5.Kapitel

48 10 33
                                    

POV: Alicia

Winter. So lange hatte ich diesen Namen nicht mehr gehört und so sehr vermisste ich die Menschen, die so hießen. Als Emma ihn vorgelesen hat, hatte ich augenblicklich wieder den Unfall vor Augen und auch die darauffolgenden Tage. Es waren die letzten, in denen ich selbst noch so genannt wurde. Seit der Adoption hieß ich Parker. Alicia Parker.

Wie eine Flutwelle sind  die Erinnerungen in mir übergeschwappt. Und das erste Mal seit fünf Jahren hatte ich meine Gefühle nicht im Griff. Ich könnte mich deswegen verfluchen, doch das Wissen, dass niemand Emma es glauben würde, beruhigte mich. Alle würden denken, dass sie sich das bloß ausgedacht oder eingebildet hatte, wenn sie es überhaupt erwähnen würde. Denn schließlich hatte sie gerade andere Probleme, als allen von meinem „Mauerfall" zu erzählen.

Doch nicht nur Erinnerungen plagten mich, vor allem waren es Fragen. Fragen, die niemand beantworten konnte.
Denn wieso um alles in der Welt erwähnte mich jemand, den ich nebenbei bemerkt, nicht mal kannte,in seinem Abschiedsbrief?
Warum wusste dieser, zwar meinen richtigen Nachnamen, aber nicht meinen kompletten Vornamen?
War wirklich ich gemeint?
Was hatte es damit auf sich?
War dieser Brief ernst gemeint? Schließlich war er eher in Rätseln geschrieben...
Ich hätte noch weitere Fragen aufzählen können, doch es würde mir auch keine Antwort geben. Außerdem erklang in dem Moment die hysterische Stimme unserer Köchin.

»Hey? Hallo? Kindchen hörst du mich denn nicht? Ist alles ok? Oh nein, nein, nein... Hallo?«, schallte  ihre Stimme bis zu mir. Ich drehte mich um und erblickte Emma auf dem Boden liegen. Aus ihrem Gesicht war jegliche Farbe gewichen, ihre Lippen waren blau von der Kälte und sie rührte sich nicht. Und dann fragte man ernsthaft ob alles ok war?! Gedanklich schüttelte ich den Kopf über die ältere Dame.  Dann wand ich den Blick wieder zu Emma. Anscheinend war sie, nachdem ich gegangen war, zusammengebrochen.

Kurze Zeit später waren die Schulsanitäter gekommen, denn auch wenn die Köchin manchmal etwas schwer von Begriff war, wie man zum Telefon griff und Hilfe holte wusste sie.
Ich sah, wie Emma auf der Liege langsam zu sich kam und eins war klar: Dem Mädchen, welches gestern noch unbeschwert im Kunstunterricht  gelacht hatte, glich sie keinesfalls mehr.
Wie schnell Dinge sich ändern konnten...

Sie wurde in unser Krankenabteil gebracht, denn da unsere Schule sehr weit abseits lag und es zu lange dauern würde bis ein Krankenwagen kam, wurden die Schüler immer schon hier behandelt. Krankenwagen wurden nur in äußersten Notfällen bestellt und auch wenn es Emma sicherlich nicht gut ging, dazu gehörte sie nicht. Als die ganzen Leute aus meinem Sichtfeld verschwunden waren, lief ich in das Wäldchen  unseres Internats.

Ich stapfte durch den Schnee und lauschte den Geräuschen. Während ich so nachdachte empfand ich ein klitzekleines bisschen Mitgefühl mit Emma, doch dann kamen mir mit einem Schlag mehr Fragen:
Es war ihr Onkel der gestorben war... Wieso war sie dann so aus dem Häuschen?
Wieso war nicht ihre restliche Familie da um sie zu trösten?
Warum schrieb ihr Onkel ausgerechnet ihr einen Brief?
Wäre es nicht sinnvoller, hätte er es ihren Eltern geschrieben?

Ich verwarf die Gedanken, denn erstens wusste ich nicht wie eng ein Verhältnis zwischen Onkel und Nichte sein konnte und zweitens konnte ihre Familie längst auf dem Weg sein. Das war sie bestimmt. Denn wer würde seine Tochter in einer solchen Situation alleine lassen?
Ich dachte wieder an meine Familie und an die Zeit, die ich mir so zurück sehnte. Sie jedenfalls hätten mich nicht allein gelassen...
Gedankenverloren stapfte ich immer tiefer in den Wald und merkte gar nicht wie ich das Abendessen verpasste. Aber war ja auch egal, würde eh niemand merken.

Erst als ich nach und nach immer weniger sah, lief ich zurück. Ich schlich durch die Hintertür ins Internat und beeilte mich unauffällig in mein Zimmer zu gelangen. Meine zwei Zimmergenossinen hatten sich noch etwas über Emma,die dem Anschein nach einen Nervenzusammenbruch hatte, unterhalten und waren schließlich eingeschlafen.

Nachdem ich mich bettfertig gemacht hatte, hing ich, wie eigentlich immer, meinen Gedanken nach. Diesmal versuchte ich den Brief von Emmas Onkel zu verstehen.
Doch auch Stunden später war ich nicht auf einen grünen Nenner gekommen.
Letztendlich verbannte ich die Gedanken, zog mir meine Kopfhörer an und starrte die Decke an. Schlafen würde ich eh nicht können, da konnte ich ja auch Musik hören.

 𝗧𝘄𝗼 𝗚𝗶𝗿𝗹𝘀 - In search of the True Where stories live. Discover now