Kapitel 1

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Es gab Momente, die man einfach aus seinem Leben streichen würde, wenn man Superkräfte besäße

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Es gab Momente, die man einfach aus seinem Leben streichen würde, wenn man Superkräfte besäße. Diese Momente durchlebte ich jeden Morgen. Der Montag in der zweiten Schulwoche der elften Klasse war normal, so normal wie die tägliche Übung unserer Mathelehrerin.

„Lät it go, can't hold it bäck änymore, lät it go, lät it go!", schrie Rebeka in meine Ohren, bevor ich grummelnd meine Kuscheldecke über sie warf.

„Meine Güte, die Lieder werden ja immer schlimmer!", stöhnte ich genervt. Meine neunjährige Schwester kicherte unter der Kuscheldecke, die sie nun zumindest etwas verstummen ließ. Das Positive an meinen morgendlichen Aufweckliedern war, dass ich danach wirklich, einhundertprozentig und unwiderruflich, wach war. Rebeka schlug sich die Kuscheldecke vom Kopf und strahlte mich mit ihren blauen Kinderaugen an. Auf ihren Lippen breitete sich ein riesiges Lächeln aus und ihre Haare standen in alle Richtungen ab.

„Wie kann man so früh nur so gute Laune haben?", fragte ich und schaute sie ausdruckslos und mit zusammengekniffenen Augen an.

„Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern und ich darf heute in Sachkunde mein Plakat vorstellen!", erklärte die Grundschülerin glücklich.
Ich betrachtete sie nur weiterhin verständnislos.

„Das wären für mich Gründe, warum ich mich definitiv nicht auf den Tag freuen würde. Na los, geh ins Bad und mache dich fertig, du kommst sonst wieder zu spät, du Trödeltante!", erinnerte ich sie. Dabei machte ich eine scheuchende Handbewegung, damit sie ja nicht auf die Idee kam, noch weiter in meinem bequemen Bett zu bleiben. Sie hüpfte fröhlich davon und sang weiter lauthals ihr momentanes Lieblingslied. Ich ließ mich genervt zurück in mein Kissen fallen. Warum freute man sich eigentlich als Kind auf die Schule und als Jugendliche nicht mehr?

Ich konnte jedenfalls sagen, dass es bei mir eindeutig an den Lehrern lag, die mich mit zu vielen und langweiligen Themen in zu kurzer Zeit beschütteten. Ich pustete eine meiner blonden Haarsträhnen aus meinem Gesicht und stand murrend auf. Sich vor dem Frühstück mit Schule zu beschäftigen, ging niemals gut.

Nachdem ich mich fertig gemacht hatte und in die Küche gestiefelt war, kam mein Pa gerade zur Verandatür herein. Er strahlte mich triumphierend an. Dann führte er seinen, sehr peinlichen, Vater-Freudentanz auf. Dabei drehte er sich im Kreis, warf die Hände in die Luft und bewegte seine Hüften in einer undefinierbaren, sehr ungelenkig (und ungesund) aussehenden, Kreisbewegung.

„Juhu!", jauchzte er und machte zusätzlich zu seinen Bewegungen passende: „Uh-uh-uh-ah!"- Geräusche. Ich zog meine Augenbraue nach oben.

„Das war eindeutig zu viel für einen Morgen. Danke für den Augenkrebs!", bemerkte ich nur kühl.

„Moni, ich habe die Eierschalen gefunden, siehst du?", fragte er mich ganz aufgeregt. Im nächsten Moment hielt er mir lila-grüne Schalen entgegen.

Ich zuckte nur mit den Schultern. Warum mir mein Vater irgendwelche Vogeleier zum Frühstück mitbrachte? Das war nur ein weiterer Beweis dafür, dass meine Familie alles andere als normal war. Meine Eltern waren Ornithologen, auf Deutsch bedeutete das: Vogelwissenschaftler. Von fünf bis zwanzig Uhr drehte sich alles am Tag nur um Vögel. Meine Mutter war deshalb momentan für sechs Monate auf einer Auslandsexkursion gegangen, um die Vögel im Amazonas-Gebiet zu untersuchen.

FederfreiWhere stories live. Discover now