1. Kapitel

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Nichts würde jemals wieder so sein wie es einmal war.

Das ahnte der Junge bereits, als er an der Hand seiner Mutter zum ersten Mal in die Dorfschule gebracht wurde. Das kleine niedersächsische Bauerndorf war nur weniger Kilometer von der Grenze zur Sowjetisch Besetzten Zone entfernt, die sich selbst seit neun Jahren nun Deutsche Demokratische Republik nannte.

Der Einschulungstag brachte den Jungen zum ersten Mal mit seinen neuen Mitschülern zusammen, mit denen er sich  in den nächsten Jahren die tintenbefleckten alten Schulbänke teilen würde. 

Es war der 9. April 1959. In den Kinos der 50 km entfernten großen Stadt lief „Die gelbe Venus von Kamakura"  beworben als erschreckendes Sittenbild aus dem neuen Japan und als Feuerball der Leidenschaften.  Seit Wochen ein Renner im Filmtheater am Ring  war   „Aus dem Tagebuch eines Frauenarztes" mit Rudolf Prack und Ellen Schwiers . Für Kenner wurde  im Burg-Kino „Die Sklavinnen von Karthago" gezeigt, wo zum Ergötzen der Besucher die Sonne heiß auf die wehrlosen, nackten Leiber von Frauen und Mädchen herunterbrannte.

Der Junge war noch nie im Kino gewesen und es sollte noch einige Jahre dauern, bis er sich in eine Wanderkino-Vorführung im Tanzsaal der Dorfkneipe schmuggeln konnte.

Das einzig Erfreuliche an der Einschulung  war die riesige Schultüte mit Süßigkeiten, die der Junge feierlich überreicht bekam. Derartig viele Süßigkeiten gab es sonst nicht einmal zu Weihnachten. Leider war die Einschulungstüte auch mit  so Überflüssigem wie Schulheften und allerlei anderen Gebrauchsgütern für den täglichen Unterricht gefüllt.

Es war dem Jungen klar, dass er nun regelmäßig hier erscheinen musste. Vor allem um Lesen und Schreiben und Rechnen zu lernen. Aber natürlich auch, um in guter deutscher Schultradition regelmässig vom Lehrer durchgeprügelt zu werden. Das hatte  ja noch keinem je geschadet. Ganz im Gegenteil, wie es jeder hier im Dorf gern und meist auch ungefragt bestätigte und sozusagen als Beweis dafür  stets auf sich und sein erfolgreiches nachschulisches Leben verwies. 

Der alte, philosophisch abgeklärt prügelnde Oberlehrer unterrichtete die unteren 3 Klassen in einem großen, nach billigem Bohnerwachs riechenden Klassenraum. Der Lehrer war ein Veteran des ersten Weltkriegs. Seine Begeisterung für Kaiser Wilhelm II. und die vergangene deutsche Größe kamen dem Jungen bekannt vor, denn auch sein Großvater, der ebenfalls Wilhelm hiess, konnte es nicht verwinden, dass die glorreichen Kaiserzeiten, die ihn 1917 vor Verdun anderthalb seiner Beine gekostet hatten, wohl endgültig nicht mehr wiederkehren würden.

Der Lehrer der oberen Klassen vier bis sechs war ein noch vergleichsweise junger, kriegsversehrter Veteran des zweiten Weltkriegs. Seine mühsam gehemmte Lust am cholerischen Zuschlagen hatte sich bereits in den ersten Tagen unter den Schulanfängern herumgesprochen und war eine stete Drohung. Da erschien manchem das  Sitzenbleiben in der dritten Klasse als erstrebenswerte Alternative.

In der Ecke des Klassenzimmers standt ein riesiger, sogenannter Kanonenofen, den die Kinder im Winter mit Koks füllen mussten. Die wandbreite  grüne Tafel bildete die eisige Eigernordwand der Volksschulbildung, auf die von nun an auch die Schulanfänger hinaufgeprügelt wurden.

Der Junge verliebt sich schnell in die Buchstaben und lernte das Lesen und Schreiben ohne allzu viele Ohrfeigen und Prügel, die meist mit dem Zeigestock oder einer speziell für diesen Zweck modifizierten Gardinenstange ausgeteilt wurde. 

Für den Jungen hatte der Eintritt in die Zauberwelt der Buchstaben etwas Glückhaftes, ja geradezu Strahlendes. Und tatsächlich war von nun an nichts mehr wie es einmal war.

EIN BISSCHEN PRÜGEL HAT NOCH KEINEM GESCHADETDonde viven las historias. Descúbrelo ahora