14. Saftige Früchte

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Allwissender Erzähler

Yu schmeißt sich auf sein Bett und kauert sich zusammen. 'Ich bin so unendlich müde.', sind seine letzten Gedanken, bevor er sich in einen ohnmachtsnahen Schlaf rettet. Diese zwei Stunden im Auto mit Sam raubten ihm jegliche Kraft.

Er war von Klein an eher der Zufriedensteller. Egoismus war ihm stets ein Fremdwort. Ein Kind, dass seine Wünsche und Gedanken nicht teilt, ist bei Gleichaltrigen entweder unsichtbar oder Zielscheibe. Als Erwachsener löst er in Manchen den Beschützerinstinkt. Das hasst er besonders. Er mag es nicht, anderen zur Last zu fallen.

Nur bei Sam ist es anders.

Er will ihn besitzen. Ihm mit seinen Bedürfnissen zur Last fallen. Von ihm beschützt werden.

Zum ersten Mal in seinem Leben hat er sich getraut, was riskiert.

Sich verliebt.

Und ist gefallen.

Langsam blinzelnd öffnet Yu seine Augen. Es ist 22 Uhr. Zwei Stunden ist er einfach weggetreten. Ein dumpfes Knurren im Magen erinnert ihn an seinen Hunger.

Er steht auf und verweilt. Sein Kopf ist leer. Nur der traurige Geschmack des Tages ist spürbar.

Er läuft in die Küche, öffnet den Kühlschrank und schließt ihn schließlich. Nichts. 'Ich muss mir was zum Essen kaufen', denkt er und greift nach seiner Jacke. Die Tür stockt unmittelbar. Er kann sie nur einen Spalt öffnen. Verwundert drückt er stärker gegen die Tür, bis sie plötzlich aufgeht. 

Yu läuft vorsichtig über die Schwelle und entdeckt Sam auf dem Boden sitzend neben seiner Tür. „Was machst du hier?", staunt Yu.

„Ich wollte dir deine Ruhe lassen. Und mir meine Zeit.", zitiert Sam Yu.

Yus Herz setzt einen Schlag aus.

Sam sieht traurig aus. Er sieht so traurig aus.

Yu hockt sich vor ihn und spricht: „Warum hast du nicht geklopft? Wie lange sitzt du hier schon?" „Ich bin dir nach. Es war so still bei dir. Ich dachte, du schläfst.", berichtet Sam kindlich. „Und dann dachtest du, du setzt dich einfach hin und wartest, bis ich rauskomme?", fragt Yu mit hochgezogenen Augenbrauen.

Sam schaut Yu intensiv in die Augen und wiederholt:

„Ich wollte dir deine Ruhe lassen. Und mir meine Zeit."

„Deine Zeit?", fragt Yu zaghaft. „Zeit zum Nachdenken.", erklärt er. „Das kannst du auch zu Hause.", entgegnet Yu und steht auf. „Ich wollte aber bei dir sein. Ich konnte nicht nicht bei dir sein.", kontert Sam schnell.

Yu überwältigt eine Welle Emotionen. 'Warum sagst du so etwas', denkt er verzweifelt. Sam sieht ihm den Schmerz an. „Yu, sag es mir offen heraus. Möchtest du, dass ich gehe?"

In Yus Kopf schreit eine Stimme: 'Ja, geh endlich. Du quälst mich!'

Stattdessen sagt er aber: „Geh nicht. Ich möchte dich bei mir haben."

Beide Stimmen zerreißen ihn.
Sam steht auf und nimmt Yu in den Arm. Das vertraute Gefühl umschließt sie. 

„Ich möchte dich auch bei mir haben.", hört Yu Sam flüstern. Sie ergeben sich der Anziehung ihrer Körper. Yu schmiegt sich an Sams Hals. 

'Was ist das nur?', fragt sich Yu, während Sam mit jedem Atemzug Yus Aura inhaliert und sich immer fester an ihm festkrallt.

„Sam?", versucht Yu anzufangen. Er wird aber unterbrochen: „Yang Yu Teng.", raunt Sam in Yus Ohr. „Mhm?", gibt Yu als Antwort zurück. „Ich will nur deinen Namen sagen. Und ich will, dass du meinen Namen rufst.", sagt Sam in einem starken Ton.

„Sam," versucht Yu erneut anzusetzen. „Es tut mir leid, dass ich dich habe warten lassen.", unterbricht Sam ihn in einem aufrichtigen Ton, umschließt mit dem einem Arm Yu enger und legt die andere Hand auf seinen Hinterkopf. Sanft beginnt er durch Yus Haare zu streichen.

Yu schweigt. Er ist von Sams Nähe betäubt. 'Warum berührst du mich? Warum gibt es bei uns keine Grenzen? Wie soll ich je verstehen, was du für mich fühlst?", fragt sich Yu,

Sam spricht weiter: „Wenn ich gewusst hätte, dass du hinfährst, wäre ich gekommen." „Du musst mir das nicht sagen,", sagt Yu, „Ist doch verständlich, dass du deine Privatsphäre brauchst." Sam ist verwundert. Er fragt sich, was Yu damit meint. „Zu meiner Privatsphäre gehörst du.", erklärt Sam.

Beide halten sich noch immer eng umschlossen vor Yus Türschwelle. Sie schauen sich nicht in die Augen. Das können sie gerade beide nicht.

'Das kann nicht dein Ernst sein, Sam. Du weißt genau, was oder wen ich mit Privatsphäre meine. Bring mich nicht dazu, ihren Namen auszusprechen.', denkt Yu. 

„Das meine ich nicht damit. Die Privatsphäre unter Freunden meine ich nicht.", umschreibt Yu seine Intention.

Schweigen.

Nun ist es Sam, der keine Worte findet.

'Ich habe es vergessen. Einfach vergessen. Ich habe es vergessen. Er weiß, dass ich bei ihr war', erinnert sich Sam schmerzhaft. 

Er war so tief in seiner Rolle. So nah bei ihm. So intensiv benommen von den intimen Momenten. Fernab von hier und heute.

Dass er sie nicht mehr fühlte.

„Du verstehst da was falsch.", beginnt Sam und schweigt. 

'Gib mir ein Zeichen, Yu. Mach, dass ich mir sicher bin. Ich will nicht alles zerstören. Wie soll ich mir sicher sein?', verzweifelt Sam innerlich.

Yu unterbricht die Stille: „Da gibt es nichts falsch zu verstehen. Und es ist in Ordnung. Dein gutes Recht. Wir haben doch lange genug Zeit miteinander gehabt. Was sie sich nicht alles anhören und anschauen musste... Es ist alles in Ordnung, Sam!", lügt Yu nur teilweise. Innerlich erfreut sich Yu über seine Souveränität. Er kann nicht nur sich selbst etwas vormachen, sondern auch Sam. Das empfindet er gerade als Tugend.

Derweilen durchwühlt Sam innerlich seinen Wortschatz und sammelt seinen Mut zusammen. Er will es Yu ja sagen. Weiß aber nicht wie. 

'Was ist, wenn er schockiert ist? Und ich alles falsch verstanden habe. Wie sollen wir danach weiter zusammen arbeiten? Wenn ich nichts tu, wird er sich abwenden. Er wird wieder nicht antworten. 

Und ich werde nicht mehr derjenige sein, der mit ihm zusammen schweigen kann. Einander verstehen. Lachen. Spüren. 

Dafür ist es zu spät. Ich lass ihn nicht gehen.', diskutiert Sam in Gedanken und beschließt den ersten Schritt zu gehen:

„Ich war bei ihr. Während du auf Lyudao warst. War ich bei ihr." 

Yus Herz schmerzt und er ist unfähig dazu, seine Lungen wieder mit Sauerstoff zu füllen. 

Sam erzählt unwissend weiter: „ Ich habe lange mit ihr gesprochen und ihr erklärt, dass ich mir meiner Gefühle ihr gegenüber nicht mehr sicher bin. Wir haben uns getrennt.", sagt Sam trockener, als er eigentlich vorhatte.

Yu friert auf der Stelle ein. Seine Hände fallen rechts und links neben seinen Körper. Er lässt Sam los.

„Ist das ein Grund für dich, mich loszulassen?", fragt Sam ehrlich.

Unfassbar, unbegreiflich, unerklärlich ist jeder Gedanke, der in Yus Kopf versucht Früchte zu tragen. Süße Früchte. Verbotene Früchte. Früchte, die er sich nicht eingestehen und erlauben wollte.

„Saftige Früchte", stottert Yu. Sam staunt und grinst. „Saftige Früchte?", fragt Sam. Endlich schaut Yu in Sams Augen. Sein Blick ist warm und tief.

„Ich liebe saftige Früchte.", sagt Yu völlig überzeugt und klatscht mit beiden Händen auf Sams Brustmuskulatur.

Beide lachen. Umarmen sich wieder und lachen weiter. Und wenn der eine sich gerade beruhigt, lässt er sich von dem anderen wieder anstecken. Sie lachen, bis die Tränen fließen.

Tränen, die sich über die Erlösung freuen. Über den Weg und all die Hoffnung. 

FANFICTION Zerrissen verbundenWhere stories live. Discover now