Ocean Eyes [MERMAID!AU]

By xxFlasher2Nightxx

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"Ich darf doch sehr bitten! Meine Wenigkeit entspringt nicht Eurer blΓΌhenden Fantasie, sondern einem traditio... More

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By xxFlasher2Nightxx

Nach drei weiteren Wochen, in denen Harvey und Clayton wie angekündigt mehrmals zu der Hütte fuhren und sich nach einem kurzen Plausch mit Guiseppe um ihren vereinsamten und zurückgezogenen Freund kümmerten, beschäftigte sie die Frage nach seinem Überleben nicht mehr. Im Vordergrund stand jetzt die Sorge. Denn die blasse Silhouette die sie sehen mussten, ließ die Zweifel nur so sprühen. Er war nicht mehr der Ezra, den sie kannten. Statt sich mit Harvey über die sinnlosesten Themen zu unterhalten und sich mit Clayton Rap Battles zu liefern, durchzog eine bleierne Trübseligkeit seine gesamte Aura, die nicht besser wurde. Immer mehr zog er sich zurück und verschanzte sich in dem Bücherzimmer, vergaß an den Essenszeiten Guiseppe Gesellschaft zu leisten und schlief oftmals auf der Couch, wo ihn Guiseppe zudeckte und die kleine Lampe ausknippste.

Die Sonnenaufgänge wärmten ihn nicht mehr. Schon eine ganze Zeit lang verspürte er nichts anderes als Leere und innere Zerrissenheit. Er fühlte sich unvollständig, wie ein Puzzlestück das nicht ins Gesamtbild passte.

Cassian war kein einziges Mal gekommen.

Die Sonnenaufgänge schwanden von einem Zeitpunkt der Hoffnung zu einem Ort der Qualen, die Ezra still ertrug und sein blutendes Herz in seiner Brust umherschleppte. Cassian kam nicht. Cassian würde nicht mehr kommen. Nie wieder. Ezra hätte nicht untätig zusehen sollen wie ihm das Liebste genommen wurde - deswegen machte er sich schreckliche Vorwürfe. Weil Cassian für ihn kämpfte und Ezra im Moment des Ernstfalles nur reglos dastand und zuließ, dass Cassian für seine Selbstlosigkeit zu einem schlimmen Schicksal verschleppt wurde.

In all der Zeit, in der Guiseppe ihm ein Dach über den Kopf gewährte und sich um ihn kümmerte als wäre es sein eigenes Kind, hatte Ezra noch immer nicht mit ihm über die Hintergründe der Geschehnisse gesprochen, auch sonst zu niemandem ein Wort über die Reise durch den Ozean verloren. Er konnte mit niemandem darüber sprechen - selbst wenn Cassian weg war galt sein Versprechen noch, ihn vor den Menschen zu beschützen. Auch wenn dies bedeutete, er würde die ozeanblauen Augen nie mehr wieder sehen. Der einzige, mit dem er noch halbwegs Kontakt hielt und hin und wieder kleinere Gespräche führte, war Harvey und nicht einmal diesem vertraute er Details mit Bezug zu Cassian an. Er konnte nicht. Seine Gedanken kreisten permanent um den Blauhaarigen und das vermisste Lächeln, die Röte auf seinen Wangen wann immer sie die physische Distanz überbrückten und sich näher kamen. In beidseitigem Einvernehmen berührten sie einander, bewältigten ihre Abstammung mit einer solchen Leichtigkeit, dass es ihnen umso einfacher fiel, die entstehende Bindung zuzulassen. Die Gefühle in ihren Herzen aufblühen zu lassen, ihnen eine Chance gaben, obgleich diese Chance mit dem Schreiten in die Zukunft immer deutlicher verblasste.

Ezra hoffte und betete inständig, die Erinnerungen an Cassian würden nicht genauso enden wie diese entgleitende Zukunft. Eine Zukunft in der es einen Ezra zusammen mit einem Cassian gab, die sich sehen durften ohne eine Feindschaft auszulösen. Und inmitten dieser Illusionen und Vorstellungen glaubte Ezra nachzuempfinden, wie sich Romeo und Julia wohl gefühlt haben musste. Mit den verfeindeten Familien und den Auseinandersetzungen, zwischen denen irgendwo eine Liebe begann ihren längst verurteilten Lauf zu nehmen. Eine Romanze, die unweigerlich und von Beginn an zum Scheitern verurteilt war.

War Cassian Ezra's Julia? In übertragenem Sinne? Ezra teilte die Ansicht, dass sein Überleben einen Sinn haben musste - wofür die vielen Umstände und Mühen, wenn man seine Wenigkeit letztendlich doch nicht brauchte? Das konnte nicht möglich sein, Ezra musste und durfte nicht verzagen.

Er würde weiter warten.

Sonnenaufgang für Sonnenaufgang würde er für den Rest seiner Tage nah an der Brandung sitzen, inständig flehend sein Gefährte möge aus den Wellen auftauchen und zurückkehren. Ezra in die offenen Arme schwimmen, seine Zutraulichkeit ihm gegenüber nicht verloren haben und ihn mit demselben verliebten Blick begrüßen, mit dem er Abschied nehmen musste.

Ezra sprach es nicht laut aus, doch die Beziehung seiner beiden Freunde erinnerte ihn an das, was er verlor. Seine besondere Person. Und langsam aber stetig drohten die Hoffnungen und Zuversichten von Resignation und Enttäuschung überschattet zu werden.

*

*

*

„Irgendwas ist in ihm kaputtgegangen, was vor dem Unfall noch da war", meinte Harvey eines Tages trübselig zu den anderen beiden Menschen, als sich Ezra wie immer alleine abgesetzt hatte. Es war seit einigen Tagen seine tägliche Routine: sich aus dem Bett quälen, mit Harvey's mitgebrachtem Laptop und ein wenig Wasser ausgestattet das Haus verlassen und sich an den Strand absetzen. Wenn er einen Ort fand, an dem er einen kleinen Funken Inspiration oder Verbundenheit fühlte, hielt er an und verbrachte den Tag mit Schreiben. Das war es, was er den Freunden erzählte. Nicht mehr, nicht weniger. Dass Ezra in all den vielen Stunden zur Abwechslung keine Krimis oder Mordserien erfand, wussten sie nicht.

Nein.

Ezra hatte an diesem Punkt seines Daseins die Nase gestrichen voll von Geheimnissen, zerstörten Träumen und schlechten Enden. Jetzt wollte er zur Abwechslung ein schönes Ende haben, mit allem drum und dran. Kitschige Liebeserklärungen, romantische Dates. Sich über belanglose Kleinigkeiten streiten bis die Fetzen fliegen, nur um die Nacht mit andächtigen Liebesbezeugungen und reuevollen Versöhnungen zu füllen. Die bösen Worte mit Küssen überdecken. Die Zweisamkeit nachholen, die durch den Streit vergeudet wurde.

Ja, Ezra wollte statt eines perfekt ausgetüftelten Horrorszenarios eine mitreißende Romanze. Es kostete ihn anfangs sowohl Überwindung als auch Vorstellungsvermögen, Empathievermögen und ausnahmslos: Fantasie. Denn weil er sich an den Großteil der ersten Begegnung zwischen Mensch und Meerkind aufgrund seiner Ohnmacht nicht erinnern konnte, ging in der Dunkelheit die Wahrnehmung umso intensiver hervor. Ezra konnte den Gefühlen kein Gesicht zuordnen, bis er in ozeanblauen Augen ertrank. Darin versank. Und nicht mehr aus diesem Bann befreit werden wollte.

*

*

*

„Er hat sich in der Tat stark verändert", meinte Guiseppe eines Morgens, als er das Frühstück abräumte und Clayton ihm beim Abwasch half, während Harvey enttäuscht von der erneuten Abwesenheit seines besten Freundes das Gesicht in die Hände stützte. Harvey, der zwar so seine Vermutungen hegte und zu Ezra's Glück für sich behielt, seufzte.

„Stimmt - er ist so kalt geworden, im wahrsten Sinne des Wortes. In seinem Zustand hätte er dir vor'n paar Wochen noch Konkurrenz machen können, Honey", sprach der Jüngste die Gedanken aller aus und wie schon so oft konnte sich keiner erklären was mit Ezra eigentlich los war. Er allein kannte den Grund für sein abweisendes Verhalten.

"Aber wieso? Wieso ist er jetzt so?", grübelte Harvey laut und mit Tränen in den Augen und ließ sich von seinem Freund umarmen, der ihm wortlos Trost spendete. Die zwei hatten natürlich bemerkt, dass sich Ezra bei der bloßen Erwähnung seines alten Zuhauses verspannte und abblockte. Clayton realisierte, dass der Schwarzhaarige in seiner alten Existenz noch viel unglücklicher zu sein schien als ohnehin schon, selbst wenn er dies niemals laut ausgesprochen hatte, so wussten Harvey und Clayton von seinen zurückgehaltenen Bitten, ihn gehen zu lassen. Sich nicht mehr länger an ihm festzuhalten, denn er würde niemals wieder der Ezra vor zwei Monaten sein.

Nicht nachdem er sich in zwei ozeanblaue Augen verliebt hatte, dessen hinterlassener Affekt nicht abklang.

Ezra brauchte die Luft der See um sich, den klaren Ozean vor sich und das Wasser zwischen seinen Zehen, er wollte nicht gezwungen werden diesen Ort zu verlassen - diese Worte verließen nie seine Lippen, doch die langjährige platonische Liebe seiner besten Freunde war größer als Worte. Aus diesem Grund waren sie tatsächlich alle paar Tage zu dem Leuchtturm gefahren, hatten sich um Ezra gekümmert und ihm klargemacht, dass sie es verstanden. Harvey tat es, zumindest. Ezra vermisste eine ihm wichtige Person und schien diese Landzunge als einen entscheidenden Ort zu betrachten. Wer wäre Harvey, wenn er seinem besten Freund die Chance auf eine glückliche Zukunft entriss?

Der Jüngere konnte die Leiden und den leeren Ausdruck in den braunen Augen nicht ertragen. Für die jungen Freunde war es selbstverständlich, dass sie vorübergehend in die entfernte Ortschaft mitkamen und sich neue Jobs und eine kleine Wohnung suchten - der Schwarzhaarige sollte seinen Freiraum haben, um sich und seine wirren Gedanken zu sortieren. Ezra war ihr bester Freund und Teil ihrer eigenen kleinen Familie. Sie konnten ihn nicht einfach so gehen lassen, selbst wenn sie die verzweifelten braunen Augen um einen Abschied anflehten. Harvey tat es weh, nichts machen zu können und tatenlos mitansehen zu müssen, wie es seinem Sandkastenfreund von Tag zu Tag schlechter ging. Wer auch immer diese besondere Person war: sie lag Ezra fürchterlich am Herzen, wenn er sich so hängen ließ.

*

*

*

„Ich wünschte, ich wüsste es", schüttelte Guiseppe den Kopf und Harvey holte tief Luft: „Ich mach mir ehrlich gesagt seit längerem Sorgen um Ezra. Es passt nicht zu ihm, dass er so in sich gekehrt ist. Er frisst da was in sich hinein, was ihm nicht gut tut"

„Er braucht Zeit", meinte Clayton und legte einen Arm um seinen bekümmerten Freund, der sich an die starke Schulter lehnte und die Augen schloss. „Er wollte mit mir schon lange nicht mehr ins Kino gehen, dabei liebt er schrottige Horrorfilme und lässt sich keinen Patzer entgehen, über den er sich auslassen kann", hob Harvey bekümmert die Schultern. „Er ist total seltsam drauf. Früher hat er uns nie so lange die kalte Schulter gezeigt"

„Er zeigt uns doch nicht die kalte Schulter", warf Clayton unbedacht locker ein um Ezra in Schutz zu nehmen. Harvey hob eine Augenbraue und verschränkte die Arme. „Ach? Wie würdest du es denn nennen?", wollte er wissen und sah den Älteren sowohl anklagend, als auch abwartend an.

„Vielleicht schreibt euer Freund an einer Geschichte, die sein Durchbruch sein könnte? Da können Schriftsteller schon mal kautzig werden", kratzte sich Guiseppe nachdenklich den Kopf und zündete sich seine Lieblingspfeife an, nachdem er sich ächzend in seinen Sessel gesetzt hatte. „Clayton, was sagst du zu dem ganzen?", wollte der Brillenträger mit rauer Stimme wissen und den Freund in die Konversation miteinbeziehen.

Clayton jedoch schwieg und dachte nach.

Wenn er Ezra doch nur sagen könnte, wie leid ihm das alles tat...aber er würde nicht auf ihn hören. Clayton wusste, dass er derjenige war, der einen verschlossenen, teilnahmslosen Jemand aus seinem einst so fröhlichen, überdrehten besten Freund gemacht hatte und es seine Schuld war, dass sich sein Verhalten nicht nur auf seine Freunde sondern auch auf die kleine platonische Familie auswirkte. Er sprang wirklich gemein und grob mit ihm um, unterstellte ihm abscheuliche Dinge und das ohne zu wissen, was Ezra in den zwei Wochen seines Verschwindens erlebt hatte. Er beschloss noch einmal mit Ezra zu reden, und diesmal würde er ihn nicht in Ruhe lassen, wie er es schon so oft getan hatte als er kalt abgewiesen wurde. Harvey setzte die krieselnde Stimmung sehr zu und wenn die zwei in ihrem Bett in der Wohnung lagen, teilte der Jüngere seine beklemmenden Zweifel mit dem Älteren. Von wegen Ezra würde sich ihrer überdrüssig geworden sein, er wolle sie nicht mehr sehen.

„Ich muss was erledigen", verabschiedete er sich mit klopfendem Herzen und Harvey sprang alarmiert auf. „Ist das dein Ernst? Wir machen uns Sorgen um Ezra und du haust ab? Wie scheiße ist das denn? Ich brauch dich doch..."

Dem letzten Satz folgte ein unterdrücktes Schluchzen, was dem Älteren einen Pfeil in's Herz bohrte. Einen traurigen Harvey wollte er nicht zurücklassen, nicht wenn die Gesamtsituation dezent beschissen war.

„Ich hau nicht ab", seufzte Clayton leise und sah seinem Freund in die glasigen Augen, deren sanftmütigen Blick er beinahe verfallen wäre. Aber er musste etwas machen, anstatt faul hier herumzusitzen und auf bessere Zeiten zu hoffen. „Ich sagte, ich muss etwas erledigen. Wartet nicht auf mich"

„Worauf auf dich warten?", fragte Harvey offensichtlich beängstigt und Guiseppe runzelte ebenfalls verwirrt die Stirn, senkte seine Zeitung und blickte die beiden über den Rand seiner Lesebrille abwartend an. „Wenn ihr euch zerstreiten, ist keinem damit geholfen. Die Zeiten sind hart, doch das solltet ihr statt einem Hindernis lieber als eine Herausforderung sehen. Eine Probe, in gewisser Hinsicht"

Clayton nickte kurz, auch wenn er den Inhalt dieser Botschaft nicht verstand, drückte Harvey als Entschuldigung kurz an sich und senkte die Stimme: „Ich such nach dem Spinner und versuch, mit ihm zu reden". Als er bereits in der Tür stand, eilte ihm Harvey nach und umarmte ihn stürmisch, wollte sichergehen dass Clayton wusste, wie viel er ihm bedeutete. Und dass er wiederkommen sollte. Der innigen Geste folgte ein schüchterner Kuss auf die Wange, zusammen mit einem zurückgehaltenen Tränenpaar: „S-sei nicht zu streng mit ihm, hörst du? Er hat es nicht weniger leicht als wir..."

Clayton neigte verwirrt über diese Aussage den Kopf.

Harvey schmunzelte traurig. „Wir haben einander...und Ezra's besondere Person ist irgendwo da draußen"

*

*

*

Clayton war dankbar, dass er unterbewusst seine Sonnenbrille eingesteckt hatte, denn sonst würde er vermutlich wie ein Blinder den Strand entlang irren. Die verlassene Gegend barg eine nicht in Worte zu fassende Schönheit, einfach weil die abgelegenen Strände nicht menschenüberlaufen oder mit Hotels zugebaut waren. Die Stille und die Wellen, die gleichmäßig rauschend in der Brandung mündeten, besänftigte sein Gemüt und er verstand zum ersten Mal, weshalb Ezra täglich hier heraus flüchtete. Hier war man mit seinen Gedanken allein. Clayton erinnerte sich noch genau, wie sehr Ezra sich in einen ähnlichen Ort wie diesen verliebt hatte, damals ein Strand auf einer Urlaubsreise, und dass er dort auch entschieden hatte, Schriftsteller zu werden. Damals hatte Clayton über diese alberne Berufswahl gelacht, doch heute verstand er sie glasklar. Es war eine Möglichkeit, der realen Welt zu entfliehen und sich mit nur 26 Buchstaben des Alphabets eine völlig neue, völlig einzigartige eigene Dimension zu erschaffen. Keine Probleme.

„Ezra!"

Nicht weit von ein paar großen Felsen ragten vereinzelt Büsche aus dem Sand, deren Zweige sich in der Seeluft majestätisch räkelten und treiben ließen. In einem dieser Schatten entdeckte Clayton nach einiger Zeit des Suchens schließlich den schwarzen Haarschopf seines Freundes, wie er mit überschränkten Beinen Harvey's mit Stickern übersäten Laptop balancierte und seine Finger völlig in Gedanken versunken über die Tastatur tanzen ließ. Klackernd tippte er sich seine Seele aus dem Leib, erzählte dem digitalen Papier all die Dinge, die an niemandes Ohr dringen durften. Aber irgendwie musste der Herzschmerzgeplagte ein Ventil für seine Emotionen herstellen. Bei dem Ruf seines Namens hielt er inne, hob den Blick und dieser blieb an dem weiten, blauen Meer vor sich hängen. Die glitzernde Reflektion der Sonnenstrahlen. Das Rauschen des Windes, welches die Meerlaute im Hintergrund vervollständigte. Die prächtigen Schaumkronen, die aus dem tollkühnen Tosen der Brandung heraus entstanden. Clayton meinte zu sehen, wie sich Ezra's leere Miene mit Wehmut und Sehnsucht füllte, ehe diese Emotionen auch schon wieder verschwanden und die regungslose Maske zurückließen. Eine Hülle, die alles andere unter sich begrub.

„Ezra?", verlangsamte Clayton seine Schritte, doch er erhielt keine Antwort. Wie erwartet. Der Schwarzhaarige seufzte lediglich tief, wandte seine Augen wieder dem Laptop zu und fuhr fort, sein Werk zu tippen. Seitdem er sich mit Clayton so heftig gestritten hatte, wollte er ihm nicht mehr in's Angesicht blicken. Ein wenig aus Scham, ein wenig aus Schutzmechanismus.

„Kooks ich weiß, dass du mich hörst. Tu nicht so, als würdest du mich ignorieren", brummte der Ältere und erhielt endlich eine Antwort.

„Verpiss dich und lass mich in Ruhe"

Nun, es war immerhin eine Antwort. Damit konnte er leben.

„Gut, du hörst mich also wirklich. Hey mir tut das alles wirklich leid, was wir uns da an den Kopf geworfen haben. Wenn ich es rückgängig machen könnte...glaub mir, ich würde es tun", versicherte Clayton und schluckte bitter. Er hatte nur zweimal in seinem Leben so unsagbar große Angst gespürt. Das erste Mal, als er realisierte was er für Harvey tatsächlich empfand. Und das zweite Mal war der Moment, in dem Ezra vor seinen Augen in den Sturm gerissen und unter den wütenden Flutwellen begraben wurde. Nie wieder wollte Clayton diese manischen Zustände durchleben, in denen er vor Schock erstarrte. „Ich wusste nicht, was du durchgemacht hast, das stimmt. Aber doch nur, weil du uns anschweigst und auf dieser dämlichen Version mit dem Fischkutter beharrst...wie sollen wir da nicht skeptisch sein? Guiseppe erzählte uns, dass er niemals ein Boot oder dergleichen besessen hat"

Ezra gab keine Antwort.

Clayton setzte sich unaufgefordert vor ihm in den Sand, verschränkte die Beine und wartete auf eine Reaktion seines Freundes. Auf ein Zeichen. Auf irgendwas. Das flaue Gefühl in seinem Magen wurde stärker, je länger die Stille anhielt und als einziges von den Wellen und Ezra's Tippen unterbrochen wurde. Es machte ihn nicht nur nervös, sondern nervte nach ein paar Minuten sogar.

„Ich weiß ich hab einen Fehler gemacht und ich bereue wirklich was ich gesagt habe, aber du kannst mir nicht ewig böse sein! Wir sind - waren", korrigierte sich Clayton betrübt und schloss kurzzeitig seine Augen, um die Fassung zu wahren. „Wir waren beste Freunde...das kann nicht einfach weg sein"

Ezra reagierte immer noch nicht. Sein Blick wechselte von genervt zu traurig, zu nachdenklich und letztendlich wieder zu seiner Maske. Er hatte dem nichts hinzuzufügen und demnach nichts zu sagen. Für einige Momente fiel kein Wort von beiden. Clayton räusperte sich, signalisierend, dass er auf eine Antwort wartete.

„War's das?", entgegnete der Schwarzhaarige stattdessen genervt und hämmerte mit mehr Nachdruck auf die Tasten.

„Was erwartest du noch? Soll ich's auf ein Banner schreiben und über'n Himmel fliegen lassen oder was?", fragte Clayton, der allmählich wütend wurde. Zeigte Ezra immer noch keine Einsicht? Oder wieso konnte er nicht einmal hochblicken und wie ein Erwachsener über den Streit reden? War es ihm so egal?

„Nein! Jetzt lass mich gefälligst endlich in Ruhe!", herrschte ihn Ezra wütend an und richtete seinen blitzenden braunen Augen auf seinen einst besten Freund, dem er sein Leben anvertraut hätte. Doch das lag in der Vergangenheit. Er beschuldigte ihn der Inszenierung dieses Unfalls und darüber hinaus ergriff er Partei für jeden außer Ezra. Der schmiss den geliehenen Laptop zurück in die dazugehörige Tragetasche, sprang ruckartig auf und stapfte grummelnd in Richtung des schmalen Trampelpfades, den er im Schlaf locker gefunden hätte. Kein Wunder, so oft er ihn schon entlang geschritten war.

Jeden Sonnenaufgang.

Clayton's Mund fiel auf, doch er war schnell und eilte Ezra hinterher, der seine Schritte instinktiv beschleunigte. Er wollte nicht reden und weiter um das eigentliche Problem herumtänzeln. Der Blondhaarige holte ihn nach einem kurzen Spurt ein, packte ihn energisch an den Schultern und riss ihn so heftig herum, dass Ezra beinahe das Gleichgewicht verloren hätte als ihn Clayton an einen Felsen stieß. Ächzend glitt ihm der Gurt seiner Laptoptasche von den Schultern, fiel auf den Boden und bevor sich Ezra von der Unversehrtheit der wichtigen Schreibmaschine überzeugen konnte, fand er sich Angesicht zu Angesicht Clayton gegenüber, der sauer den Kiefer aufeinander presste. Das letzte Mal hatte er den Älteren in diesem Zustand erlebt, als er sich in der High School eine Prügelei geliefert hatte. Waren diese Zeiten nicht vorbei?

„Guiseppe und ich können deine beschissenen Einzelgänge verkraften, aber was glaubst du wie sich Harvey fühlt? Der Kleine hat für dich sein Zuhause verlassen, ist quer über einen fremden Kontinent gereist und du hast nicht einmal danke gesagt! Ihr zwei seid länger befreundet als wir, seit dem Sandkasten, verdammt nochmal! Kooks, so behandelt man keine Freunde!"

Clayton hatte nicht bewusst gemerkt, wie sehr die Wut in ihm Besitz über seine Handlungen ergriff, doch als er Ezra immer noch in Rage losließ, fielen ihm auf dessen hellen Haut dunkle Flecken auf. Sofort verschwand die Wut und er starrte Ezra erschrocken an.

„D-das wollte ich nicht...e-es-"

Ezra's Augen füllten sich mit Schmerz. Es tat ihm weh, dass sein ehemals bester Freund sich selbst so vergaß, dass er ihm körperliche Schmerzen zufügte. Der eiserne Griff des Älteren hatte auf Ezra's Armen blaue Flecken hinterlassen. Seine Stimme wollte die Worte nicht aussprechen, die in seinem Kopf herumspukten und ihm keine Ruhe ließen.

Wortlos bückte sich der Schwarzhaarige deswegen, hob die glücklicherweise unversehrte Laptoptasche auf und zog sich die Jacke soweit über die Schultern, bis der Blick auf die Flecken verdeckt war - er wollte nicht, dass sich Harvey oder Guiseppe noch mehr Sorgen um ihn machten. Nicht nur sein Herz schmerzte, sondern auch die Tatsache, dass diese Male von der Person stammten, mit der er schon seit Jahren zusammen durch's Leben ging.

„K-Kooks...bitte, geh nicht", bat Clayton mit zitternden Händen und wollte nach seiner Hand greifen, doch der Schwarzhaarige wich mit geweiteten Augen vor ihm zurück und schüttelte bloß den Kopf.

„L-lass mich bloß in Ruhe...ich mein's ernst. Komm mir nicht zu nah", flüsterte er und verdeutlichte die Forderung, indem er ein paar große Schritte zurück machte. Weg von Clayton. Weg von den erschrockenen Augen.

„Ezra bitte, lass uns darüber reden", bat Clayton beharrlich und biss sich auf die Lippe. Das sollte anders laufen - Harvey würde ihm den Arm brechen, wenn er das Ergebnis dieser Konversation erfahren würde.

Ezra schüttelte ausdruckslos den Kopf. „Wenn dein Reden am Ende so aussieht wie meine Arme, verzichte ich guten Gewissens. Lasst mich einfach in Ruhe und...und kommt nicht mehr wieder. Bitte"

Frustriert raufte sich Clayton die Haare, als er Ezra weggehen sah und er wusste, dass er die Situation nicht mehr ins Positive rücken konnte. Er war eindeutig zu weit gegangen. Und er hatte absolut keine Ahnung, wie er sich für die verursachten Feindseligkeiten revangieren sollte.

Oder was er von den Notizzetteln mit den wildesten Theorien halten sollte, die alle kreuz und quer im Bücherzimmer verteilt lagen. Einer stach ihm dabei besonders ins Auge. Ein einziges Wort war über und über das Papier gekritzelt. Ein Wort? Nein, ein Name. Ein Name einer Person, die er nicht kannte.

Cassian. 

*

*

*

Weitere Tage verstrichen, ohne, dass sich der triste Alltag durch ein außergewöhnliches Erlebnis erschüttern ließ. Derselbe Ablauf wie schon der letzten Jahre kettete Cassian an eine strikte Routine, erlaubte ihm keine freie Minute mit seinen tristen Gedanken. Viel zu kraftlos aus dem Schlaf drangsaliert werden, kaum das köstliche Frühstücksmahl anrühren, sich von den Wachsoldaten protestlos die demütigenden Ketten anlegen lassen, den Tag über in viel zu langen Konferenzen sitzen oder aber im Beisein von Herr Èlcalad und Baek die politische Lage besprechen.

So sah Cassian's eintöniger Alltag aus.

Dragstor sah von weiteren Angriffen ab, glücklicherweise, doch aus welchem Grund er unaufhörlich die friedlichen Verhältnisse in's Wanken bringen zu vermochte, stellte für Cassian als auch seine Folgschaft ein unlösbares Rätsel dar. Seit den Friedensverträgen erfolgte keinerlei Näherung an das feindliche Terrain, zumindest keines das auf feindliche Absichten schließen ließ. Der Regent verzagte von Tag zu Tag mehr. Sein Vater wäre furchtbar enttäuscht wenn er sähe, wie miserabel sein Kind das ihm anvertraute Wohl des Reiches nicht imstande war zu schützen. Wie sehr es versagte. Scheiterte. Statt Ehre und Ansehen ein verwerfliches Bild von Schwäche und jugendlichem Leichtsinn über den Familiennamen brachte. Der Spott, den die Leute hinter seinem Rücken tratschten. Cassian strengte sich wirklich mit aller Macht an, den Bewohnern des lichten Reiches ein guter Ersatz für seinen Vater zu sein, und das sollte der Dank für seine Opferbereitschaft sein? Dabei wollte der Blauhaarige doch nur ein kleines bisschen Glücklichkeit spüren, ein wenig Liebe in seinem einsamen Herzen fühlen...

Wieso konnte er diese Empfindung nicht für eine schöne Frau aufbringen? Es wäre so viel weniger kompliziert. Wieso für einen unerreichbaren Menschen? Wieso konnte er Faura nicht einfach ihr heiß ersehntes Kind gebären, sich des Nachts davonstehlen und zurück zu seinem Menschlein kehren?

Wobei...nein, das würde Cassian nicht fertig bringen.

Er hätte dem Kind nicht freiwillig und schon gar nicht aus Liebe zu dessen Mutter das Leben geschenkt, doch das änderte nichts an dem Offensichtlichen. Dieses Kind wäre seins, und den Teufel würde er tun und sein eigen Fleisch und Blut aufgeben. Allein lassen in dieser rügenden Gesellschaft, die schon Cassian vergraulte. Es wäre sein Kind, sein Leib hätte diesem kleinen Wesen über Monate hinweg ein Zuhause geboten und Cassian, dessen größter Wunsch eine eigene Familie war, könnte sein Kind niemals hergeben. Nicht einmal für Ezra könnte er es verlassen. Dafür würde er es zu sehr lieben, zu sehr vermissen wenn er bei dem Menschen sein Glück suchte.

Cassian würde die Liebe zu Ezra hinten anstellen, würde er in einem Paralleluniversum neues Leben unter seinem Herzen tragen.

*

*

*

„Herr Èlcalad?", erhob sich Cassian's erschöpfter Blick zaghaft von seinem unangerührten Abendmahl, das wie die vielen Abende zuvor verschmäht wurde. Der Diener, dem die kränkliche Blässe seines Schützlings mit jedem Tag deutlicher auffiel, schürzte die Lippen und wartete auf weitere Wörter. In dem Speisesaal befand sich derzeit niemand bis auf die beiden, Cassian's Hände hingen umschlungen von unzerstörbaren Ketten ziellos in der Luft und er schluckte hart. Der forschende Blick seines Gegenübers bohrte sich ihm unter die Haut, so tief, dass der Regent fürchtete, der Meermann würde in seine gehüteten Gedanken Einblick finden.

„Würdet Ihr mich in die Bibliothek begleiten?"

„Aus welchem Grund ersucht Ihr diesen Wunsch? Noch dazu, wo es bereits dunkel ist?", erhielt er prompt die erwartete Gegenfrage und biss sich entmutigt auf die Lippe. Schnell senkte er den Blick zurück auf die schmächtige Frucht, deren nährstoffreiches Fleisch den geschwächten Körper stärken sollte. Niemand machte einen Hehl aus der dünner werdenden Gestalt, die täglich vor reich gefüllten Tellern kauerte als bestünde das Essen aus purem Gift. Die abwesende Leere in seinem Blick führte bereits einmal zu einer groben Auseinandersetzung mit Frau Faura, die sich ihren Partner offensichtlich in jeder erdenklichen Weise anders vorstellte. Ihre Ansprüche konnten in Cassian nicht verwirklicht werden, er war eben zu jung um vorzugeben jemand zu sein, der er nicht war. Faura lebte ihren Frust auf einer Vielzahl an Festen aus, besänftigte ihr aufbrausendes Gemüt mit köstlichem Wein und hielt sich an ihr Versprechen.

Cassian erlebte die Hölle öfter, als er verdiente. Seine Zustimmung erhielt die Edeldame kein einziges Mal, und trotzdem kroch das Gefühl des Ekels nach ausführlicher Begattung in Cassian's Kehle empor, würgte ihm die Luft ab und verbreitete Fäulnis in seinem Inneren. Es fühlte sich so widerlich an. Er fühlte sich widerlich. Wie ein wertloser Gegenstand, ein Spielzeug zum Zeitvertreib. Faura kümmerte sich nicht um seinen mentalen Geisteszustand, in ihren Augen verdiente ein sich weigerndes, verzogenes Gör keine Nachsicht. Eine Aufgabe ruhte auf seinen Schultern, eine einzige. Und die erfüllte er nicht. Also realisierte Faura ihre Drohung und nötigte den hoffnungslosen Jungen mit entsprechender Strenge. Unnachgiebigkeit. Mitleidlosigkeit. Hemmungslosigkeit. Er wurde ihr ja schriftlich zugesagt, das Eigentumsrecht an seinem Körper gehörte zweifellos der dunkelhaarigen Verhandlungskünstlerin, aber aus einem ihr fremden Grund vermochten die inzwischen routinemäßigen Befruchtungen keine Wirkung zu erzielen. Sie wurde mit jeder verstreichenden Woche grober und verlor jegliche Hemmschwellen, was die Tendenz zur körperlichen Gewalt betraf. Nicht selten kleidete man den kränklichen Schatten in überschwänglich viele Ketten und seidige Stoffe, um die dunklen Male und roten Striemen vor neugierigen Augen zu verbergen.

Doch der tote Blick, die Ausdruckslosigkeit seiner ermatteten Augen vermochte nichts zu verhüllen.

Sein Inneres war fürchterlich zerbrochen und zersplittert, wie ein zu Boden gefallener Edelstein. Wie der zerbrochene Bilderrahmen.

„Ich...ich würde gern ein wenig lesen", bat der Blauhaarige und nestelte mit seinen Händen. „K-keine Gesetzestexte...i-ich möchte eine Geschichte lesen. Eine schöne. Irgendeine", trug er seine Bitte vor und hoffte inständig, der Wächter vor sich würde ihm wenigstens dieses kleine Anliegen erfüllen. Wo er schon sonst nichts Gutes mehr hatte, wollte er für einen kurzen Moment in die Illusion einer heilen Märchenwelt entführt werden. Eine kleine Weile. Eine kleine Weile ohne den Schmerz in seinem Herzen, ohne das erdrückende Gewicht auf seinen Schultern.

Eine Nacht ohne Faura's unverzeihlich grobe Hände.

Herr Èlcalad schien nichts dagegen zu haben, da er stumm sein Haupt neigte und den Schlüssel der Ketten aus seinem Gewand hervorholte. Cassian schöpfte Hoffnung.

„Ich gebe Euch Geleit, allerdings knüpft dieses Entgegenkommen meinerseits an eine Bedingung an. Die Küchenmagd erhält einen leeren Teller"

Und binnen weniger Momente zerfraß der lauernde Ekel die winselnde Hoffnung. Cassian blickte den Mann aus gekränkten Augen bittend an, doch er wusste um die Aussichtslosigkeit dieser Situation. Sein Gegenüber wachte die ersten Jahre über das verwaiste Königskind und pflegte es wie ein nahestehender Verwandter. Wo und wann war dieses Vertrauen zerbrochen? Lustlos schüttelte Cassian den Kopf und schob den Teller demonstrativ von sich, verzog das Gesicht und weigerte sich wie erwartet. Er durfte, wollte die Frucht nicht essen. Er war verdorben. Die Frucht sollte nicht in dieser Fäulnis enden. Cassian erfuhr zu viel Übel, als das er selbst dieses schmächtige Mahl als gut gemeinte Geste ansehen konnte. Die Striemen und gut versteckten Male zierten seinen ausgelaugten Körper nicht ohne Grund. Er verdiente es. Er enttäuschte alle, einschließlich des Menschen den er liebte. Er hatte ihn verlassen und könnte niemals sein Versprechen einlösen, den Sonnenaufgang als Zeuge seiner Rückkehr zu sehen. Das Sonnenlicht war so fern, soweit außerhalb seiner Reichweite wie eine glückliche Zukunft.

„Ich rate Euch meine Geduld nicht zu strapazieren", meinte der Ältere ernst und wunk mit dem Schlüssel. „Der Rat führte bereits das ein oder andere Gespräch mit meiner Wenigkeit, da Ihr seit Eurer Rückkehr neben Euch steht. Das wirft ein sehr, sehr schlechtes Licht auf die Sitten. Ihr wollt doch nicht zum Gespött des Volkes werden?"

Cassian schwieg. Die Leute zogen so oder so über ihn her, ganz gleich ob er kein Kind gebar oder 23. Gleich, ob er freudig lächelte oder sich des Nachts in den Schlaf weinte. Es interessierte sich niemand für sein Wohlergehen. Und diese Prozedur der langsamen Verwesung zeigte sich äußerlich immer stärker. Die seidigen Gewänder saßen lockerer, in den Augen erlöschte das strahlende Glänzen und ob Cassian mit Ketten im Bett lag oder in Konferenzen saß, kümmerte ihn nicht mehr länger. Jeder sah es, keiner verlor ein Wort darüber. Wurde Cassian wirklich so wenig geliebt, war er so bedeutungslos?

Herr Èlcalad seufzte leise und beschloss, ein einziges Mal eine Ausnahme zu machen. „Zwei Bissen, Majestät, und ich geleite Euch zur Bibliothek"

Cassian lugte vorsichtig hoch und wartete auf das höhnische Lachen, das diese entgegenkommenden Worte als arglistigen Scherz entlarvten. Doch nichts passierte. Die beiden blickten sich stumm an und der Ältere spielte ein wenig stutzig mit der Versuchung, die zwei Bissen auf einen zu reduzieren, als er eine Reaktion erhielt. Langsam, ganz langsam, umfassten die mit glänzenden Ringen geschmückten Finger die Frucht und der Königssohn erfüllte die gestellte Forderung wortlos. Sogar ein drittes Mal biss er ab, damit er seinem Wächter die Kooperation zweifellos beweisen konnte. Er war durchaus bereit die Spielchen mitzuspielen, sofern ein wenig Rücksicht auf ihn genommen wurde. Zufrieden nickte Herr Èlcalad und führte Cassian an den Wachen vorbei, schwamm in gemächlichem Tempo zu der Bibliothek und da sich um diese späte Uhrzeit kein anderes Fischlein in den verlassenen Gängen aufhielt, beschloss Herr Èlcalad, Cassian's dritten Bissen von der Frucht zu belohnen. Vielleicht zeigte ihm dieses Entgegenkommen, dass nicht jeder partout gegen ihn war und er trotz der herrschenden Stimmungsänderung, verantwortlich dafür war Frau Faura und ihre Launen, von den seinen eine gewisse Loyalität erwarten durfte. Ihm wurden die Ketten abgenommen und ehe er es fassen konnte, bedachte ihn Herr Èlcalad mit einem Zeichen der Verschwiegenheit. Dass dieser beinahe schon freundschaftliche Dienst ihn selbst in größte Schwierigkeiten bringen konnte, war Cassian klar. Daher wertschätzte er diese kleine Geste sehr.

„Könnte Euer selige Mutter nur sehen, was mit Ihrem einzigen Kind geschieht...", murmelte er und Cassian, der diese Worte deutlich hörte, drehte sich mit unangenehm ziehender Brust weg. Tränen traten in seine Augen und die Erwähnung seiner Mutter erinnerte ihn schmerzlich an den Verlust. Daran, wie sehr er ihre Güte und ihre lieben Küsschen vermisste, wie sie ihn in ihre Arme schloss wenn sie sich für ihren Schatz freute und...Cassian konnte nicht mehr. Er enttäuschte nicht nur die Lebenden, sondern auch die Toten. Eine Last, die ihn an eine Grenze trieb. Er vermisste seine Mutter, er vermisste Ezra und er vermisste sich selbst. Die fröhliche Version, die in tanzenden Blubberblasen nach dem eigenen Spiegelbild suchte und dessen Wissensdrang nie gestillt werden vermochte.

Wo war das alles verschwunden? Wann?

„...sie würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, bis sie Ihr Kind wieder mit einem Lachen sähe. Dass Ihr so viel Leid erdulden müsst und dennoch kein einziges Wort der Klage Eure Lippen verlässt...die Königin wäre todesunglücklich und würde die Schuld bei sich suchen. Dieses Schicksal verdient Ihr nicht, Herr"

Wortlos blickte Cassian Herr Èlcalad mit glasigen Augen an, biss sich auf die zitternde Lippe und ließ es zu, dass er ihm eine Hand auf die Schulter legte. Vorsichtig, weil er Schreck befürchtete. Er kannte Cassian seit seiner Geburt und kümmerte sich viele Jahre um ihn - diese Gefühle verschwanden nicht einfach so. Nicht einmal durch neue Regelungen, die es jedem untersagten, dem Königssohn falsche Sorge anzutun. Und es tat ihm mehr als nur leid, dass er selbst keine Ausnahme darstellen durfte. Es brach die Lebenslust des Jungen, entzog den ozeanblauen Augen den magischen Glanz und füllte sie mit einer betäubenden Leere. Willenlosigkeit. Akzeptanz der manischen Unterdrückungen. Der Ältere sprach sich selbst einen großen Anteil dieser Wesensänderung zu, zumal er um den Wunsch seines Schützlings bestens Bescheid wusste.

„Wenn Ihr erlaubt", sprach Herr Èlcalad mit beängstigend ruhiger Stimme und schwamm voraus, langsam damit ihm der eingeschüchterte Königssohn folgen konnte. Er konnte nichts am Verlauf der Dinge rütteln, doch er betrachtete es daher als Pflicht, die jetzigen Umstände für das liebste Kind der Meere so angenehm wie nur irgend möglich zu gestalten. „Eure Mutter las sehr gern die Werke dieser Dichterin. Sie trug Euch die Strophen vor, noch bevor Euer Gedächtnis Erinnerungen sammeln konnte. Sie gefielen ihr. Ich denke, Ihr werdet ebenfalls Gefallen an diesen Schriftstücken finden"

„Wieso?"

Der Ältere drehte sich mit zwei Büchern zu Cassian um, der mit klagenvoller Miene seine Flosse hob und schniefte. „W-wieso täuscht Ihr mir Freundlichkeit vor, wo Ihr mich zu Beginn des nächsten Tages wieder mit kalten Augen kritisieren werdet? Bitte, unterlasst jegliche Spiele mit meinem Verstand. Ich...ich ertrage sie nicht länger"

Der Meermann reichte dem Jungen die Bücher mit einem reuevollen Flüstern: „Hinter dem zweiten Gang zu Eurer Rechten befindet sich der alte Lesesessel Eurer Mutter. Unter dem Korallensaum liegt versteckt eine Decke. Bleibt in dieser Nacht hier und seid versichert, dass ich Eure...Partnerin..."

Cassian unterdrückte ein verzweifeltes Schluchzen. Faura war nicht seine Partnerin. Niemals. Sie stellte die grausamste Form der Bestrafung dar, die er sich erträumen könnte. Sie tat unaussprechliche Dinge, verging sich in ihrer unstillbaren Besessenheit an dem, was von dem Jungen mit den leeren Augen noch übrig war. So lange, bis nichts mehr da sein würde. Bis Cassian hoffentlich nie wieder in dieser grausamen Realität aufwachen würde. Irgendwann, irgendwo würden ihm die Sterne leuchten, den Weg zu seinem Menschlein wo er endlich in Sicherheit wäre. Cassian würde an Ezra's Seite erwachen und Zuhause sein.

Irgendwo.

Irgendwann.

Herr Èlcalad holte Luft um seinen Satz zu beenden. „...in Kenntnis über Euren verdorbenen Magen setze. Bedauerlicherweise wird Euch diese kleine, nun ja, Notlüge nur einmalig aus dem Gewahrsam Ihrer Aufdringlichkeit befreien. Ich weiß um die Schandtaten, zu die diese Dame fähig ist...und es tut mir leid, dass Ihr eben diese erfahren müsst", entschuldigte er sich und fühlte sich tatsächlich schlecht, dass er seinem anvertrauten Schützling so wenig Beistand leisten konnte. Mehr lag schlichtweg nicht in seiner Macht. Und trotzdem geisterte ein schwach angedeutetes Lächeln auf Cassian's blassen Lippen, während er die beiden Bücher zaghaft umschloss und sein Haupt nickend senkte.

„Danke schön, alter Freund"

„Herr", lächelte Herr Èlcalad schmal und deutete eine respektvolle Verbeugung an. „Gibt es sonst noch etwas, dem ich meine Aufmerksamkeit widmen sollte?", erkundigte er sich und Cassian, dem diese Worte ans Herz gingen, biss sich auf die Lippe. Traurig schüttelte er den Kopf und hauchte tonlos: „Nein. Ich...ich fühle mich in diesen Mauern gefangen, und doch vermag nichts diese aussichtslose Lage zu ändern, in der ich mich befinde", gestand er und schluckte. „Habt Dank für Eure Hilfe, doch nach dieser Nacht nimmt alles den bisherigen Verlauf wieder auf. Frau Faura wird nicht locker lassen, bis sie ihr begehrtes Kind in den Händen hält. Ich...ich werde diesen Wunsch nicht erfüllen können. H-Herr Èlcalad...die Runen leuchteten so schön, so unfassbar bezaubernd hüllten sie alles in reines Licht"

Cassian lächelte mit Tränen in den Augen.

„Sie leuchteten für meine besondere Person...doch das Licht erlosch zusammen mit der kleinen Hoffnung auf ein Wiedersehen, die ich hegte. Jetzt...jetzt wünsche ich mir nur noch von Herzen, dieses Leben mag endlich ein Ende finden. E-es tut mir leid, bitte, lasst Euch von dem närrischen Wort eines Kindes nicht Eure wertvolle Zeit stehlen"

Mit diesen Worten drehte sich der Junge mit den gebrochenen Augen um und verschwand in der genannten Richtung des Sessels. Die Bürde auf seinem Herzlein hievte er mit sich, so drückend schwer, dass ihm das Atmen einer Herausforderung glich. War es so falsch, einen Menschen zu lieben?

Er hüllte sich in die wohlige Decke und machte es sich auf dem Sessel bequem, verstand er ja sofort wie seine Mutter diesen Platz genießen konnte. Hier herrschte absolute Ruhe. Keine aufdringlichen Mägde, kein spottender Blick. Nur Cassian, ein Buch und eine Decke. Keine Faura. Keine unzüchtigen Berührungen, die ihn in Angst und Schrecken versetzten. Beruhigt von der verlassenen Idylle schlug er ein Buch auf und beschloss, sich die Dichtkünste aufzuheben. Vielleicht, wenn er schon mal Gelegenheit hatte ungestört zu lesen, sollte er versuchen etwas über den Zwiespalt zwischen den beiden Welten herauszufinden. Womöglich könnte ein verstehender Geist ausreichen, um die Wogen zu glätten und die Feindschaft zu bezwingen. Cassian begann also zu lesen, was sich ein kluger Professor einst für ein Bild der Zweibeiner machte. Doch was er da alles las, gefiel ihm ganz und gar nicht. Mit jedem weiteren Wort wuchs seine Empörung. Die Menschen glichen nicht diesen verrufenen Monstern. Nicht alle, zumindest. Ezra war anders.

„Die Menschen sind eine nicht funktionierende Rasse, ein Fehler der Götter. In Prinzip ist ihre gesamte Existenz nur ein missglücktes, außer Kontrolle geratenes, vernachlässigtes Experiment von Gott Hiodos und Gott Baltmar. Der Teufel Satan hat es damals bereits erkannt und wurde dafür in die Unterwelt verbannt. Mein Glaube an die Menschheit ist schon vor vielen Jahren erloschen - wenn er denn je vorhanden war. Die Menschen sind das Schlimmste, was der Natur passieren konnte. Sie sind der personalisierte Horror. Allerdings wieso? Es begann alles mit ihrer Intelligenz, einer Gabe die ihnen Gott Hiodos oder die Evolution gegeben hat. Sie hielten sich wegen ihr für etwas Besseres, spielten selbst allmächtiger Gott, haben über Leben und Tod entschieden. In der Blindheit, welche Macht sie überhaupt besitzen, richteten sie sich gegenseitig hin. Das lebenswichtige Töten wurde nun zum Zeitvertreib und den Preis für ihren Spaß mussten andere Lebewesen bezahlen, nun ist die Rechnung bereits endlos lang. Sie verpesten die Welt, nehmen anderen Lebewesen ihren Lebensraum und töten sie dabei mit purer Ignoranz. Sie nehmen den Tod eines Tieres als selbstverständlich, aber wenn ein Mensch stirbt, wird ein Drama daraus gemacht. Sie beginnen Kriege, welche sie nur aus Eifersucht führen, weil jeder nur an sein eigenes Wohl denkt. Die Luft ist verpestet von Chemikalien und das Meer verschmutzt von ihrem garstigen Abfall. Sie bauen Zuchtanlagen, welche eher in eine grauenvolle Horrormythe passen, aber sie sind real. In diesen Zuchtanlagen spielen sie Gott! Im vollsten Vertrauen zu ihren barbarischen Taten fahren sie immer weiter in Richtung Abgrund. Die Menschen waren schon von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Manche Menschen verdienen es einfach zu sterben und für manche ist der Tod sogar noch zu gut. Der wahre Horror ist der Mensch selbst. Wir warten nun schon so lange unter dem Wasserspiegel darauf, hervor zu kommen. Wir wissen, dass die Menschheit nicht mehr lange überleben wird"

Zu tiefst gekränkt schlug Cassian das Buch zu und verbannte es tief in die dunkle Ecke, aus der er es zuvor holte. Garstige Worte wie diese würden nicht zur Friedenswahrung beitragen. Frustriert hielt er sich den pochenden Kopf und unterdrückte eine Gefühlswelle, die sich über ihn zusammenbrodelte. Er durfte nicht aufgeben. Verliert er nur ein einziges Mal die Hoffnung, würde sie nie mehr wieder zurückkehren. Seufzend rieb er sich über die müden Äuglein und kuschelte sich tief in die warme Decke, bettete den Kopf auf seine gefalteten Hände und gähnte. Die Müdigkeit in seinen Knochen überfiel ihn mit bleierner Schwere, fesselte ihn an den Sessel und untersagte ihm jegliche Bewegungsfähigkeit. Die wollte er gar nicht. Nicht jetzt, zumindest. Wann war die letzte Nacht, die er in solch wohliger Stille verbringen durfte? Sie lag schon viel zu lange zurück. Als seine überlasteten Gedanken so bunt auf ihn einprasselten, schaffte es nur ein einziger, permanent vorhanden zu sein. Zu bleiben. Nicht zu gehen.

Korallbraune Augen. Sanfte Berührungen, nicht mehr als ein neckischer Windhauch. Die Entscheidungsfreiheit, ob diese Zuneigungen ein Ende finden sollten oder ungeniert fortgeführt werden durften. Natürlich durften sie das. Cassian war ganz vernarrt in die liebevollen und umsichtigen Hände, das beruhigende Herzschlagen des Menschen an seinem Ohr und vor allem aber erinnerte er sich gern daran zurück, was der Mensch ihm sagte. All die Worte, die sein Herz berührten und den Runen auf seiner Haut Leben einflößten.

Kann sein...d-das du...naja, ähm...ein bisschen hübscher als Quasimodo bist. Aber nur ein kleines bisschen.

Du bist der Auslöser, weshalb der Realist Jeon Ezra fortan an Märchen glaubt.

Ich beschütze dich, Cassian.

Wir sind nicht verschieden. Wir haben beide ein schlagendes Herz in unserer Brust und können es fühlen, das einzige was uns unterscheidet sind die Welten, aus denen wir kommen.

Ich...ich hab dich wirklich sehr, sehr gern.

Der Blauhaarige seufzte wehmütig.

„Bei Sonnenaufgang...werde ich auf dich warten", fügte er die letzten gesprochenen Wörter der beiden Verliebten zusammen, wissend, dass sich dieses Versprechen nie erfüllen wird. „Wie lange wirst du Morgen für Morgen Ausschau nach mir halten bis du akzeptierst, dass es keinen weiteren Sonnenaufgang für uns geben wird?"



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