzzeug und huschte unauffällig zur Turnhalle im Keller.
Die Gefahr gefunden zu werden, bestand nicht, da ja alle im Unterricht waren. Außerdem brauchte ich das gerade. Es half mir einfach.

Nachdem ich mich umgezogen hatte, zog ich meine Kopfhörer auf und ließ mich von der Musik mitreißen.
Die Laute, traurige und mit Schmerz gefüllte Musik war genau das, was ich brauchte.
Sie ließ mich alles ausblenden und zog mich in ihre
Welt.

Irgendwann, vielleicht eine Stunde später, hatte ich mich entschieden.

 𝗧𝘄𝗼 𝗚𝗶𝗿𝗹𝘀 - In search of the True Where stories live. Discover now