Act Six

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Nicht mal eine Woche waren vergangen seit er die optimistische Schlussfolgerung gezogen hatte, sich früher oder später wieder zu ‚entlieben'. Um genau zu sein fünf Tage. Fünf Tage voller Pleiten, Pech und Pannen, wenn man es wohlwollend zusammenfassen wollte. Kageyama saß, die Stirn auf die Tischplatte gelegt, im Klassenraum und hatte es längst aufgegeben den Ausführungen seines Mathelehrers zu folgen. Die dunklen Ringe unter seinen Augen hätten jeder Halloween-Maske Konkurrenz gemacht und an Konzentration in irgendeiner Art und Weise war gar nicht zu denken. Den Montag hatte er mit Ach und Krach überstanden, ohne in ein Fettnäpfchen zu treten. Aber weil er abends Angst bekam den lasziven Hinata vor seinen inneren Augen aufreizende Hüftschwünge durchführen zu sehen schlief er nur schlecht ein. Und auch wenn er nach mehreren Stunden in einen leichten, unruhigen Schlaf glitt war dieser nicht sonderlich erholsam. Er hatte es bisher nicht über sich bringen können das morgendliche Einzeltraining mit dem kleinen Wirbelwind wieder aufzunehmen und mittlerweile war er körperlich auch nicht mehr in der Lage dazu. Seine Arme und Beine fühlten sich tonnenschwer an und seine Gedanken schienen immer einige Millisekunden hinterher zu hinken, so dass er so viele Bälle ungenau oder gar nicht traf wie noch nie. Sugawara hatte ihn sogar schon Beiseite genommen und gefragt ob bei ihm irgendwas vorgefallen war. In einem in letzter Zeit klaren Moment schob er eine aufkommende Sommergrippe vor, die angeblich in seiner Familie gerade rum ging. Sein Zuspieler Kollege hatte ihn eine Hand auf die Schulter gelegt und ihn ermahnt sich genug Ruhe zu gönnen. Das war gestern gewesen. Mittlerweile sah er vermutlich so aus, als ob er nicht nur einen leichten grippalen Infekt, sondern gleich eine ausgewachsene Lungenentzündung ausbrütete. Ein kleiner Hoffnungsschimmer war jedoch nach dem gestrigen Training durch die dichte graue Wolkendecke seiner Gedanken gebrochen. Er hätte es nicht für möglich gehalten, aber er freute sich das erste Mal in seinem Leben kein Volleyball spielen zu können. Der Betreuungslehrer des Volleyball-Clubs Herr Takeda hatte angekündigt, dass am Wochenende Reparaturarbeiten an der Sporthalle durchgeführt würden. Das Training würde also für zwei Tage ausfallen. Ein Wochenende Ruhe. Ein Wochenende voll hoffentlich erholsamen Schlaf. Dieser Gedanke hielt den Dunkelhaarigen im Augenblick als einziges auf den Beinen. Er musste nur noch das heutige Nachmittagstraining überstehen und dann würde er sein Handy ausschalten und zwei Tage lang für niemanden erreichbar sein. Er hörte ein Kichern in seinem Rücken. Verdammt war ihm heiß. Die Spätsommersonne zeigte noch einmal was sie konnte und ließ das Thermometer mittags bis an die achtunddreißig Grad hochklettern. Das Kichern wuchs sich zu einem Lachen aus. Was war da los. Unmotiviert hob er den Kopf vom Tisch und blickte direkt in das wutverzerrte Gesicht seines Lehrers, der mit verschränkten Armen vor ihm stand und ganz offensichtlich schon mehrfach eine Antwort von ihm eingefordert hatte. Kageyama schluckte und setzte sich ruckartig auf. „Ähm, wie war die Frage?" Einige seiner Mitschüler brachen in schallendes Gelächter aus. Seine Ohren liefen rosarot an und er zog den Kopf zwischen die Schultern. „Bemüh dich nicht, Kageyama. Ich muss wohl davon ausgehen, dass du in letzter Zeit einige Bälle zu viel an den Kopf bekommen hast. Vielleicht sollte ich Herrn Takeda bitten etwas besser auf seine Schüler Acht zu geben." Nun fingen auch die bisher stillen Klassenkameraden an zu prusten. Na super, ihm blieb auch rein gar nichts erspart. Betrübt ließ er den Kopf hängen und murmelte eine Entschuldigung. Lass diesen Tag vorbei gehen. Und bitte möglichst schnell.

Wie er den restlichen Schultag überstanden hatte hätte Kageyama jetzt nicht mehr sagen können. Das letzte Klingeln der Glocke rettete ihn gerade noch davor Englischvokabeln aus seinem Gedächtnis kramen zu müssen die tief, sehr tief, unter Handzeichen für Angriffsstrategien begraben lagen. Die Lehrerin hatte ihn mit einem ‚Da-hast-du-aber-verdammtes-Glück-gehabt'-Blick durchbohrt und er war schnurstracks aus dem Klassenraum geflüchtet. Sein Tempo hatte sich dabei zunehmend verlangsamt je näher er der Sporthalle kam. Vor dem Clubraum blieb er stehen und atmete tief ein, setzte einen gespielt desinteressierten Gesichtsausdruck auf und öffnete schwungvoll die Tür. Die meisten seiner Mitspieler waren bereits versammelt und zogen sich um. Hinata witzelte ganz hinten im Raum mit Nishinoya rum und zur Erleichterung des schwarzhaarigen Zuspielers war er bereits umgezogen. Kageyama bahnte sich seinen Weg zwischen umherfliegenden T-Shirts und Schulunfiromen und begann sich seiner eigenen zu entledigen. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und ein freudestrahlender Tanaka kam mit einem Zettel wedelnd in den Raum gestürmt. „Hey meine Hübschen! Ihr erratet nie was ich gerade entdeckt hab!" Seine Augen leuchteten und er blieb mit vor Stolz geschwollener Brust in mitten der anderen Spieler stehen. Alle Blicke waren auf den Kurzhaarigen gerichtet. „Magst du uns dann die Raterei nicht ersparen und direkt zum Punkt kommen?", seufzte der Mannschaftskapitän entnervt. Die Hitze führte nicht unbedingt dazu, dass er toleranter gegenüber Lautäußerungen im 90-Dezibel-Bereich war. In keinster Weise beeindruckt von dem Seitenhieb seines Teamkollegen hielt Tanaka den mitgeführten Zettel in die Runde. Er zeigte in bunten Farben zwei stilistisch dargestellte Personen in Kimono, eine männlich, eine weiblich, vor dem Hintergrund einer Feuerwerkskulisse. Alle Augenpaare sahen den lauten Angreifer irritiert an. „Und jetzt?", meldete sich Enoshita als erstes zu Wort. „Na, ist doch ganz klar! Morgen und übermorgen ist die Halle zu, nicht wahr? Damit wir trotzdem am Teamzusammenhalt arbeiten, gehen wir alle gemeinsam zum Straßenfest in meinem Viertel." Tanaka war sichtlich zufrieden mit seinen Plänen und nickte sich selbstbestätigend. „Woah! Coole Idee, Tanaka! Das machen wir!" Nishinoya war einen halben Meter in die Luft gesprungen und klatschte begeistert in die Hände. Auch die meisten anderen Spieler nickten freudig. „Muss das Sein?", ertönte wenig begeistert aus der hinteren Reihe. Der große Brillenträger hatte die Arme verschränkt und blickte lustlos auf den Zettel. Wer hätte gedacht, dass Kageyama mal auf einer Seite mit Tsukishima stehen würde. „Sei kein Spielverderber!", brachte Hinata dem deutlich größeren Mittleblocker entgegen. Eine leise Stimme neben dem Großen piepste: „Also, ich würde schon auch gerne hingehen." Der Kopf des Blonden drehte sich nach links und sein Blick wurde um eine Spur weicher. „Na gut... Wenn Yamaguchi unbedingt gehen will komme ich halt mit." Daichi, der sich bisher zurückgehalten hatte, nahm den Zettel von Tanaka entgegen und fasste sich grübelnd ans Kinn. Sein silberblonder Freund blickte ihm über die Schulter. „Ist doch gar keine schlechte Idee oder Daichi? Ich fände es schön, wenn wir uns mal wo anders als in der Schule oder der Turnhalle treffen würden. Außerdem hat mir meine Mutter einen neuen Yukata von ihrem Businesstrip nach Kyoto mitgebracht. Das wäre endlich mal eine Gelegenheit den zu tragen." Der kleinere grinste sein braunhaariges Gegenüber an. Der Kapitän lächelte und nickte zustimmend. Kageyama bemerkte verwundert, dass die Ohren des muskulären Angreifers leicht rosa angelaufen waren. „Ja, du hast recht", sagte er und mit etwas lauterer Stimme, „Dann treffen wir uns alle morgen um neunzehn Uhr an dieser Adresse." Er zeigte auf eine kleine Schriftzeile des Plakats. Allgemeines Hosentaschenrascheln wurde abgelöst durch Klick-Geräusche der Handykameras. Der schwarzhaarige Angreifer heulte innerlich auf. Womit hatte er das verdient? Er hatte sich so auf zwei ruhige Tage gefreut. Zumindest trafen sie sich erst am Abend. Vielleicht konnte er sich bis dahin einigermaßen ausschlafen. Seiner davonfliegenden Freizeit nachtrauernd schlurfte er aus dem Clubraum Richtung Turnhalle, angetrieben durch einen fröhlich vor sich hin summenden Sugawara. Tief in Gedanken bemerkte er nicht, wie ein helles Augenpaar ihm angespannt hinterher schaute.

Sweet Summer-Dream (mit 🍋Extra) Where stories live. Discover now