Langsam schlängelte sich der lange Tross einer Schlange gleich über die sanften Hügel der Ebene. Sie kamen kaum voran. Die meisten Menschen gingen zu Fuß, lediglich die Soldaten des Königs saßen auf ihren Pferden. Sie wandte sich wieder um. Vor sich in einiger Entfernung sah sie Théoden reiten. Er führte den Zug an.
Mit der Zeit wechselte das Gelände. Die Hügel wurden höher und Berge ragten neben ihnen auf. Einige Stunden liefen sie nun schon ihrem Ziel entgegen. Die Kinder begannen zu quengeln. Der weite Weg drückte auf die Gemüter der Menschen. Gespräche, die noch zu Beginn der Reise geführt wurden, waren verstummt. Das hielt Gimli, der etwas vor ihr hoch zu Ross saß allerdings nicht davon ab, fröhlich vor sich hin zu reden. Éowyn, die das Tier führte, war dabei sein Hauptgesprächspartner. Sie selbst, wie auch Aragorn und Legolas waren erstaunt gewesen, als der Zwerg es nicht abgelehnt hatte, auf einem eigenen Pferd zu reiten.
„Es stimmt schon, viele Zwergenfrauen sieht man nicht. Außerdem sind sie uns in Stimme und Erscheinung so ähnlich, dass man sie oft für männliche Zwerge hält", erzählte er und lachte.
Éowyn sah sich fragend zu ihr und den beiden Männern um. Wahrscheinlich war sie sich nicht sicher, was sie davon halten sollte.
„Das liegt an den Bärten", raunte Aragorn ihr vom Pferd aus zu und brachte die junge Frau damit zum Lächeln.
„Tja und daraus ist der Trugschluss entstanden, dass es gar keine Zwergenfrauen gibt und dass Zwerge einfach so aus Erdlöchern schlüpfen", plauderte Gimli fröhlich weiter. Anscheinend hatte er Aragorns Bemerkung nicht gehört.
Éowyn lachte.
„Was natürlich lächerlich ist", fügte der Zwerg hinzu.
Ohne Vorwarnung riss sich das Pferd, auf dem er saß, los und brachte ihn damit zum Schweigen. Das Tier lief wenige Schritte, ehe es sich seines Reiters entledigte. Ivriniel musste lachen. Der Zwerg bot aber auch einen amüsanten Anblick, wie er wie ein Käfer auf dem Rücken im Gras lag, hilflos mit den Armen und Beinen strampelnd.
„Alles gut. Keine Panik", sagte er vom Boden aus.
Éowyn war so freundlich, ihm aufzuhelfen und ihm die trockenen Grashalme von der Kleidung zu zupfen. Lachend drehte sie sich zu ihnen um. Wenn Ivriniel ihren Blick richtig verfolgt hatte, galt er allerdings lediglich Aragorn.
„Das war Absicht, das war Absicht", versicherte Gimli immer wieder, weigerte sich aber trotzdem wieder auf das Pferd zu steigen. Sie schmunzelte über den Zwerg, der nun den Weg zu Fuß fortsetzte. Auch sie selbst stieg von ihrem Pferd um Éowyn Gesellschaft zu leisten. Sie ließen sich ein wenig zurückfallen.
„Erzählt mir von Eurem Freund, der gestorben ist", bat die junge Frau sie.
Überrascht sah Ivriniel sie an. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es Éowyn interessieren würde.
„Sein Name war Anion", setzte sie schließlich an.
„Ich war gerne im Wald unterwegs. Es gibt dort einen See, dessen Wasser so klar wie der Himmel ist und in der Nacht spiegeln sich die Sterne darin. Es war mein Lieblingsplatz und ich ging oft dorthin. Dort trafen wir uns. Der Ort war schließlich kein Geheimnis. Ich hatte ihn schon oft gesehen, doch wirklich gesprochen hatten wir nie. Das allerdings änderte sich an jenem Tag am See. Wir sprachen über dieses und jenes, über Wichtiges und Unwichtiges, über Träume und Vergangenes über den Wald, die Vögel, das Wasser und den Wind."
„Es klingt, als hättet ihr euch sehr nahe gestanden", merkte Éowyn an.
Ivriniel nickte.
„Habt Ihr ihn geliebt?", fragte die junge Frau.
„Nein." Sie schüttelte lachend den Kopf.
„Unser Verhältnis war rein freundschaftlich. Ich glaube, ich hätte mich gefreut, wenn er der Partner meiner Seele gewesen wäre, aber das war nicht der Fall und ich war auch nicht böse darüber. Im Gegenteil: Ich hörte ihm gerne zu, wenn er von der Elbe sprach, von der er schwärmte. Sie war sehr hübsch und anmutig. Ein jeder sah es gern, wenn sie im Mondschein tanzte. Ich freute mich für ihn, als er schließlich mit ihr den Bund einging, wenngleich ich zugegeben etwas neidisch war, da er nun weniger Zeit mit mir verbrachte." Sie lächelte.
„Aber erzählt mir von Euch. Habt Ihr Euren Partner schon gefunden?"
Éowyn sah sie überrascht an.
„Möglicherweise", entgegnete sie vorsichtig.
Ivriniel folgte ihrem Blick, den sie kurz nach vorn schweifen ließ. Er traf eine Gruppe von Reitern, die sich in kurzer Entfernung vor ihnen befand. Darunter waren auch Aragorn und Legolas, sowie Gimli, der neben den Pferden lief. Sie dachte an den kurzen Blickwechsel, den sie zuvor zwischen der jungen Frau und Aragorn zu beobachten geglaubt hatte. Konnte es sein, dass die Nichte des Königs von Rohan sich in den Erben Elendils und damit den wahren König Gondors verliebt hatte? Falls dem so wäre, sollte sie der jungen Frau sagen, dass das Herz dieses Mannes längst vergeben war? Lieber nicht. Ein jeder verdiente es, zu träumen und zu hoffen. Möglicherweise war Hoffnung das einzige, was den Menschen in diesen dunklen Tagen helfen konnte.
Sie lächelte Éowyn an und wechselte das Thema.
Als der Abend hereinbrach, machte man Halt. Die Feuer wurden entzündet und in den Töpfen begannen Fleisch und Gemüse zu kochen. Zelte wurden von denen aufgeschlagen, die welche hatten, doch viele der Menschen blieben unter freiem Himmel oder suchten unter einem überhängenden Felsen Schutz vor möglichem Regen. Éowyn hatte sie in ihr Zelt eingeladen. Es stand zentral in ihrem kleinen Lager, direkt neben dem des Königs. Sie wartete ab, bis es still wurde und Éowyns ruhiger Atem ihr sagte, dass die junge Frau eingeschlafen war, ehe sie das Zelt verließ.
Die Nacht war klar. Das Licht der Sterne und des zunehmenden Mondes erleuchteten ihr den Weg aus dem Lager hinaus. Vorsichtig, um nicht zu fallen, erklomm sie einen Felsen, dann einen weiteren. Als sie sich umblickte, lagen die Feuer des Lagers bereits tief unter ihr. Sie setzte sich auf einen Felsvorsprung und sah zu den Sternen auf. Ihr reines, weißes Licht ließ Ruhe in ihr Herz einkehren.
„Hörst du das?", fragte Gimli und stieß ihn mit dem Ellenbogen an.
Legolas nickte.
Sie saßen stillschweigend am Feuer und lauschten in die Nacht hinaus.
„Etwas so schönes habe ich noch nie vernommen", gestand der Zwerg gerührt.
„Es ist so traurig und doch unfassbar schön."
„Ein Lied für die Verstorbenen", sagte Legolas.
Auch an anderen Feuern hatte man die Köpfe gehoben und hörte bewegt zu. Er sah, wie einem Mann der Wache vor Théodens Zelt eine Träne die Wange hinunterlief.
Die Stimme, die leise von Ferne zu ihnen hinüber drang, war klar und rein und vermischte sich mit der Nacht. Dennoch verstand er jedes der Worte, gesungen in elbischer Sprache:
„Wo Dunkel lockt, gehst du den Pfad
von Licht berührt, vom Mond bestrahlt
und Sterne leuchten deinen Weg.
Hinauf an jenen höchsten Punkt,
wo die Sonne in das Meer sich tunkt,
an jenen fernen, sich'ren Steg.
Verlass mich nicht,
denn jenerzeit
begleitet uns
Unendlichkeit.
Im großen Meer der Welten stets
hast du gekämpft, hast du gelebt,
legst nieder du dich nun.
Und ich will mich erinnern dir,
des Freundes, der du gewesen mir,
in meiner Seele sollst du ruh'n.
Verlass mich nicht,
denn jenerzeit
begleitet uns
Unendlichkeit.
Verlass mich nicht,
denn jenerzeit
begleitet uns
Unendlichkeit."