Kapitel 6

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Ich kann nicht damit aufhören, sie anzusehen. Zweimal habe ich es versucht, habe an meine Vernunft appelliert, mir gesagt, dass das aufhören muss. Doch Hannah liegt dort, so friedlich, so schön, so vertraut, dass sich etwas tief in mir weigert, den Blick abzuwenden. Die Decke, die ich ihr vor zehn Minuten, als mir bewusst wurde, dass sie längst eingeschlafen war, sanft über die Schultern legte, bedeckt Hannah wie eine zweite, schützende Haut. Ich sitze auf dem Boden, die Füße angewinkelt, den Kopf auf die Couch gebettet, auf der sie liegt und träumt. Aus dem Flur fällt schwaches Licht in das sonst dunkle Wohnzimmer und lässt die noch feuchten Spuren der Tränen auf ihrer Wange sanft glitzern. Sonst lässt nichts in ihrem schönen Gesicht darauf schließen, dass sie noch vor einer halben Stunde wild schluchzend in meinen Armen lag, verzweifelt und aufgelöst. Und all das nur, weil ich ihr von unserer Geschichte erzählen musste. Ein bisschen wünsche ich mir jetzt, ich hätte sie ihr nicht erzählt, hätte mich gewehrt, gegen ihren Wunsch, ihr zu sagen, wie wir einander begegnet sind. Dann hätte sie nicht von Erinnerungen gehört, an die sie sich nicht erinnern kann, dann wäre dort nicht dieser unerbittliche Schmerz gewesen, nicht dieser drängende Wunsch daran, auch die Bilder zu sehen, die ich sehe, wenn ich mich an all das erinnere. Ich habe Hannah von einer Frau erzählt, die sie einst kannte, die sie einst war. Und heute ist von dieser Frau nur noch der Kern übrig, weil alles, was sie einst ausgemacht hat mit all ihren Erinnerungen an sich selbst und an die Menschen, die ihr lieb waren, in dieses schwarze Loch gezogen und vermutlich für immer verschlungen wurden. Ich bin Schuld für Hannahs Tränen, ich war ihr Auslöser. Und jetzt liege ich hier und betrachte Hannah dabei, wie sie schläft und sich Träumen hingibt, die sie sich vermutlich so sehr in die Wirklichkeit wünscht. Ein Lächeln zeichnet sanft ihre Lippen und lässt mich fast vergessen, wie sehr sie noch vor Stunden in meinen Armen gelitten hat.

Ich erinnere mich daran, dass ich diese verletzliche Seite Hannahs erst kennengelernt habe, als wir beide beginnen mussten, um unsere Liebe zu kämpfen. Damals dachte ich noch, dass Hannah eine Frau sein musste, die keine Tränen kennen konnte. Sie war immer so souverän und stark, niemals zeigte sie mir oder irgendjemandem sonst ihre Schwäche. Doch in dieser Nacht tat sie es, in dieser Nacht zeigte sie mir ihre Tränen, warf sich mir in die Arme und weinte so erbittert wie sie es zuletzt heute Abend tat.

In dieser Nacht, vor zehn Jahren, stand sie vor meiner Haustür und sagte mir, dass der Mann an ihrer Seite sie heiraten wolle. Sie hat mich angesehen, so angsterfüllt und verzweifelt, dass ich begriff, dass dieser Tag unser ganzes Leben verändern würde. Und das tat er. Er nahm mir Hannah.

Als sie mich damals diese Seite an ihr sehen ließ, diese zarte und zerbrechliche Hannah, verstand ich, dass diese Frau in ihrem Leben alles mit purer Leidenschaft tat. Sie arbeitete mit Leidenschaft, sie liebte mit Leidenschaft, und sie litt mit Leidenschaft. Vielleicht war das die Hannah, die leidende Hannah, die sonst kaum einer zu sehen bekam. Doch ich bekam sie zu sehen. An dem Tag brach etwas zwischen uns. Eine Wand, die, trotzt der Nähe und Fürsorge, die wir einander immer entgegengebracht haben, da war und ein Teil von Hannah für mich immer unantastbar gemacht hat.

Seit diesem Tag weinte sie immer in meinen Armen und irgendwann, nachdem ich auf sämtlichen Wegen versucht hatte, ihre Tränen zum verstummen zu bringen, begriff ich, dass nur eines half, um sie zu beruhigen: Sie zu halten, und das die ganze Nacht, wenn es sein musste. Irgendwann schlief sie dann immer ein. Und immer saß ich neben ihr, vor ihr auf dem Boden kniend, so wie ich es auch jetzt tue. Ich saß dort, sah sie an und weinte stumme Tränen. Aus Angst, sie irgendwann verlieren zu können.

Auch jetzt brennen Tränen in meinen Augen, aber nicht aus Angst. Nein, der Konflikt in mir lässt sich nur schwer erklären. Irgendwie bin ich wütend auf mich. Wütend, weil ich mich erneut habe zu ihr hinreißen lassen, weil ich sie gehalten habe, weil ich schwach war und sie an mich heran gelassen habe. Aber ich fühle auch so viel Mitgefühl und Schmerz, für Hannah. Weil ihr Leben, von dem ich keine Ahnung habe, wie sie es in den letzten zehn Jahren gelebt hat, jetzt vor ihr in Trümmern liegt und sie es sich hilflos mitansehen muss. Nicht mehr zu wissen, wer man ist und war, muss sich so unheimlich schmerzhaft anfühlen. Ich habe es gespürt, als sie in meinen Armen lag, zitternd und schluchzend. In manchen Momenten glaubte ich, nicht Hannah in meinen Armen zu halten, sondern ihre Hilflosigkeit, dann ihren Schmerz, ein anderes Mal wieder ihre Wut oder Angst. Jedes dieser Gefühle scheint so stark in Hannah zu brennen, dass sie keine Chance sieht, den Flammen zu entfliehen.

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