Kapitel 11

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Cara

Danny Sawyer ist Jakes Bruder? Jetzt wo ich es weiß fange ich automatisch an, die beiden miteinander zu vergleichen. Sie besitzen beide ziemlich volles, wuscheliges Haar, obwohl es bei Danny deutlich dunkler ist, als bei Jake. Beide Nasen sind mit einigen wenigen Sommersprossen bedeckt. Obwohl Jake meerblaue und Danny lakritzschwarze Augen besitzt, kann ich zwischen den langen Wimpern und den pinkfarbenen Lippen weitere gewisse Ähnlichkeiten der beiden entdecken.

Jakes Wangenknochen sind zwar ausgeprägter als Dannys, aber trotzdem haben sie eine ähnelnde Gesichtsform. Ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen, wenn sie etwas nicht verstehen oder tief in Gedanken versunken sind. Sie werden beide rot, wenn sie unter Stress stehen, soweit ich das bis jetzt mitbekommen habe, und wenn sie nicht mehr weiter wissen, weiten sich ihre Nasenlöcher ein wenig. Nachdem ich die Beiden in meinem Kopf genau unter die Lupe genommen habe, herrscht dort trotzdem weiterhin ein riesiges Vakuum, bevor mein zermatschtes Gehirn endlich wieder anspringt und aus einem einzigen Grund sofort anfängt, Alarm zu schlagen: Wenn Danny Jakes Bruder ist und von seinem Vater geschlagen wird, dann liegt es nahe, dass auch Jake von seinem Vater...

Oh nein! Ich muss mich bemühen Ruhe zu bewahren, da ich ja eben erst versprochen habe, ihn nicht zu unterbrechen. Aber ich kann einfach nicht anders: ,,Danny hat mir alles erzählt," platzt es aus mir heraus und die Wut, die sich die ganze letzte Woche zu einer riesigen Welle in mir aufgestaut hat, löste sich in Luft auf und wird durch Mitgefühl und Hass ersetzt.

Hass auf diesen Menschen, diesen sogenannten Vater, der seine Kinder misshandelt, als wäre es das normalste der Welt. Solche Leute gehören eingesperrt, lebenslänglich.

Jake verschluckt sich an Luft und Spucke und fängt lautstark an zu husten: ,,W-was genau h-hat er dir erzählt?" will er wissen.

Ich beschließe, ein paar Schritte auf ihn zuzugehen und lege meinen Arm auf seine Schulter, wobei ich ganz genau spüre, dass er wie verrückt zittert.

Er hat sich nicht einmal entschuldigt und bereits jetzt habe ich ihm verziehen.

,,Ich habe blaue Flecken an seinem Körper erkannt und daraufhin hat er mir berichtet, dass sein Vater.. euer Vater ihn schlägt," murmele ich und fahre mit meiner Hand Jakes Rücken hoch und runter. Er schließt die Augen. Aber bestimmt nicht, weil er meine Nähe genießt, sondern einfach weil ihm alles zu viel wird.

Das weiß ich, als eine kleine Träne unter seinen dichten Wimpern zum Vorschein tritt und seine rote, makellose Wange herunter läuft. Hastig strecke ich meinen freien Arm aus und wische sie ihm mit meinem Zeigefinger weg, woraufhin er mich mit einem herzzerreißenden Blick ansieht: ,,Er.. ich... Danny... Danny wohnt noch zu Hause, er wird von unserem Vater geschlagen, das ist richtig. Und ich... ich... bin nicht mehr da um ihn zu beschützen. Aber ich musste gehen, hörst du?" Seine Augen bohren sich voll Panik in meine und er schüttelt meine Schultern, ,,ich bin kein Feigling, ich habe ihn nicht im Stich gelassen!" er fängt an zu schreien, sein schlechtes Gewissen wird mehr und mehr sichtbar, aber ich verstehe ihn.

Ich halte ihn keines Wegs für einen Feigling, einen Versager, nichts dergleichen. Jake hat in seinem Leben anscheinend ziemlich viel Mist mitmachen müssen, doch trotzdem ist er noch da, direkt neben mir, stärker als die meisten Menschen, die ich kenne und hat einen liebenswerten, guten Charakter. Er ist wundervoll. Für mich. Ich wünschte nur, er würde sich selbst so sehen, wie ich ihn sehe.

,,Unsere Mutter ist vor einiger Zeit bei einem.." Jake holt kurz tief Luft und stockt einige Sekunden, so als wäre er tief in Gedanken verloren, ehe er mühselig fortfährt: ,,bei.. einem Unfall verstorben und seit dem fahre ich immer dann wenn er mich braucht zu ihm. Ich bin immer für ihn da, er muss mir nur eine SMS schreiben und es dauert keine zehn Minuten, egal wo ich mich gerade befinde, ich hole ihn raus," entschuldigend, schon fast flehend starrt er mich an, ,,genau wie letzten Freitag."

Und an diesem Punkt bin auch ich fertig. Fertig mit meiner Enttäuschung ihm gegenüber, fertig mit meiner Trauer, weil er mich so einfach und ohne ein weiteres Wort stehen gelassen hat. Denn das hier, das ist viel wichtiger als ein dämlicher Kuss. Als unser dämlicher Kuss. Und nachdem ich ihm das auch versichert habe, schließt er mich eine ganze Zeit lang in eine feste Umarmung.

,,Danke," flüstert er irgendwann gegen meine Schulter, lässt mich aber noch immer nicht los. Ich nicke leicht, soweit ich das kann, aufgrund unserer starken Umarmung.

Der Raum verfällt wieder in seine ursprüngliche Stille doch Jake ist offensichtlich noch nicht fertig: ,,Und Cara?" ich löse mich von ihm, aber nur ein wenig, sodass ich ihm direkt in die glasklaren, blauen Augen blicken kann, ,,der Kuss war nicht dämlich," grinst er, ,,er war schön."
Und auch ich kann mir ein zufriedenes Lächeln nicht verkneifen.

Jake ist anders, stärker als die anderen aber gleichzeitig auch verletzlicher. Er hat einen besonderen Charakter und ich bin froh, ihn gefunden und ans Tageslicht befördert zu haben. Mehr muss er mir gar nicht erzählen. Es reicht mir zu wissen, dass er einen Bruder hat um den er sich kümmern muss, damit ich beruhigt schlafen kann, falls er sich mal wieder überstürzt aus dem Staub machen sollte. Und ich werde mit Sicherheit nicht weglaufen, egal was da noch alles kommt. Ich werde ihn unterstützen und ihm dabei helfen, Danny und auch sich selbst vor diesem Ekelpaket von Vater zu retten.

Koste es was es wolle.

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