Kapitel 6

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Beim Hinaufsteigen der Treppen kamen mir die Worte der Lady Enees wieder in den Sinn. Jedes Mal, wenn ich jemanden aus dem Palast sah oder hörte wurde mir um Einiges klarer, dass dies alles reale Lebewesen waren und ich doch nicht von meinem Wahn kontrolliert wurde.

Der Wahn, der wohl gar nicht existierte.

Noch immer fiel es mir schwer, ihren Worten Glauben zu schenken. Nun war ich seit ungefähr zehn Tagen hier, führte ein Gespräch mit Lady Enees, traf den Zwerg einige kurze Male und hatte immer noch Schwierigkeiten, ihn mit seinem eigentlichen Namen Jahar anzusprechen und freundete mich etwas mit dem älteren Herren Lord Mullo an.

Bis jetzt sah ich ihn nur zwei Mal. Das eine Mal war bei meinem Ankommen und das andere Mal, als man mich dem Hof vorstellte. Irgendwie erwartete ich höchstens zehn bis fünfzehn Leute, doch als ich Dutzende von Leuten in dem großen Saal sah, raubte es mir echt den Atem.

Jeder hatte seinen eigenen Posten. Von der Wirtschaft bis zur Kultur gab es wirklich für so gut wie alles Minister. Ich konnte mir zwar keine Namen merken, doch erklärte mir Lord Mullo, dass die Leute im Palast mit einer grauen Tunika Teil des Inneren Hofes waren.

Der Äußere Hof soll wohl der sein, der für das Militär und dem "Kontakt" zu den anderen Reichen verantwortlich war. Die trugen eine hellrote Tunika mit einer schwarzen Kopfbedeckung, die wie eine recht altmodische Kappe aussah.

Angekommen an der braunen Holztür klopfte ich an. Eine Alva öffnete diese und verbeugte sich kurz vor mir. Ich schenkte ihr ein kleines Lächeln und setzte mich Lord Mullo gegenüber, der mich mit dem Senken seines Kopfes begrüßte.

Obwohl ich nun seit drei Tagen die Kleidung Valeras trug, konnte ich mich immer noch nicht an den Saum der Tunika gewöhnen. Mit dem weißen Band in der Mitte ähnelte es wenigstens etwas den Kleidern aus der "Menschenwelt".

Einen kurzen Moment später wurde die Tür wieder geöffnet. Mit zusammengezogen Augenbrauen sah ich zu Lord Mullo, doch dieser schenkte mir einfach nur ein Lächeln. Irgendwie hatte dieser alte Mann etwas Beruhigendes an sich. So, als wäre er der Kontrast zu Lady Enees.

Die Person stellte sich neben Lord Mullos Stuhl und war nun mir gegenüber. Somit konnte ich erkennen, dass es dieser eine Typ neben Aryn war. Ein weiteres Mal schafften es diese dunkelblauen Augen mich in den Bann zu ziehen.

»Ich danke Euch, dass Ihr Eure Zeit genommen habt und uns hier treffen konntet, Majestät«, fing Lord Mullo an zu sprechen. »Eure Sicherheit ist neben Eurer Gesundheit das Wichtigste für das Volk Valera. Doch wir haben viele Feinde. Viele wollen Euch im Nu tot haben. Deshalb haben Lady Enees und ich überlegt, wer diesen Posten am besten belegen könnte.«

Meine Augenbrauen waren zusammengezogen, deutliche Verwirrung zeigend. Meinte er etwa so etwas wie einen Bodyguard?

Er räusperte sich. »Noar ist unser bester Mann in der königlichen Wache. Seine Talente sind wie angeboren, ganz zu schweigen von den schon fast übernatürlichen Sinnen, die er besitzt. Wir sind der Meinung, dass er Euch seine Treue schwören und bis zum Ende seines Lebens Euch Sicherheit gewährleisten kann.«

Lord Mullo sah nun zu Noar, welcher aber mich anstarrte. Kein Augenblick später verbeugte er sich tief vor mir und legte seine rechte Hand auf die linke Brust.

»Ich, Noar, aus der königlichen Wache Valeras, schwöre Euch, Prinzessin Zara Alessa von Valera, die Treue und mein Leben.«

Mit diesen Worten richtete er sich wieder. Ich dafür schaute beide nur perplex an. Trotzdem entging mir nicht, wie er meinen Namen aus diesem Reich und meinen alten Namen nutzte. Ich lächelte Lord Mullo dankbar an. Er hatte meine kleine Bitte also doch nicht vergessen.

»Also wenn Ihr meint, dass er geeignet wäre, dann habe ich auch kein Problem damit. Danke für deinen Schwur... Noar.« er zuckte kaum sehbar, als ich seinen Namen erwähnte. Irgendetwas an ihm wirkte unnatürlich.

Doch darüber musste ich mir keine Gedanken machen. Er war der beste der Besten, meinte Lord Mullo.

»Nun habt Ihr aufzuholen, was das Leben in der Menschenwelt von Euch genommen hat. Wir müssen ganz von unten anfangen und Noar wird dafür zuständig sein«, meinte Lord Mullo auf einmal. Ich blinzelte nur einige Male, sichtlich verwirrt.

Aufholen?
***

Ich konnte nicht glauben, dass es nur einige Minuten brauchte, damit ich nach dem Schwur Noars hinter ihm auf einem Pferd saß und gleich die Kunst des Pfeil und Bogens lernen würde.

Was eine verrückte Welt.

»Glaubst du überhaupt, dass ich das hinbekomme?«, fragte ich endlich die Frage, die die ganze Zeit schon in meinem Kopf herum wirrte. Noch nie in meinem Leben hatte ich weder Pfeil noch Bogen in der Hand.

»Menschliche Erfahrungen heißt nicht gleich Mensch, Hoheit«, erwiderte er nur. Aha. Und was genau sollte das jetzt bedeuten?

Bevor ich ihm noch antworten konnte, zog etwas anderes meine Aufmerksamkeit auf sich. Ein geschossener Pfeil, der in einer Eiche steckte. Und dann ein zweiter, der geschossen wurde. Keine Sekunde später wurden es immer mehrere, die wie wild in alle Richtungen flogen.

»Haltet Euch fest!«

Keine Sekunde später wurden wir immer schneller und ritten durch den halben Wald. Ich tat was er sagte und wollte mich an seinem Gewand festhalten. Doch dann fiel mir auf, dass die königliche Wache eine Art Rüstung trug. Also blieb mir wohl nichts anderes übrig...

Seufzend umklammerte ich seine breite Mitte.

Als wäre das jetzt mein größtes Problem.

»Was genau wollen die von uns?«, fragte ich ihn, während diese Unbekannten uns noch immer weiterverfolgten. Durch den starken Wind flogen meine Haare in alle Himmelsrichtungen, weshalb ich meine Sicht kaum sehen konnte. Er spannte sich deutlich an, dies konnte ich durch meine feste Umarmung spüren, die ihm hoffentlich nicht die Luft ausraubte.

Aber das letzte Mal, dass ich auf einem Pferd saß, war vor sechs Jahren auf dem Bauernhof meines Großvaters. Und er erlaubte mir es nie, alleine mit dem Pferd zu sein oder mich gar frei reiten zu lassen. Verständlich, mit 13 unerfahrenen Jahren könnte das etwas gefährlich sein.

»Unsere Köpfe.«

Das Pferd wieherte plötzlich schmerzvoll auf und fiel zu Boden. Keine Sekunde später wurden auch wir auch mit nach unten gezogen. Am vorderem Bein des Pferdes konnte man ein steckendes Pfeil sehen. Das Blut floss ununterbrochen aus der Wunde und das Pferd wieherte immer schmerzvoller auf, bis es komplett den Geist aufgab und tot umfiel. Etwas in mir zerbrach.

Sterbende Lebewesen zu sehen zerstückelte mein Herz immer und immer wieder in 1000 Teile.

Noar schnappte sich meine Hand und bevor ich noch Zeit zum reagieren hatte, rannten wir zusammen los. Es wurde permanent dunkler, bis unsere komplette Sicht von den ganzen Ästen verdeckt wurde. Oder besser gesagt nur meine, denn Noar wirkte gar nicht so, als wären dies ein Hindernis für ihn. Außerdem konnten wir jetzt nicht stoppen. Man hörte die Leute hinter uns noch ganz genau und auch bekam ich immer wieder mehr Pfeile zu Sicht, die einige Bäume und Pflanzen um uns trafen.

Er zog mich immer weiter mit sich und auf einmal spürte ich keinen Boden mehr unter meinen Füßen. Zusammen mit Noar rollten wir einen kleinen Berg hinunter und landeten im feuchten Moos.

»Ah!«, zischte ich auf und rieb mir die Hüfte. Er aber legte sofort seine Hand auf meinen Mund und sah mich warnend an. Ich durfte keinen Mucks von mir geben, sonst würde der mich vermutlich noch vor den anderen Typen umbringen.

Sein durchdringender Blick verriet mir nämlich, dass diese Chance dafür keinesfalls gering war.

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Trust & BetrayalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt