Bedeuten Blutbande Familie?

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Vilya hatte ihre Hand an die Gitterstäbe ihrer Tür gelegt und starrte nach draußen. Neben jeder besetzten Zelle standen zwei Wachen, die starr geradeausblickten. Talma war bereits bei ihrer Ankunft weggeführt worden. In einer dieser Zellen saß er wohl gerade mit seiner Frau – so viel hatte man ihnen versprochen.
Sie hatte sich noch nicht an den Gedanken gewöhnt, dass ihre Schwester das letzte Jahrhundert wohl in Fesseln gelegen hatte. Die Sorgen, die sie sich all die Zeit gemacht hatte, waren niemals unbegründet gewesen. Das gab ihr tatsächlich etwas Befriedigung, doch gleichzeitig hatte sie gehofft, dass sie falsch gelegen hatte. Hätte es etwas gegeben, was sie damals hätte tun können? Wenn Legolas sie nicht so einfach hätte gehenlassen, wäre es dann verhindert worden?
Zumindest hatte sie sich hier offenbar bereits Freunde gesucht. Der Elb, mit dem sie den Thronsaal betreten hatte, schien sehr entschlossen gewesen ihr zu helfen. Und sobald Valaina ihre Freiheit wieder hatte, würde sie sich mit Sicherheit auch um ihre Schwester kümmern. Sie mochte wütend sein, doch sie waren Familie, die letzte Familie, die sie noch hatten.

Eine Wache betrat den Trakt. In ihrer Hand lag etwas, das in einen Stofffetzen eingebunden war.
Zielstrebig ging die Elbin auf Valainas Zelle zu und ließ sie öffnen.
Vilya beobachtete gespannt, wie sie darin verschwand.
Wenige Momente später ertönte ein schreckliches Knacken, wie von einem brechenden Knochen. Die Die Wachen, die am nächsten zu der Zelle standen, sahen vorsichtig hinüber. Bei den Nanór war es nicht alltäglich, dass Gefangene ernsthaft verletzt wurden, vor allem nicht bevor sie nicht einige Male gewarnt wurden.
Vilya spannte sich etwas an. Was konnte Valaina getan haben, um diese Behandlung zu verdienen?

Es kamen ihr wie Minuten vor, die nichts weiter geschah.
Schließlich trat Valaina seelenruhig einen kleinen Schritt hinaus auf den Gang. Die Wachen neben ihr warfen ihr einen etwas verwirrten Blick zu und warteten auf die Elbin, die mit ihr in ihre Zelle gegangen war. Doch von der war nichts erkennen.
In Valainas Hand befand sich ein faustgroßes, rundes Objekt. Es war sehr flach und glänzte silbern. Vilya konnte es nicht zuordnen, doch es sollte nicht mehr lange dauern, bis sie herausfinden sollte, was es war.
Valaina entschied sich zufällig für eine Richtung und warf das Objekt mit einer lockeren Bewegung weg. Im Flug fuhr es neun scharfe Klingen aus, die die Wachen auf ihrem Weg wie Butter durchschnitten.
Sobald die Waffe an einem Ende des Ganges angekommen war, drehte sie um und flog zurück zu seiner Besitzerin. Doch gerade als diese sie hätte auffangen sollen, trat sie einen Schritt zurück, sodass dasselbe mit den Wachen auf der anderen Seite geschah.

Nach wenigen Sekunden war alles vorbei und tiefe Stille legte sich auf den Gefängnistrakt. Kaum einer der Wachen hatte überhaupt den Mund öffnen können, um Alarm zu schlagen.
Valaina fing den Wurfstern entspannt auf, welcher sich wieder einfuhr. Sie beugte sich hinunter zu einem der Toten und strich das Blut an seiner Kleidung ab, bevor sie seinen Gürtel, die Waffen und den Schlüsselbund nahm.
Die anderen Gefangen waren auf das Gemetzel aufmerksam geworden und pressten sich neugierig an die Gitterstäbe. Ihre Augen glitzerten erwartungsfreudig, doch sie hatten zu viel Angst, um etwas zu sagen.
„Valaina", machte Vilya ihre Schwester leise auf sich aufmerksam.
Die Elbin sah auf und zögerte kurz.
„Valaina", wiederholte Vilya und holte sie damit aus ihrer Starre. Mit wenigen großen Schritten kam sie zu ihr, um aufzusperren. Nun wurden mehr Rufe laut von Gefangenen, die ebenfalls befreit werden wollten.
„Seid leise! Sonst wird keiner von hier entkommen!", zischte Valaina verärgert. Sofort verstummten die Rufe.
Die Jüngere wandte sich zufrieden ab und stieg über die vielen Leichen hinweg in Richtung Treppe.
„Warte! Was ist mit den anderen? Talma und Trîwen sind unter ihnen", hielt Vilya sie schnell auf.
Ihre Schwester hob überrascht die Brauen und warf einen Blick zurück. Sie hatte nicht erwartet, dass noch mehr Elben so dumm sein würden dieses Reich zu besuchen.
„Wir müssen so schnell wie möglich weg von hier", antwortete sie und setzte ihren Weg fort.
„Ich werde nicht ohne sie gehen", widersprach Vilya entschlossen, worauf die andere wütend herumfuhr und zurückstapfte.
„Du wirst gehen, und zwar jetzt sofort", befahl sie und zeigte zu den Treppen.
„Was ist aus dir geworden?", hauchte Vilya ungläubig. Valaina zog ihr Schwert und nickte ihrer Schwester zu.
„Ein Monster, wie du siehst. Also beweg dich, oder willst du bei denen dort enden?", fragte sie und nickte zu den Leichen unter ihnen. Inzwischen standen sie in einer Blutlache.
Vilya weitete überrascht die Augen. Natürlich hatte Valaina nicht vor sie wirklich zu verletzen, doch ihr Gegenüber war sich da offenbar nicht so sicher, denn sie setzte langsam einen Schritt vor den anderen.
Das hielt nur wenige Meter an, dann fuhr Vilya urplötzlich herum und rammte ihrer Schwester den Ellbogen ins Gesicht. Doch Valaina war zu gut dafür ausgebildet. Es brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde für sie, um zu reagieren.
Sie duckte sich weg und packte die Angreiferin grob an der Schulter, um sie gegen die Mauer neben ihnen zu werfen. Das reichte ihr noch nicht. Kurz entschlossen rammte sie das Heft des Schwertes ihr tief in die Magengrube. Vilya stöhnte auf.

Das Herz einer Schwester // Legolas FFحيث تعيش القصص. اكتشف الآن