Kapitel 17

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In dieser Nacht mache ich kein Auge mehr zu. Zu wild tobt der Sturm in meinem Inneren, zu schwer wiegen die Erinnerungen an die letzten Stunden auf meiner Seele. Wenn es nicht der Name Lena ist, der unaufhörlich durch meinen Kopf wirbelt und mir so den Schlaf raubt, dann ist es der Anblick der schlafenden Hannah neben mir. Ich habe vergessen, wie es sich anfühlt, so dicht neben ihr zu liegen, ihre ruhigen, gleichmäßigen Atemzüge zu hören und ihren betörenden Duft einzuatmen. Ich habe verdrängt, wie schön sie aussieht, wenn ihr das blonde Haar ins Gesicht fällt und sich ihre Lippen beim Schlafen einen Spalt breit öffnen. Und es fühlt sich wie die Hölle auf Erden an, nicht die Hand ausstrecken und diese schöne Frau in meine Arme schließen zu können.
Ich trage in dieser Nacht zehrende Kämpfe mit meiner Sehnsucht nach Hannah und den Gedanken in meinem Kopf aus - und gehe eindeutig als Verlierer aus diesem Gefecht hervor.
Als Hannah am nächsten Morgen aufwacht, habe ich mich bereits frisch gemacht und angezogen.
„Guten Morgen", wispert sie mit ihrer so rauen, verschlafenen Stimme, dass mein Herz am liebsten sofort durchdrehen will. Ich schlucke die Trockenheit in meinem Hals hinunter.
„Guten Morgen."
„Du siehst müde aus. Hast du schlecht geschlafen?"
„Ein bisschen unruhig", gebe ich ehrlich zurück.
Auf Hannahs Stirn bilden sich Sorgenfalten. „Ich hoffe, dass ist nicht meine Schuld?"
Oh Hannah.
Ich zwinge mir ein ehrliches Lächeln auf die Lippen und schüttle mit dem Kopf.
„Nein, keine Sorge. Vielleicht lag es am Vollmond", versuche ich mich zu erklären.
Hannahs Blick durchdringt mich förmlich, aber sie sagt nichts, richtet sich stattdessen auf und präsentiert mir ungeniert ihren göttlichen Körper. Ich wende meine Augen sofort von ihr ab. Es reicht, wenn mich die Erinnerungen an diesen Anblick eine Nacht lang wachhalten. Auch, wenn ich mir fast sicher bin, dass sie sich so sehr in meinem Gedächtnis festgesetzt haben, dass sie mir auch in den kommenden Monaten noch unanständige Träume bescheren werden.
„Ich mache mich schnell fertig und dann können wir gerne frühstücken gehen", schlägt Hannah vor und verschwindet kurz darauf im angrenzenden Badezimmer.
Ich nutze den Augenblick, um hinaus auf den kleinen Balkon zu treten und ein paar tiefe Züge von der frischen Morgenluft zu nehmen.
Die ganze Nacht lang habe ich überlegt, wie ich mich jetzt Hannah gegenüber verhalten soll, habe überlegt, wie ich ihr mein emotionales Verhalten von gestern Abend erklären soll. Innerlich hege ich die Hoffnung, dass sie es einfach vergessen und nie wieder ansprechen wird, denn ich wüsste beim besten Willen nicht, was ich sagen könnte, ohne dabei alles zu zerstören. Ich habe Angst, Hannah zu verlieren, mich erneut von ihr trennen zu müssen. Und diese bittere Angst ist falsch, so ungeheuerlich falsch, dass ich mich dafür hassen will, sie überhaupt zu empfinden. Genauso wie die Gefühle, die bei jedem Blick in Hannahs mitternachtsblauen Augen in meinem Herzen aufflammen.
Ich senke den Kopf, schließe die Augen und kann doch nicht aufhören, an Hannah zu denken. Und an Lena. Auch wenn Hannah meinte, sich nicht an den Traum oder an eine Frau mit diesem Namen erinnern zu können, zieht sich in meinem Magen doch alles zusammen, wenn ich diese vier Buchstaben vor meinen Augen tanzen sehe. Ich habe so viele Fragen, so viele Hoffnungen und Ängsten. Aber ich weiß, dass Hannah mir keine Antworten gebe, mir diese Gefühle nicht nehmen kann, solange die Erinnerungen an ihre Vergangenheit ausgelöscht sind. Und das quält mich in diesem Augenblick womöglich genau so sehr, wie es sie selbst quält.
Ein leises Piepen reißt mich aus meinem Gedankengang. Ich greife nach dem Handy in meiner Hosentasche und öffne den Chat mit Svenja.

Svenja: Ich bin momentan bei meinen Eltern auf dem Land. Ich komme morgen. Dann können wir reden.

Auch, wenn ich froh über ein Lebenszeichen von ihr bin, kann ich nicht sagen, dass diese Nachricht den Wirbelsturm aus Gefühlen in mir legt. Ganz im Gegenteil, er wird nur noch heftiger. Denn mit einem Gespräch mit Svenja kommen auch die Fragen nach unserem Zusammenzug und dem Stand unserer Beziehung. Fragen, auf die ich aktuell selbst kaum Antworten weiß. Leider befürchte ich, dass ich diese Antworten auch nicht finden werde, solange sich etwas tief in mir noch immer so stark zu Hannah hingezogen fühlt und ich keinen Weg finde, diese Gefühle abzustellen.
„Maja, wollen wir? Ich habe einen Bärenhunger."
Ich drehe mich um und bekomme bei dem strahlenden Lächeln, das auf Hannahs Lippen liegt, sofort Bauchkribbeln.
Ach Hannah, was machst du nur mit mir?
„Na dann, wollen wir dich mal nicht verhungern lassen!"


Nach dem Frühstück checken wir aus dem Hotel aus und nehme die nächste Fähre, die uns auf das Festland bringen soll. Hannah ist deutlich anzusehen, wie unwohl sie sich fühlt, weshalb ich sie mit gezielten Fragen zu ihrer Arbeit im Auktionshaus abzulenken versuche.
Als wir wieder festen Boden unter den Füßen haben, atmet sie erleichtert auf.
„Du kannst das wirklich gut, weißt du?"
„Was meinst du?"
„Mich ablenken und dafür sorgen, dass ich mich besser fühle."
Ich kann nicht anders, als bei diesen Worten glücklich zu grinsen.
„Naja, du kannst das auch ziemlich gut", erwidere ich und spiele damit auf die letzte Nacht an, in der mich Hannah mit ihren beruhigenden Worten und tröstenden Berührungen in den Schlaf gewiegt hat. Auch, wenn ich ungern über letzte Nacht sprechen möchte, mag ich ihr doch dafür danken, dass sie so selbstverständlich für mich da war.
Wir kommen vor einer Ampel zum Halten, doch bevor ich zu weiteren Worten ansetzen kann, fällt mein Blick auf den linken Straßenrand. Vor einem kleinen Café haben duzende Menschen Platz genommen, um bei einer Tasse Kaffee die strahlende Morgensonne zu genießen. Und doch fällt mein Blick sofort auf ein mir so vertrautes Augenpaar. Ich hätte sie unmöglich übersehen können, hätte unmöglich meine Blicke von den beiden Frauen abwenden können, die einander mit leuchtenden Augen gegenübersitzen und an den Lippen der anderen kleben.
„Ist das nicht...?"
„Svenja, ja", beende ich Hannahs Satz, die meinem erstarrten Blick gefolgt sein muss.
Nur die Frau ihr gegenüber ist mir fremd.

Forgotten LoveWhere stories live. Discover now