Kapitel 1 - Geräuschkulisse

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Ellanie

Es fühlte sich hier anders an. Es fühlte sich an, als wäre ich an einem falschen Ort, obwohl das hier doch mein Ort war. Mein Rückzugsort. Mein Wohlfühlort zu dem ich jederzeit einkehren konnte und auf den ich mich verlassen konnte. Hier war es immer still. Hier war ich Zuhause. Doch jetzt sah ich nicht nur das klare, kalte Wasser vor meinen Füßen plätschern. Nicht den wunderschönen Wald. Das dunkle, satte Grün, welches mich sonst so beruhigte. Nein, jetzt sah ich am anderen Ende des Flusses Buden. Ich hörte Gelächter, laute Stimmen, Geschirr welches klapperte. Ich vergrub meine rechte Hand in den trockenen, mit Blättern und Tannnadeln übersäten Boden. Ich versuchte mich auf den Schmerz, den die einzelnen kleinen Stöcker in meiner Hand verursachten, zu konzentrieren. Doch es reichte nicht aus. Die Stimmen drangen in meinen Kopf hervor. Ich ließ sie hinein, obwohl sie nicht willkommen waren. Sie waren zu präsent um sie zu ignorieren.

„Wenn die Hitze beginnt, dann möchte ich, dass du meine Partnerin bist." Ich habe diese Stimme zuvor noch nie gehört.
„Josh..." Ihre Stimme hingegen war so weich. So beruhigend. „Ich muss Aiden um Erlaubnis fragen. Du weißt doch, dass ich in der letzten Hitze..."
„Ja, Jocelyn, ich weiß. Aber es wird für ihn okay sein. Er hat momentan ganz andere Probleme, als sich um eine vergangene Partnerin Gedanken zu machen." Ich konnte die Beiden nicht sehen, aber ich spürte, wie er sie nun berühren musste. Ich spürte ihre Gefühle und sie schienen auf einer sehr anziehenden Ebene zu sein. Ich fühlte mich erwischt. Ich öffnete meine Augen und bevor ich Josh und Jocelyn noch mehr Aufmerksamkeit schenken konnte, obwohl meine Aufmerksamkeit nicht ganz freiwillig war, wurde ich von lautem Gekicher abgelenkt. Ich sah mich um und eine Gruppe von Frauen, vielleicht auch noch Mädchen, diskutierten provokant und lautstark. Ich konnte sie sogar sehen. Sie waren etwas außerhalb der Menschenmasse und standen hinter einer Bude. Nah am Fluss. Hätten sie hinübergeschaut, hätten sie mich auf der anderen Uferseite sitzen sehen. Ich duckte mich ein wenig.

„Was macht er hier?" Eine quietschende Stimme drang in meinen Kopf. „Seit wann kommt der Alpha zu solch' einer Party, mitten im Wald?"
„Beruhig dich, ok?" Eine Freundin von ihr griff nach ihren Unterarmen.
„Ich muss ihn ansprechen, Maja. Wir haben nie die Chance ein Wort mit ihm zu wechseln. Doch jetzt ist Er. Hier!" Die anstrengende, viel zu hohe Stimme, schien nervös und aufgeregt zu sein. Sie meinte also, dass Aiden Norwood hier sei? Ich zog meine Beine näher an mich heran und schloss nun meine Augen um mich noch besser auf das Gespräch zu konzentrieren. Es war nicht einfach sich auf ein Gespräch zu konzentrieren, nur einem Gespräch zu lauschen, unter wahrscheinlich hunderten Werwölfen. Ausschließlich Werwölfe. Ausschließlich unser Rudel. Das Rudel der Westküste Amerika's, zu dem auch ich gehörte. Und nun waren sie hier, mit Trinkbuden, mit lauter Musik, mit viel zu vielen Essensangeboten. Mitten in - meiner - Lichtung im Wald um zu Feiern. Um was? Das kann ich ehrlich gesagt nicht mal sagen. Es gibt immer was zu feiern.

„Kate!" Ich hörte wieder Maja's Stimme. Kate war also die Frau, die unbedingt zum Alpha wollte. „Du kannst nicht einfach..." Maja gab auf. Sie lief ihr nun einfach hinterher. Kate versuchte also an den Alpha Aiden Norwood zu kommen. Ich entnahm aus einigen anderen Gesprächen, dass sie nicht die Einzige war, die es versuchte. Die Frauen waren verrückt. Was mich jedoch nicht wunderte. Es war die 5. Hitze, die ich nun bald miterleben durfte. Die Menschen nennen es auch Paarungszeit. Doch wirklich um Paarung geht es kaum. Denn es grenzt jedesmal fast an ein Wunder, wenn sich zwei Wölfe wirklich paaren und ein weiterer Werwolf daraus entsteht. Ein Reinblüter, so wie ich es bin, sind äußerst selten. Es geht hier also um das pure Vergnügen. Um Lust, um Sex und noch viel mehr um Macht. Machtausübung und Machtkämpfe. Und genau diese fanden auch schon kurz vor der Hitze statt. Genau hier, an meinem ruhigen Ort, der nun wie ein riesiger Tinder-Treffplatz wirkte. Die Gesprächsfetzen die ich Aufnahm, ließen mich wissen, dass der Alpha nicht mehr auf dem Fest zu finden war. Pure Enttäuschung, besonders bei Kate. Ich musste grinsen und legte mich zurück, auf den weichen Boden, der nun schon ein bisschen weniger bedrohlich wirkte.

„Was gibt's hier zu lachen?"
Ich riss meine Augen auf schrak wieder hoch. Mein Herz pochte wie wild. Ich war alleine, wie konnte ich niemanden kommen hören oder kommen riechen? Bis ich wieder klar sehen konnte, blieb mir jeder Wortfetzen im Hals stecken.
„Ich..." Ich stand auf und rieb die Tannennadeln von meiner zerrissenen Jeans. Fast wäre ich vor Schreck in den Fluss gefallen. Doch er griff nach meinem Arm.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken." Seine Stimme war rauchig. Tief und wahnsinnig ruhig.
„Danke." Ich deutete auf das Wasser hinter mir. Er stand mir immer noch sehr nahe und ließ jetzt erst meinen Oberarm los. Ich blickte auf seine Hand. Sie war riesig und voller Kraft.
„Du brauchst dich nicht bedanken, ich habe dich ja in diese wackelige Situation gebracht." Er zog seinen rechten Mundwinkel zu einem leichten Grinsen und zog ein Blatt aus meinen langen, roten Haaren. Meine Beine waren immer noch sehr wackelig und sein Geruch machte es nicht besser. Nun wusste ich, wieso er auf dem Fest nicht mehr zu finden war. Er war hier. Der Alpha, Aiden Norwood. Hatte er mich lange beobachtet?
„Und? Beantwortest du mir meine Frage?" Er ging einen Schritt nach hinten.
Ich überlegte kurz. Welche Frage?
„Oh..." Ich lächelte verlegen. „Natürlich, Mr. Norwood." Ich ohrfeigte mich selber. Was war mit mir los? „Ich hab hier einfach entspannt." Ich zuckte mit den Achseln, mir fiel keine bessere Ausrede ein.
„Und Entspannung belustigt dich?" Wieso ließ er es nicht einfach gut sein? Er hatte sicherlich mitbekommen, dass mein sonst so blasses Gesicht, voller Sommersprossen, nun glühte, wie eine Tomate in ihrer vollen Reife.
„Entschuldigen Sie mich, ich werde bestimmt schon von meiner Familie gesucht." Ich beugte mich kurz vor. Noch nie habe ich mit jemanden aus dem Führenden Rudel gesprochen. Und schon gar nicht mit dem Alpha. Dieser mischt sich eher selten unter sein Volk. Dementsprechend benahm ich mich völlig eigenartig und wollte das Gespräch schnellstmöglich beenden.
„Wie ist dein Name?" Er ließ mich nicht an sich vorbeigehen. Nicht, dass er mich festhielt. Nein. Das schaffte er mit seiner Präsenz. Mit seiner Ausstrahlung. Seine strahlend blauen Augen fixierten mich. Er war ein Reinblüter. Nur Reinblüter hatten diese strahlende Augenfarbe. Meine konnte er hingegen nicht sehen. Ich trug grüne Kontaktlinsen um weniger aufzufallen.
„Ellanie Mercer, Mr. Norwood." Ich nahm diesen Geruch wieder wahr, als ich seinen Namen aussprach. Meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding. Er müsste es gemerkt haben, er müsste es gerochen haben. Es konnte ihm niemals entgangen sein, dass seine reine Anwesenheit dieses kribbeln in mir auslöste. Ich schenkte ihm ein zärtliches Lächeln, während ich mich links an ihm vorbeischlich. Ich spürte, dass er ebenfalls lächelte. Ich lief so schnell ich konnte.

Was war hier gerade passiert? Einige Äste schlugen an meinen Körper, während ich lief und lief. Wieso war er bei mir? Alleine? Er ist nie alleine anzutreffen. Macht er das so, kurz vor der Hitze?

Ich bekam neulich ein Gespräch meiner Mutter und ihrer Freundin mit. Sie tratschen gerne über das gesamte Rudel. Und besonders gerne über die Führung. Der Alpha soll noch keine Partnerin gefunden haben, kurz vor der Hitze. War er deswegen nun sogar alleine unterwegs?

Ich blieb stehen und hechelte nach Luft. Ich sortierte meine Haare und versuchte auch meine Gedanken zu sortieren, bevor ich aus dem Wald auf die asphaltierte Straße ging. So ein Quatsch, wieso sollte Aiden Norwood dann ins einfache Volk gehen? Er hat die Qual der Wahl. Jede Frau würde ihm zu Füßen liegen. Ungewöhnlich ist es jedoch schon. Jeder Wolf sucht sich rechtzeitig einen Partner zur beginnenden Hitze. Der Rest, der übrig bleibt und keinen Partner findet, nimmt dann den Müll, den niemand anderes will. Oder macht es wie ich. Hält sich fern. Kämpft gegen diese Hitze. Dieser Kampf gehört für mich seit vielen Jahren dazu. Mit meinen 20 Jahren habe ich bisher jeder Hitze widerstehen können. Dies ist schier unmöglich. Zumindest meinen das die anderen Rudeltiere, die durchschnittlich mit 16 Jahren in ihrer ersten Hitze verfallen. Es ist mein Kampf, den ich jedes Jahr führe und dieser ist mächtiger und stärker als jeder andere Kampf, der hier ausgetragen wird. Für Menschen ist diese Hitze unvorstellbar. Für uns Werwölfe, ist sie das stärkste Gefühl, welches gefühlt werden kann und gefühlt werden muss.

Ich blickte auf die andere Straßenseite. Mein Elternhaus war dunkel. Also waren sie noch alle auf dem Fest. Ich zog mein Handy aus meiner Hosentasche. Michelle, meine beste Freundin hatte zwei Nachrichten hinterlassen.

Michelle
Hey Ella, ich weiß, du wirst nicht auf dem Fest sein. Ich habe heute auch wenig Lust. Wollen wir etwas quatschen? Ich komme zu dir.

Michelle
El? Schaue bitte auf dein Handy. Ich sitze auf eurer Veranda. Lass mich nicht zu lange warten ;-)

Als ich die Einfahrt entlang ging, konnte ich sie schon sehen. Sie strahlte über beiden Wangen.

Mein Millennium WolfWhere stories live. Discover now