Kapitel 18

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Es vergehen drei Tage. Drei Tage, in denen ich mit aller Macht versuche, mich in die einzige Welt zu flüchten, in der ich ohne Atemnot zu bekommen existieren kann. In meine Arbeit.
Vielleicht ist es nicht gesund, von sieben Uhr morgens bis spät in der Nacht in der Praxis zu sitzen, das schmerzhafte Pochen in meinem Kopf und die dicken, dunklen Ringe unter meinen Augen zu ignorieren. Aber ich kann nicht anders. Wenn ich Zuhause bin, mich ins Bett lege und die Augen schließen, drehen sich meine Gedanken so lange im Kreis, bis mir von der rasenden Geschwindigkeit schwindelig wird. Dann richte ich mich im Bett auf und betrachte mein verzerrtes Spiegelbild im Kleiderschrank. Und dann wird mir klar, dass sich mein Leben und meine Gefühle in den letzten Wochen so sehr verändert haben, dass ich die Frau im Spiegel kaum wiedererkenne.
Ich habe Svenja verloren. Die Frau, von der ich dachte, dass unsere Liebe echt wäre. Doch das war sie nicht, denn wir haben einander betrogen. Ich sie mit dem Herzen. Sie mich mit ihren Lippen. Und ich weiß nicht, ob eines der beiden tatsächlich schlimmer als das andere ist.
Dann schließe ich wieder die Augen, bin unendlich müde und kann doch nicht einschlafen. Denn es fällt unheimlich schwer, sich in das Land der Träume fallen zu lassen, wenn sich dein Herz immer wieder sehnsuchtsvoll zusammenzieht, wie ein nasser Schwamm, aus dem man jeden Tropfen Wasser herausbekommen möchte. Und dann sehe ich Hannah vor mir. Ihr bezauberndes Lächeln. Ihre leuchtenden, vom Leben erfüllten Augen. Der sinnliche Schwung ihrer Lippen.
Und dann fühle ich mich schäbig, wie eine Verräterin, weil ich mich nach Hannah sehne, obwohl es Svenja ist, die ich nach unserer Trennung vermissen sollte. Bin ich wirklich so verkorkst?
Ich bin müde. Ich bin müde davon, mich mit all diesen verworrenen, zehrenden Gefühle auseinanderzusetzen, die mir nachts den Schlaf rauben und am Tage immer wieder von meiner Arbeit ablenken, in die ich mich mit all meinen Kräften zu flüchten versuche.
Auch heute ist es schon weit nach zweiundzwanzig Uhr, als ich über meinen Schreibtisch gelehnt ein schwaches Klopfen an der Praxiszimmertür vernehme. Einen Augenblick lang überlege ich, ob ich das Geräusch nicht einfach ignorieren könnte, aber als die Tür ohne Aufforderung aufgestoßen wird, ist es bereits zu spät. Ich muss innerlich aufseufzen, als ich die schweren Schritte vernehme, die sich mir unverwandt nähern. Valentin. Wenn es Leonie gewesen wäre, dann hätten wir uns beide mit einem Glas Wein auf die Couch kuscheln und einander anschweigen können. Aber mein Onkel schweigt nicht gerne. Und wenn er sieht, dass etwas mit mir nicht stimmt, dann setzt er alles daran, mir den Schmerz aus meiner Seele zu entlocken.
Ich halte die Augen weiter auf die Unterlagen vor mir gesenkt, als sich eine Tasse mit einer dampfenden Flüssigkeit in mein Blickfeld schiebt.
„Hier! Ich dachte, die könnte dir vielleicht guttun."
Valentins warme, sorgende Stimme legt sich wie ein heilendes Tuch über meinen kalten Körper und hinterlässt eine kaum merkliche, aber angenehme Regung in mir.
Ich hebe den Blick nur kurz, schenke ihm ein dankbares Lächeln und richte meine Konzentration dann wieder auf den Schreibtisch.
Ich höre meinen Onkel etwas Unverständliches murmeln, ehe er sich schwerfällig auf den Besuchersessel mir gegenüber niederlässt.
„Du siehst müde aus", kommentiert er, schafft es dabei aber irgendwie, diese scheußlichen Worte nicht wie ein Vorwurf klingen zu lassen.
Ich will protestierend mit dem Kopf schütteln, aber als mir klar wird, dass sich dieses Gespräch dann nur noch mehr in die Länge ziehen wird, halte ich mich doch davon ab.
„Ich weiß", erwidere ich stattdessen. „Ich kann zurzeit nicht gut schlafen."
„Warum nicht? Weil sich dein Herz nach etwas verzehrt, das dein Kopf dir nicht zu fühlen erlaubt?"
Ich hebe den Blick, vorsichtig, zaghaft, während seine Worte wie heiße Lava in mein Bewusstsein sickern. In Valentins Augen liegt das stumme Schimmern der Erkenntnis, als hätte meine Reaktion allein ihn die Antwort auf seine Frage gegeben.
Ich räuspere mich ungeschickt. „Du weiß von der Trennung?", krächze ich und erschrecke mich selbst über den leidenden Tonfall in meiner Stimme.
Valentin nickt. „Leonie hat sich Sorgen um dich gemacht und mir die Geschichte von deinem letzten Wochenende anvertraut. Ehrlich gesagt bin ich schockiert über die Art und Weise, auf die Svenja ihren Seitensprung zu rechtfertigen versucht hat."
Ich kann seiner Stimme einen Schimmer Verachtung entnehmen, die er offensichtlich Svenja gegenüber empfindet.
„Ich bin nicht besser", erwidere ich und erwische mich dabei, wie ich das rücksichtslose Verhalten meiner Ex-Freundin zu mildern versuche. Dabei hat es weh getan, sogar sehr. Vor allem ihre Anschuldigung, dass ich allein die Schuld für ihr Handeln trage. Aber nicht ich war es, die sie dazu gezwungen hat, sich an den nackten Körper einer anderen Frau zu pressen. Das war ihre eigene, leider sehr bewusste Entscheidung.
Valentin sieht misstrauisch seine rechte Augenbraue hoch, während er sich tiefer in den Sessel fallen lässt. „Das glaube ich nicht, Maja. Denn es ist ein Unterschied, ob man sich der Sünde hingibt oder nur darüber nachdenkt."
Ich seufze auf. Seine Worte wecken Gedanken in mir, die ich lieber noch eine Runde schlafen schicke möchte. Aber ich weiß, dass Valentin das nicht zulassen wird.
Also stehe ich auf, gehe um den großen Tisch herum und lasse mich auf den Sessel neben dem meines Onkels nieder. Während sich ein gewinnendes Lächeln auf dessen Lippen abzeichnet, greife ich nach der Tasse Tee und führe sie an meine Lippen.
„Ich hätte nicht gedacht, dass das so einfach wird", amüsiert er sich.
„Du gibst ja doch keine Ruhe, oder?"
„Niemals. Schließlich geht es um deine mentale Gesundheit. Und ich bin Arzt und dazu verpflichtet, meinen Patienten zu helfen."
„Ich könnte mich selbst therapieren", erwidere ich.
„Indem du vor deinen Gefühlen davonrennst? Inwieweit soll dich das gesund machen, Liebes?"
Für einen Moment gebe ich der Stille um uns etwas Raum, während ich darüber nachdenke, welche Antwort ich meinem Onkel geben könnte. Ich entscheide mich schließlich für die schmerzhafte, aber aufrichtige Wahrheit.
„Es ist einfacher, davonzulaufen, als sich dem zu stellen, was dir so unsagbare Angst bereitet."
Valentin stützt sich mit dem rechten Elenbogen auf der Couchlehne ab und lässt seinen Kopf in die Handfläche fallen. Er zieht die Stirn in Falten und sieht durch mich hindurch, als wäre ich ein offenes Buch mit hunderten von Seiten, die er ohne weiteres zu lesen weiß.
„Und was ist, wenn du so weit gerannt bist, dass du nicht mehr den Weg zurückfindest? Oder du es irgendwann über dich bringst, dich deiner Angst zu stellen, es aber längst du spät ist?"
Ich versuche, zu entschlüsseln, was er mir zu sagen versucht, werde aber beim besten Willen nicht schlau aus seinen Sätzen.
„Was ist, wenn Hannah längst wieder in Hamburg ist, wenn du dich endlich dazu entschieden haben solltest, dem Willen deines Herzens eine Chance zu geben?", wählt er seine Worte nun deutlicher.
Ich schnappe unbewusst nach Luft, als ich ihren Namen aus seinem Mund höre, während Valentin mich mit einem so liebevollen Ausdruck betrachtet, dass ich nicht weiß, worauf ich mich zuerst konzentrieren soll.
„Woher weißt du überhaupt von...?" Ich muss ihren Namen nicht aussprechen, denn ich bin mir sicher, dass er sich in dicken, roten Buchstaben auf meinen Wangen abzeichnet.
„Liebes, ich habe Augen im Kopf. Ich erkenne einen Verliebten, wenn er vor mir steht. Vor allem, wenn es ein so Hoffnungsloser ist wie du."
Valentin zwinkert mir spitzbübisch zu, während seine Lippen ein warmes Lächeln tragen. Ich schnaube empört, weil ich nicht glauben kann, dass mir meine Gefühle für Hannah tatsächlich so offensichtlich anzusehen sind. Ich lasse den Kopf in meine Hände sinken und genieße für einen Augenblick die Schwärze um mich herum, die einen so beruhigenden Effekt hat, dass ich nach wenigen Sekunde wieder das Gefühl habe, normal atmen zu können.
„Tja, dann kannst du dir sicher auch vorstellen, warum ich lieber vor meinen Gefühlen davonrenne. Hannah hat mich schon einmal verletzt und ich glaube, die Wunden, die sie auf meinem Herzen hinterlassen hat, sind nie wirklich verheilt. Ist es nicht, als würde ich ohne zu zögern in ein offenes Messer laufen, wenn ich mich ihr jetzt wieder hingebe? Außerdem habe ich mich gerade erst von Svenja getrennt, ich kann doch jetzt nicht..."
Valentin, der seine Hand unvermittelt auf meine legt und sich ein Stück weit zu mir vorbeugt, lässt mich mitten im Satz innehalten.
„Du kannst nicht verdrängen, was du wirklich fühlst, Maja. Das ist, als würdest du die Augen verschließen und denken, dass das, was du kurz zuvor noch gesehen hast, jetzt plötzlich nicht mehr da ist. Lieben heißt mutig sein. Und ich kann dir versprechen, wenn du heute nicht mutig bist, dann könntest du es morgen schon bereuen."
Seine Worte sickern in meine Seele, immer tiefer und tiefer, hinterlassen ein schmerzhaftes Brennen. Es ist die Gewissheit, dass ich mich jetzt nicht mehr länger selbst belügen kann. Denn Valentins Worte lassen tatsächlichen den bitteren Geschmack der Angst in meiner Kehle aufsteigen. Hannah zu verlieren, würde sich anfühlen, als würde man mir erneut das Herz aus der Brust reißen. Wie damals.
Es verwundert und berührt mich doch zutiefst, dass die Verbindung zu einem Menschen so stark sein kann, dass sich deren Verlust wie höllische Qualen anfühlt. Und das, obwohl ich schon so lange nicht mehr von ihren Lippen gekostet, so lange nicht mehr mit meinen Händen über die Schönheit ihres Körpers gewandert bin. Aber ihre Seele zu kennen, tief mit ihr verwurzelt zu sein, reicht aus, um mich für immer unwiderruflich an sie zu binden.
„Dieses Leben ist zu kurz, um seinen Gefühlen nicht zu folgen, Maja. Es ist zu wertvoll, um Liebe für sich zu behalten. Es ist ein Geschenk, dass du lieben kannst. Vergiss das nie!"
Mit diesen Worten steht er auf, streicht mir ein letztes Mal über die dünne Haut meiner Hand, ehe er sich gänzlich aufrichtet und der Tür entgegenläuft. Als er an dieser angekommen ist, kann ich nicht anders, als ihm die Frage zu stellen, die mich noch immer davon abhält, Valentins Rat wirklich nachzugehen.
„Was ist, wenn ich wieder verletzt werde?", wispere ich.
Mein Onkel lächelt.
„Du bist stärker als alle Schmerzen dieser Welt, Maja. Dein Herz ist stärker. Viel stärker als du glaubst. Du musst dich nur trauen."
Mit diesen Worten schließt er die Tür hinter sich und lässt mich verwirrt, zweifelnd, aber hoffend zurück.

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