Kapitel 28

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September 2019.

Es war der 12. September. Ich weiß es plötzlich ganz genau. Nicht, weil das Datum in großen, unheilvollen Ziffern auf meiner Patientenakte steht. Nicht, weil ich seit diesem Datum Tag um Tag im Krankenhaus verbracht habe. Nicht, weil sich an diesem Datum mein altes Leben in ein finsteres, schwarzes Nichts verwandelte.
Sondern weil ich es sehe. Ich sehe die Bilder dieses Tages vor mir, klar und so scharf, als wäre es keine Erinnerung, sondern ein Moment, den ich im Hier und Jetzt erlebe. Ich erinnere mich an die Stunden vor dem Unfall, als wäre es erst gestern gewesen. Und plötzlich weiß ich, warum sich all die Monate nach diesem Tag wie eine hässliche Lüge angefühlt haben.
Ich wollte an diesem 12. September in den Urlaub aufbrechen. Zwei Wochen auf Kreta, zusammen mit einer Freundin, die ich noch aus meiner Schulzeit kannte. Christoph lebte da bereits seit drei Wochen im Hotel und kam nur gelegentlich vorbei, um sich neue Sachen aus dem Kleiderschrank zu holen. Ich achtete stets darauf, an diesen Tagen nicht Zuhause zu sein. Ich wollte ihn nicht sehen, wollte keine Diskussionen mehr darüber führen, warum es sich seiner Meinung nach für unsere Ehe zu kämpfen lohnte. Für mich stand fest, dass ich keinen Tag mehr an seiner Seite leben wollte. Christoph sah das anders. Er war fest davon überzeugt, dass sich unsere Liebe erst seit dem Tod unserer Tochter in einer Abwärtsspirale befand und dass man das mit einer paar Sitzungen bei einem der besten Paartherapeuten der Stadt wieder kitten könnten. Ich wusste es besser. Denn nachts, wenn das Leben um mich herum so still und meine Gedanken ganz laut waren, da schrie mein Herz nach ihr. Selenzerschmetternd und ohrenbetäubend laut verzehrte es sich noch immer nach Maja. Das war der Grund, warum eine Liebe mit Christoph so aussichtslos schien.
Mein Blick glitt an diesem 12. September wie so oft zu der hölzernen Kommode in meinem Schlafzimmer. Und wie so oft konnte ich dem Drang nicht widerstehen und öffnete das oberste Schubfach, griff nach dem kleinen Heft, das ganz oben lag. Ich sah auf das Ultraschallbild herab, fuhr die Umrisse meines Babys nach, das kaum als das zu erkennen war. Dann fragte ich mich, wie sie wohl heute aussehen würde, wie unser gemeinsames Leben verlaufen wäre, wenn sie damals nicht von uns gegangen wäre. Und mit diesen Gedanken kam der Schmerz, das tat er immer. Und ich hieß ihn Willkommen, spürte, wie Welle um Welle über mich einbrach, mein Herz verkrampfte, mein Körper erzitterte. Dieses Gefühl war mir bereits so vertraut, erinnerte mich täglich an diesen Verlust, den zu vergessen unmöglich schien. Deshalb wehrte ich mich nicht mehr dagegen.
Wogegen ich mich aber stets auflehnte, war die Scham, die sich manchmal ihren Weg an die Oberfläche grub, wann immer ich über eine Zukunft sinnierte, die nie eintreffen würde. Scham darüber, dass ich mich von Christoph erpressen ließ, meine Liebe zu Maja aufgab, aus Angst vor den Konsequenzen, die er mir versprach. Dabei erschien es mir an diesem 12. September und auch an vielen, vielen anderen Tagen der vergangenen Jahre gar nicht so unmöglich, ein Leben mit Maja zu leben. Vielleicht hätten wir eine kleine, glückliche Familie werden können. Aber die Frage danach stellte sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr, denn mein Kind war tot und meine Liebe des Lebens verschwunden. Trotzdem kam die Scham immer und immer wieder, erinnerte mich stets daran, wie feige ich war, mich meiner Angst so haltlos hinzugeben. Und dieses Gefühl war so ekelerregend, so vernichtend, dass ich es einfach nicht ertrug.
Ich schloss das Schubfach wieder, vergrub die Trauer und die Scham irgendwo tief in mir, versuchte sie nicht mehr zu spüren. Ich fixierte meinen Blick auf einen Punkt im Zimmer und atmete. Ich atmete einfach. Es vergingen Minuten, bis ich das Gefühl hatte, mit den Dingen fortfahren zu können, von denen ich mich hatte ablenken lassen.
Meine Koffer packen. Die Reise planen. Den Schmerz weg atmen. Nicht an Maja denken.
Also verbrachte ich die nächsten Stunden damit, meine Sachen für unsere zweiwöchige Auszeit zurechtzulegen und in den Reisekoffern zu verstauen. Die Nacht brach an diesem spätsommerlichen Septembertag bereits ein. Durch die Fenster konnte ich sehen, wie sich ein Unwetter am Himmel zusammenbraute, Sturm und Regen versprach. Doch im Herzen lag ich längst am Strand, unter der warmen Sonne Griechenlands.
Als meine Koffer gepackt waren und die Erschöpfung langsam über mich einbrach, machte ich das Abendessen warm, das unsere Köchin liebevoll zubereitet hatte. Ich entschied, es zusammen mit einem Glas Rotwein im Wohnzimmer zu genießen und währenddessen in eines der vielen Reisebücher zu blättern, die mein zukünftiger Ex-Mann in seinem Büro hortete.
Das Büro lag direkt neben dem Schlafzimmer und doch war es ein Zimmer, das ich nur äußerst selten betrat. Es war allein Christophs Reich, was er mir auch gerne zu verstehen gab. Dass ich das Zimmer an diesem Septembertag trotzdem betrat, sollte mein ganzes Leben verändern.
Ein massiver Tisch aus Eichenholz, deckenhohe Bücherregale und ein altes, ledernes Sofa schmückten den kleinen Raum. Regen peitschte gegen die Fenster, während leise das raue Pfeifen des Windes zu hören war. Eine eisige Gänsehaut legte sich auf meine Arme und ein ungutes Gefühl überkam mich. Meine Schritte beschleunigten sich etwas, als ich auf eines der Regale zuschritt, in denen Christoph seine Bücher über die fernen Länder und Kontinente beherbergte. Ich überflog die Einbände und entdeckte schließlich drei Werke, die von Kreta handelte. Ich zog sie nacheinander aus dem Regal, überrascht darüber, dass sich dahinter etwas weiteres offenbarte. Ein Umschlag, braun und leicht zerknittert, kam zum Vorschein. Ich griff danach, ohne wirklich darüber nachzudenken.
Privat. Nicht öffnen!
Die Worte, die eindeutig Christoph geschrieben hatte, hätten eine Warnung sein sollen. Es ging mich nichts an, was sich darin verbarg. Vielleicht waren es pure Neugierde oder eine leise Vorahnung, die mich dazu verleiteten, den Umschlug trotzdem zu öffnen.
Zum Vorschein kamen weitere, kleinere Briefumschläge. Viele Briefumschläge. Alle ungeöffnet.
Mein erster Impuls war es, den Umschlag sofort wieder zu schließen. Von wem auch immer diese Briefe stammen, sie waren sicher nicht für mich bestimmt. Doch bevor ich diesem Gedanken folgeleisten konnte, segelte einer der kleinen Briefumschläge zu Boden. Ich bückte mich, griff danach und las die Worte, die mit einer feinen, filigranen Schrift dort geschrieben standen.
Hannah Thompson
Darunter eine Adresse, meine Adresse.
Und ich begriff sofort, wessen Hand sie geschrieben hat. Maja.
Mein Herz hämmerte wild in meiner Brust, während mein Verstand verzweifelt zu begreifen versuchte, was das zu bedeuten hatte.
Briefe. An mich adressiert. Von Maja. In Christophs Büro.
Die Wahrheit, die sich mir langsam offenbarte, erschütterte mich, lähmte mich und ließ mich voller Wut zurück. Wut auf ihn, der mir so viel mehr nahm, als nur diese Briefe. Er nahm die Chance auf eine Wahl, die ich hätte treffen können, wenn ich diese Briefe damals gelesen hätte. Eine Wahl, die auf Maja gefallen wäre. Auf die einzige und wahre Liebe meines Lebens.

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