Kapitel 07

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Cara

Als ich Jake vorhin zugesagt habe, habe ich wirklich mit allem gerechnet.
Das er mich in eine Kneipe führt, zu irgendwelchen Punkfreunden und sogar, dass er mich umbringen will, habe ich ihm zugetraut.

Aber garantiert nicht, dass er mich geschlagene zwei Stunden lang durch die huckeligsten, verwuchertsten Hecken dieser Stadt führt, über Berge, Hügel und verlassene Straßen, durch einen großen Wald, bis hin zu einer kleinen Brücke, die die einzige Verbindung zwischen West- und Südlondon ist und unter der sich ein reißender, dunkelblauer Fluss befindet.

Ich muss zugeben, wenn es nicht so unsagbar kalt und bereits dämmrig hier draußen wäre, würde ich es vielleicht sogar ein ganz klein wenig schön finden.
Okay, ich habe komplett gelogen. Es ist atemberaubend.

Ich vergesse ganz, wie weit ich eigentlich gerade gelaufen bin und wie unsagbar kalt mir überhaupt ist. Alles was ich sehe sind diese riesigen, grünen Weiten, die sich irgendwo in der Ferne langsam mit dem halbdunklen Himmel vermischen, das klare, dunkelblaue Wasser unter mir und die feinsäuberlich zu gesägte Holzbrücke, auf der wir stehen.

Und für wenige Sekunden lang fühle ich mich, wie Alice im Wunderland.

Aber dann fängt Jake an zu sprechen und meine Seifenblase platzt: ,,Ich komme oft hierher."

Kein Wunder, seine schöne Stimme passt perfekt zu dem beruhigenden Rauschen des Flusses.

Natürlich wären es jetzt wieder die oberflächlichen Menschen, die sich fragen und wundern würden, was so jemand wie Jake hier in der Natur macht, wenn er doch viel eher in eine Kneipe gehört.

Und auch ich bin am Anfang ein wenig ins Grübeln geraten. Doch seit dem er mir zum ersten Mal in der Pausenhalle über den Weg gelaufen ist sehe ich etwas in ihm, das für eine andere Theorie spricht.

Jake mag zwar angsteinflößend aussehen und kalt wirken, aber das ist er nicht. Vielleicht versuche ich auch nur, mir das Ganze hier schön zu reden und Gründe dafür zu finden, wieso ich ihm so schnell und ohne nachzudenken vergeben habe, doch ich bin mir sicher, dass er nicht der Mensch ist, der er vorgibt zu sein.

Aber wer ist das heut zu Tage überhaupt noch?

,,Es ist schön hier," flüstere ich leise, immer noch ergriffen von der umwerfenden Umgebung.
Ein leichtes Lächeln bildet sich auf Jakes Lippen, während er sich mit den Ellenbogen auf dem Geländer der Brücke abstützt und den Lockenkopf in seinen Händen vergräbt.

,,Hier kann man so gut nachdenken," nuschelt er begeistert, woraufhin ich ihm mit einem stillen Nicken zustimme.

Und plötzlich spüre ich das unbändige Verlangen danach, zu wissen worüber er hier immer nachdenkt. Was seine Vorlieben sind, seine Hobbys, seine Lieblingsfarben.

Wofür er lacht, wofür er lebt. Einfach alles. Er soll reden, all das, was ihm scheinbar seit Jahren auf der Zunge liegt, aber nie wirklich geschafft hat, seinem Mund zu entkommen, soll heute, jetzt und hier enthüllt werden.

Es vergehen weitere Minuten und ich habe mein Zeitgefühl total verloren, als hätten alle Uhren dieser Welt angehalten. Ich weiß nicht, wie lange wir noch auf dieser Brücke stehen. Wie lange wir lachen, schweigen und uns angrinsen. Wie lange wir reden, uns austauschen und dumme Witze machen.

Stirb Mit MirWhere stories live. Discover now