Ocean Eyes [MERMAID!AU]

By xxFlasher2Nightxx

40.8K 3.3K 2K

"Ich darf doch sehr bitten! Meine Wenigkeit entspringt nicht Eurer blรผhenden Fantasie, sondern einem traditio... More

๐Ÿ’œ Welcome back ๐Ÿ’™
๐Ÿ’™ Charaktere
๐Ÿ’™ 1
๐Ÿ’™ 2
๐Ÿ’™ 3
๐Ÿ’™ 4
๐Ÿ’™ 5
๐Ÿ’™ 6
๐Ÿ’™ 7
๐Ÿ’™ 8
๐Ÿ’™ 9
๐Ÿ’™ 10
๐Ÿ’™ 11
๐Ÿ’™ 12
๐Ÿ’™ 13
๐Ÿ’™ 14
๐Ÿ’™ 15
๐Ÿ’™ 16
๐Ÿ’™ 17
๐Ÿ’™ 18
๐Ÿ’™ 19
๐Ÿ’™ 21
๐Ÿ’™ 22
๐Ÿ’™ 23
๐Ÿ’™ 24
๐Ÿ’™ 25
๐Ÿ’™ 26
๐Ÿ’™ 27
๐Ÿ’™ 28
๐Ÿ’™ 29
๐Ÿ’™ 30 ~End
๐ŸŽ‰ Special ๐ŸŽ‰
๐Ÿ’™Sequel "Sea"
๐Ÿ’™31
๐Ÿ’™ Charaktere
๐Ÿ’™ 32
๐Ÿ’™ 33
๐Ÿ’™ 34
๐Ÿ’™ 35
๐Ÿ’™ 36
๐Ÿ’™ 37
๐Ÿ’™ 38
๐Ÿ’™ 39
๐Ÿ’™ 40
๐Ÿ’™ 41
๐Ÿ’™ 42
๐Ÿ’™ 43
๐Ÿ’™44
๐Ÿ’™ 45
๐Ÿ’™ 46
๐Ÿ’™ 47
๐Ÿ’™ 48
๐Ÿ’™ 49
๐Ÿ’™ 50
๐Ÿ’™ 51
๐Ÿ–ค 52
๐Ÿ’™ 53
๐Ÿ’™ 54
๐Ÿ’™ 55
๐Ÿ’™ 56
๐Ÿ’™ 57
๐Ÿ’™ 58
๐Ÿ’™ 59
๐Ÿ’™
๐Ÿ’™ 60
๐Ÿ’™ 61
62

๐Ÿ’™ 20

767 62 45
By xxFlasher2Nightxx

Seit der Entführung seines lieben Gefährten waren ein paar Tage verstrichen, in denen Ezra das Schweigen dem Reden bevorzugte. Ausnahmslos. Er weigerte sich sogar die köstliche Suppe zu essen, die der Alte für den Schwarzhaarigen ein weiteres Mal zubereitete. Das Mahl verlief einseitig und in absoluter Stille, jeder hing seinen Gedanken nach. Wie sehr sich Ezra wünschte, etwas tun zu können – er saß hier in Sicherheit, während er mit schwerem Gewissen von den Strafen wusste, die sein blauhaariger Schönling erdulden müsste. Allein. Diese strikte Tatsache und die schwerwiegende Machtlosigkeit waren es, die Ezra vor Angst und Gewissensbissen um den Schlaf brachten. Sobald sein Kopf die Kissen berührte, packte ihn die Sorge vor dem großen Ungewissen wie die Pest mit ihren Klauen, projezierte ihm die schrecklichsten Bilder in den Verstand und trieb ihn bereits mehr als nur einmal so weit, dass er weit nach Mitternacht aus der Holzhütte rannte. Hinunter zum Meer, durch das taufeuchte Gras und über den kleinen Trampelpfad lockte ihn die ruhige Brandung. Wie lange er dann mit angezogenen Knien vor dem Ozean saß, den Kopf auf die Arme gebettet, und vor Verzweiflung sämtliche Optionen hinterfragte, konnte er nicht sagen. Es waren definitiv mehr als es gesund war.

Sollte er auf gut Glück einfach einen Versuch wagen, durch ein Wunder zum Palast zu gelangen?

Durch die Luftbeere könnte er ja unter Wasser unbegrenzt atmen...

Zum Hals im Wasser stehend und die Tränen nur schwach zurückhaltend, stieg ihm die Erinnerung der Reise in den Sinn.

Ich kann nicht guten Gewissens mitansehen, wie du orientierungslos durch den Ozean paddelst und am Ende als Haifutter endest.

Cassian wollte damals schon nicht, dass sich Ezra den dunklen Gefahren des Meeres aussetzte. Er würde nicht wollen, dass es der Mensch erneut täte. Also schob Ezra jedes Mal wieder auf's Neue seinen Beschützerinstinkt zur Seite, kehrte aus den Fluten zurück in das Holzhaus und wünschte sich die Anwesenheit seiner beiden besten Freunde herbei. Harvey's Grinsen. Clayton's lieb gemeintes Augenrollen. Eine Umarmung. Irgendwas.

Guiseppe, der sich in Geduld übte und Ezra nicht zu einer Erklärung drängte, wie er denn jetzt genau den Weg in diese Einöde fand, räumte eine Kammer mit Blick auf den Leuchtturm frei von alten Möbeln und Krempel. Danach half er dem Schwarzhaarigen, die gröbsten Einrichtungsstücke hinein zu transportieren, welche den Raum weniger verlassen gestalteten. Ezra's eigenes Zimmer – er würde es sich gern mit Cassian teilen, arrangierte die Möbelstücke extra so. Nahm nur die Hälfte des Kleiderschrankes mit den Klamotten ein, die ihm Guiseppe am zweiten Tag seiner Ankunft aus der Stadt mitbrachte. Modisch passend für einen Jungen seines Alters, wie er die breite Auswahl an Jeans, Hemden und noch vielerlei anderen Kram betitelte. Ezra freute sich sehr über die Großzügigkeit und bedankte sich in Form von tatkräftiger Unterstützung. Kochen, sauber machen, dem Alten helfen wo er eben Hilfe brauchte. Selbst einen neuen Anstrich verpassten sie dem Haus, reinigten den Motor des in die Jahre gekommenen Wagens und die zwei verstanden sich selbst in einvernehmlichem Schweigen hervorragend. Die Wohngemeinschaft der beiden funktionierte im Allgemeinen schon jetzt ziemlich gut, und das obwohl der Schwarzhaarige kein Wort über seine Reise verlor.

Ob er es je könnte, ohne an den Verlustschmerz erinnert zu werden? 



„Guiseppe?"

Der Alte blickt hoch von der Zeitung und zog an seiner Pfeife, beobachtete die tänzelnden Ringelchen in der Luft und wartete geduldig, bis weitere Wörter über Ezra's blasse Lippen drangen. Wenn er freiwillig das Gespräch ersuchte, würde er statt neugierigen Fragen ein offenes Ohr antreffen. Der Schwarzhaarige holte tief Luft, bevor er leise und mit dünner Stimme fragte: „D-denken Sie, dass es möglich ist, dass das Schicksal einen Fehler gemacht hat?"

Diese Frage überraschte den schnauzbärtigen Seekautz, da er mit der Nasenspitze wackelte und – Ezra wandte mit brennenden Augen den Blick sofort ab. Diese Angewohnheit, süßes Nasenwackeln, hatte er einige Male bei Cassian beobachtet, der es wohl aus dem Unterbewusstsein heraus tat und nicht abstellen konnte. Es war süß.

„Kommt drauf an, was das Schicksal hätte richtig machen sollen"

„Alles", erscholl die Rücksprache noch im gleichen Atemzug und Ezra fuhr sich frustriert durch die Haare. Die nächtliche Dunkelheit vermochte nicht durch den Mond erhellt zu werden, der nach Kräften sein silbriges Licht verstrahlte. Das Sofa trug seinen Körper angenehm weich und die Wolldecke über seinen Beinen wärmte ihn besser als jede Heizung – trotzdem fehlte das Wichtigste. Die Person, deren Wärme man nicht ersetzen konnte. Würde Ezra für den Rest seiner Existenz kalt sein?

„Du sprichst von dieser besonderen Person", stellte Guiseppe nicht verwundert fest, schlug seine Zeitung ordentlich zusammen und rückte seine Brille zurecht, wodurch er eine klare Sicht auf das verzagte Antlitz des Jüngeren hatte. In seinem Alter zählte man einige Lebenserfahrungen und der Alte besaß reichlich davon. Viel zu viele, als das sein Schützling jemals in eben so viele Probleme rutschen und Guiseppe um Rat ersuchen könnte. Zumindest hoffte der Alte dies, denn jeder verdiente ein schönes Leben. Ein erfülltes Leben. Liebe. Wenn auch nur ein kleines bisschen.

Wortlos nickte Ezra. Er hatte die Lügen und die Spielchen satt, wohin brachte es ihn? Auf die falsche Seite des Ozeans, weg von seinem Gefährten. Er wollte sich nicht mehr länger verstecken. Deswegen holte er tief Luft, bevor er ansetzte: „Ich hab nie an übersinnlichen Kram geglaubt. Feen? Lächerlich. Meinen Lebensunterhalt verdiente ich, indem ich Krimis schrieb und mir eine Mordserie nach der nächsten ausdachte. In der Schule war ich Klassenbester und der Top-schreiber der Schülerzeitung. Mein bester Freund vergöttert Fantasiekreaturen und ich reiß mich jedes Mal zusammen, seine abergläubischen Flausen nicht durch knallharte Fakten zu widerlegen – was mir gut möglich wär, so viele Aspekte gegen Drachen und was weiß ich noch sprechen. Ehrlich, mit Fantasie und Märchen ist man bei mir komplett an der falschen Adresse. Aber..."

Ein schwaches Lächeln hob seine Lippen und ließ seine Augen wie heißes Kaminfeuer leuchten.

„...dann traf ich jemanden. Und ich wollte der ganzen Welt sagen, dass ich meine Meinung geändert hab. Wunder existieren...ja, sogar die unschönen Bestandteile wie Bösewichte und abgefuckte Verrückte entspringen nicht mehr länger geschriebenen Worten. Ich glaub, das Schicksal hat mich in den Sturm geworfen, damit ich mir darüber klar werde. Das alles wahr ist. Aber..."

Das Lächeln verschwand und Traurigkeit spiegelte sich auf dem blassen Gesicht. Blanke Traurigkeit. Und auch...Reue?

„...dieser jemand wurde mir genommen. Wir hätten uns nie begegnen dürfen, das weiß ich, und es tut mir so leid, dass ich nichts tun kann außer hier auf meinem inkompetenten Arsch zu sitzen und-"

„Wortwahl, junger Mann", hob Guiseppe mahnend einen Finger und der Schwarzhaarige lachte trocken auf. Das er in einem solch schwachen Moment noch auf seine Ausdrucksweise hingewiesen wurde, erinnerte ihn schmerzhaft an seine Mutter. Die er wohl nie wieder sehen würde. Nickend entschuldigte er sich und seufzte, biss sich auf die Lippe und verschränkte seine Arme. Sein Moment der Entblößung verstrich so schnell ihn der Drang zur Ehrlichkeit packte, stattdessen glätteten sich seine Gesichtsmuskeln wieder und seine Stirn legte sich in Falten.

„Wie weit würdest du für die Liebe gehen?"

Guiseppe zog an seiner Pfeife und imitierte eine Dampflock, warf dem Jungspund einen ernsten Blick zu und meinte mit einem angedeuteten Lächeln: „Das kommt ganz drauf an, wie weit man bereit ist zu gehen. Ist die besondere Person es wert?"

„Bis zum Mond und weiter", nickte Ezra mit funkelnden Augen und schluckte hart. Es stimmte, er würde alles für Cassian aufgeben. Ausnahmslos – naja, was er eben noch besaß, was er aufgeben könnte. Aber wie viel war das schon? Mehr als die Kleidung auf seinem Leib und sein Leben war es nicht. Nicht genug, um seinen Gefährten zurückzuholen. Oder zu ihm zu kommen. So oder so: Ezra mangelte es an allem, was es für eine halbwegs ordentliche Rettungsaktion brauchte. Und es fuchste ihn. So sehr, dass er wirklich total ratlos auf Guiseppe blickte und sich einen hilfreichen Rat von ihm erhoffte. Spielten alte Männer in Geschichten für gewöhnlich nicht die alles entscheidende Schlüsselrolle? Guiseppe könnte die seine darstellen.

„Dann wirst du einen Weg finden", paffte der Seekautz an seiner Pfeife und vertiefte sich erneut in seine Zeitung, deren Titelbild in dem Griff verknitterte. „Oder eben deine besondere Person. Unlösbare Differenzen stellen sich meistens als Gemeinsamkeiten heraus, die schlichtweg durch persönlichen Groll soweit aufgebauscht wurden, bis es andere affektierte"

Ezra horchte inständig auf. „Sprichst du von der Liebesgeschichte Romeo und Julia?"

„Es ist keine Liebesgeschichte", merkte der Mann an und deutete blind auf das Bücherregal hinter ihm an der Wand, das vollgeladen mit dicken Schmökern und gesäumt mit kleineren Werken neben der hölzernen Wanduhr thronte. Ezra nickte beeindruckt von der weitläufigen Sammlung. Der Alte schickte ein neues Rauchringelchen auf die Reise: „Es ist eine Tragödie. Die Liebe wurde hineininterpretiert. Mein Junge, das Schicksal bietet nicht nur gute Enden. Und man muss sich manchmal damit zufrieden geben, dass man eine Person überhaupt erst treffen durfte. Gutes Ende hin, schlechtes Ende her"

„Scheiß auf das Schicksal. Ich hab mein Leben selbst in der Hand", schüttelte Ezra entschlossen den Kopf und fixierte das Meer, das weit hinterhalb der Dunkelheit lag, die er erkennen konnte. Irgendwo dort war Cassian. Allein. Verängstigt. Gegen seinen Willen festgehalten – was dem gutherzigen Kerlchen für Maßnahmen der Vergeltung angetan wurde, traute sich Ezra nicht auszumalen. Sonst würde er gänzlich die Fassung verlieren und den nächstbesten Gegenstand demolieren. Die Soldaten – eine Gruppe Fische mit glänzenden Blechbauten auf ihren schleimigen Schuppen – wirkten auf den ersten Blick einschüchternd und zahlenmäßig überlegen, doch Ezra hatte dem Fiesesten der Bande nicht ohne Grund mitten in's Gesicht gespuckt. Es war ein Statement. Baek machte ihm keine Angst, vielmehr brachte er seine Wut zum überkochen.

Wovor sollte er sich bei Baek in Acht nehmen?

Er war ein Fisch mit einer viel zu veralteten Weltanschauung. Er gehörte zu der Sorte, die die Menschen verabscheuten obwohl sie rein gar nichts über sie wussten. Das Wissen ihrer alten Geschichten und überlieferten Mythen sollte dringend auf den neuesten Stand gebracht werden. Andererseits – waren die Zweibeiner nicht haargenau so? Sie fürchteten die Tiefen des Meeres, weil sie mit dem Stand ihrer Technik noch nicht in der Lage waren es zu erforschen. Man fürchtet das Unbekannte, es war überall die gleiche Prozedur. Was man nicht kannte, wurde angegriffen und so lange attackiert, bis es nicht mehr existierte. Es könnte ja zur Gefahr werden.

Ezra senkte den Kopf.

„Na dann wünsche ich dir viel Glück bei deinem Vorhaben", schmunzelte der Alte und blickte über den Rand seiner Brille auf den vor Entschlossenheit strotzenden Ezra, der den Blick mürrisch erwiderte. „Denn die Zeiten in denen meine Hände Messer und Pinzette hielten, ist längst vorbei. Ich arbeitete in einem Krankenhaus, doch nachdem ich meine Frau verlor..."

Damit war für ihn das Gespräch beendet und Ezra, der zu aufgewühlt war um in seinem Bett Ruhe zu finden, wickelte die Decke enger um seinen Leib und brummte. Es kotzte ihn an, sich von einem Fisch auf der Nase herumtanzen zu lassen. Das selbstgefällige Grinsen dieses Geschöpfes bevor es Cassian einfach so, aus purer Dreistigkeit und zu Kopf gestiegener Machtdemonstration, in viel zu schwere Ketten packte und wie einen räudigen Hund in die Hände eines anderen warf. Cassian war doch kein verdammtes Spielzeug, das nach Lust und Laune gedemütigt werden durfte. Baek konnte von Glück sagen, dass Ezra kein Meerwesen war. Sonst hätte er sich nicht bändigen können und wäre Hals über Kopf auf den bewaffneten Kerl losgegangen. Nun, vermutlich wäre Ezra selbst als Mensch auf den Fisch mit zu langem Zahnstocher losgegangen, hätte sich Cassian nicht in dessen Gewalt befunden. Ezra würde garantiert nicht aus blinder Rage seinen Gefährten schutzlos einer potentiellen Gefahr ausliefern.

Plötzlich erhielt Ezra ein Geistesblitz. Einen so einschneidenden Geistesblitz der vielleicht, nur vielleicht und mit einer minimalen Portion Glück, die Probleme und Differenzen zu lösen vermochte.

Wurde auch Zeit – für gewöhnlich ließ ihn sein scharfer Verstand nicht so lange im Stich.

„Guiseppe?", fragte er mit ernst zusammengezogenen Brauen und stand auf, spielte mit seinen Daumen und überlegte, wie er sein Anliegen vorbringen konnte, ohne ausgelacht zu werden. „Deine Frau...sie besaß eine Leidenschaft für die See?", hakte er vorsichtshalber nach und zu seiner Erleichterung ging der Alte ohne neugierige Fragen auf seine in der Luft schwebende Bitte ein. Ächzend erhob er sich, wobei er sich die heiß geliebte Zeitung – er fuhr täglich in die 40-minütig entfernte Ortschaft um die aktuellsten Nachrichten zu erfahren? – unter den Arm klemmte und den Schwarzhaarigen zu einer verschlossenen Tür am Ende des langen Ganges führte. Wortlos sperrte er sie auf und gewährte Ezra Eintritt, schaltete das Licht an und erweckte ein anerkennendes Staunen in dem Jüngeren.

Bücher.

Viele, viele Bücher.

Augenblicklich fühlte er sich ein bisschen Zuhause.

„Wow", gestand der Schriftsteller angetan von der Atmosphäre dieser vier Wände und strich ehrfürchtig über einen knisternden Buchrücken, der schon Jahrzehnte auf dem Buckel zu haben schien. Er bedachte Guiseppe mit einem stummen Blick und durch ein Nicken wurde ihm die Erlaubnis gewährt, die Schriftwerke aus den verstaubten Regalen zu ziehen und zu betrachten. Ein enormer Vertrauensbeweis, zumal sie sich erst zwei Tage kannten. Wenn man in dieser kurzen Periode schon von Kennen sprechen durfte.

„Wendy liebte die See, das ist korrekt. Seit ihrem Kindesalter sammelte sie leidenschaftlich alle Werke, die das Meer und dessen Bewohner thematisierten. Jeden Abend studierte sie die diversen Abschriften. Ich dachte, ihr Interesse wuchs schlichtweg mit jeder weiteren Sage, doch als ich dich vor meinem Haus vorfand, halb erfroren und aufgetaucht aus dem Nichts...", erzählte er seine Gedanken so offen dargelegt, als hielten sie einen oberflächlichen Plausch über das Wetter der letzten Tage. Er zwirbelte das Ende seines Bartes in den runzligen Fingern, wägte seine Worte fein säuberlich ab und senkte letztendlich die Stimme für die letzte Aussage, die Ezra einen Schauer über den Rücken jagte: „...Wendy war etwas auf der Spur. Was ihr ungeteiltes Interesse tatsächlich fesselte, weiß ich leider nicht, aber es kann kein Zufall sein, dass du quick lebendig hier stehst und dieselbe Luft wie ich atmest, Jeon Ezra"

Ezra weitete seine Augen.

„W-wie bitte?", gab er entgeistert von sich und stellte das Buch in seinen Händen zurück in das Regal, machte unbewusst einen Schritt weg von dem Mann und wo zuvor noch das Empfinden von Geborgenheit diesen Raum einladend gestaltete, glich es Ezra schlagartig wie sein persönliches Gefängnis. Guiseppe reichte seinem Gegenüber kommentarlos die Zeitung unter seinem Arm, entrollte das Papier und deutete auf einen Artikel der dritten Seite. Misstrauisch griff sich Ezra den Gegenstand und überflog die Zeilen, die sich ihm wohl für alle Zeiten in's Gedächtnis brennen würden. Wie hatten sich Harvey und Clayton nur gefühlt, als sie das lesen mussten? Seine Eltern?

„Auf der beliebten Route der luxuriösen Kreuzfahrtsdampfer durch die britische Nation hat sich erneut eine Tragödie ereignet: die Küstenwache sprach von einem Schiffsunglück außerhalb potentieller Marinestützpunkte, Auslöser soll nach bekannten Polizeiangaben ein Unwetter der Stufe 6 gewesen sein. Das Schiff kam mit internen Beschädigungen davon. Passagiere wurden unverzüglich an den nächstgelegenen Hafen transportiert, rund 45 Menschen wurden vom Hafenpersonal versorgt bis die Krankenwagen eintrafen. Ein junger Mann Anfang 20 stürzte von Bord und ertrank sofort – jegliche Rettungs- od. Bergungsversuche scheiterten. Der Vorsitz der Kreuzfahrtgesellschaft teilte nach Prüfung mit, dass das britische Gewässer sowohl als eine der schönsten, als auch eine der gefährlichsten Routen der Schifffahrt gilt.

Die Familie Jeon, deren 19-jähriger Sohn Jeon Ezra ertrank, hat heftige Vorwürfe gegen das Touristikunternehmen erhoben und die mangelnden Sicherheitsmaßnahmen kritisiert. Die Polizei und das Unternehmen kommentierten die Vorwürfe der Familie nicht. Die Firma teilte lediglich mit, es handle sich um einen tragischen Unfall. Man helfe den Angehörigen und kümmere sich um eine psychologische Betreuung."

Ezra senkte die Zeitung mit zittrigen Händen. Sein Hals kratzte unangenehm und die Trockenheit, die seiner Zunge das Reden unmöglich machte, fühlte sich wie eine tonnenschwere Bleischicht an. Er wusste sich schlichtweg keinen plausiblen Weg, um sich aus dieser bedrängenden Situation zu reden. Zu winden. Wie auch? Schwarz auf weiß abgedruckt stand da seine Geschichte, die, die er Guiseppe nicht erzählen konnte. Nicht weil er die Folgen befürchtete, sondern vielmehr die Zukunft. Jeon Ezra ertrank bei einem Schiffsunglück. Aus dem Kreis der Liebsten gerissen von einem Sturm der Stufe 6. Da konnte sich nicht einmal sein scharfer Verstand eine glaubwürdige Erklärung zurechtspinnen, die Guiseppe weiterhin in Unwissenheit wiegen würde.

Jeon Ezra starb vor 11 Tagen.

Und trotzdem stand ein Mensch mit genau diesem Namen vor Guiseppe, blickte ihn gebannt aus einem Paar brauner Augen an, die nur knapp dem Tod entronnen waren. Einem Paar Augen, das durch die Hölle schritt und in den tosenden Flammen den paradiesischen Himmel fand. In einem Paar ozeanblauer Perlen.

Guiseppe, der stillschweigend die Zeitung zurück an sich nahm und faltete, hob eine Braue und bedachte den Schwarzhaarigen mit einem großväterlichen Blick. Keinerlei Vorwürfe oder Anschuldigungen spielten sich darin, sondern viel mehr eine Art der Akzeptanz, wie es der junge Mann nicht erwartet hätte. Niemals. „Wie dir galt meine Aufmerksamkeit keinerlei Fabelwesen oder Erzählungen, als ich in deinem Alter war. Doch als Wendy mein Kind in sich trug, trotz ihrer ärztlich nachgewiesenen Unfruchtbarkeit, begann ich an Wunder zu glauben. Dir widerfuhr ein ähnlicher Weckruf", meinte er unbeirrt von Ezra's offenstehendem Mund. Der war viel zu geplättet, als das er den Redefluss unterbrechen könnte. Guiseppe wusste als von Anfang an, seit dem Moment in dem er Ezra vor seiner Haustür aufgegabelt hatte, wer der Schwarzhaarige war. Was er erlebt hatte. Wo ihm dies widerfahren war. Wie unmöglich es war, dass er sich ohne fremde Hilfe retten konnte. Und trotzdem sagte er nichts. Stellte keine Fragen, hinterfragte seinen Verbleib der letzten Woche kein einziges Mal.

„Ich schätze wir beide wissen, dass man so ein Unwetter auf offener See unter keinen Umständen überlebt. Nun, unter keinen normalen zumindest. Du fragtest mich, ob das Schicksal Fehler machen kann", rief der Alte die vorhin gestellte Frage zurück in beiderlei Gedächtnis und betrachtete die Bücher rings um sich. Schwerfällig zog sich ein kleines Lächeln über seine Lippen, die Erinnerungen an seine geliebte Frau und das ungeborene Kind glitzerten in seinen Augen und Ezra schluckte mitfühlend. „Das Schicksal macht keine Fehler. Es nimmt lediglich die ein oder andere Korrektur am Verlauf der Dinge vor, wie ich finde. Lass es mich dir erläutern: wärst du in dem Sturm umgekommen, was wäre passiert?"

Ezra brauchte nicht lange, um diese Frage zu beantworten. Cassian hätte ihn nicht gerettet, sie wären sich nicht näher gekommen und Liebe für eine andere Person wäre niemals entstanden. Gleichzeitig...Cassian würde nicht bis zum Hals in Schwierigkeiten stecken. Ezra würde nicht in der verlassensten Gegend der Welt mit einem alten Seekautz sitzen, sondern mit Harvey und Clayton um die Häuser ziehen, von seiner Mutter die altbekannte Predigt von wegen halte dein Zimmer sauber solange du unter unserem Dach wohnst ertragen müssen und-...

„Nichts", realisierte Ezra verwundert. „Es wäre alles beim Alten geblieben"

Guiseppe nickte. „Im Vergleich zu den jetzigen Zuständen: wären die alten eine bessere Alternative?"

Ezra runzelte die Stirn. „Wie meinen Sie das? Ich wär halt nicht um ein Haar ertrunken, das ist schon ein Aspekt den man in Betracht ziehen sollte"

„Ja...nicht ganz, mein Freund", schüttelte der Kautz den Kopf und zog an seiner Pfeife, bevor er ein letztes Mal versuchte, dem Schwarzhaarigen auf die Sprünge zu helfen und das in der Luft schwebende Offensichtliche zu begreifen. „Denk nach. Du hast überlebt und das bedeutet irgendwo, dass du eine zweite Chance erhalten solltest. Wofür? Was ist wichtig genug, um den Tod hinauszuschieben? Wem sollst du deine Hilfe zukommen lassen? Oder dient deine Rettung einem höheren Zweck?"

„Hä? Keine Ahnung, ich hatte Glück?", zuckte der Schriftsteller ein bisschen verwirrt die Schultern, unsicher biss er sich auf die Lippe. Bislang dachte er nicht wirklich über den Sinn seiner Verschonung nach – er hatte Glück. Durfte man das nicht mal zur Abwechslung zu all dem Pech erfahren? Außerdem: ein höherer Zweck? Nein, wenn das der Fall war, hat sich jemand entweder einen unlustigen Scherz erlaubt oder er war einfach komplett bescheuert. Ezra war nichts Besonderes. Er besaß eine Nase, zwei Arme und wie jeder andere Mensch einen eigenen Willen.

Wie jeder andere besaß er einen eigenen Willen. Was sollte es da denn noch-...

Ezra's Augen weiteten sich. Er hatte einen eigenen Willen, den er ausleben durfte. Jemand anderes nicht. Cassian. Cassian hatte sich unmenschlichen Vorschriften zu unterwerfen, gegen seinen Willen.

Was, wenn Ezra aus diesem Grund verschont wurde? Weil er eben das, diesen entwürdigenden Zustand, ändern sollte?

„Ein höherer Zweck", hauchte er gefesselt von seinen brausenden Geistesblitzen, die sich zu einem hektischen Strudel aus Blitz und Donner vermengten und selbst die letzte graue Hirnzelle mit sprudelnder Energie durchfluteten. Er erkannte den Sinn. Den Grund, warum er auf seinen Beinen inmitten dieser alten Bücher stand, anstatt als Haifutter zerfressen in deren Mägen zu liegen. Ezra erhielt eine zweite Chance – von wem? Eine Frage, auf die er niemals eine Antwort erhalten würde. Aber wenn er schon keine Antwort erhielt, so würde er welche finden. Eine einzige reiche bereits aus, um die Probleme zwischen den verfeindeten Reichen zu lösen. Um Cassian von den Fesseln seiner persönlichen Hölle zu befreien.

Ihr macht Jagd auf meinesgleichen seit Anbeginn der Zeit, versklavt unschuldige Lebensformen und bringt sie niemals wieder aus euren Gefängnissen zurück nach Hause. Euch ängstigt die Unwissenheit über das Leben im Meer und weil ihr auf den Platz an der Spitze der Hierarchie ganz versessen seid, scheut ihr nicht über Leichen und Blut hin dieses Ziel zu verwirklichen.

Ja, die Menschen behandelten das Meer und die darin lebenden Wesen nicht annähernd mit dem angemessenen Respekt, den sie verdienten. Verschmutzten die Umwelt, bereicherten sich den Fischen. Ezra zählte die ihm gegebenen Schnippselchen zusammen. Die Infos bestanden hauptsächlich aus aufgeschnappten Brocken aus Harvey's Netflix-Serien und dem, was ihm Cassian während der Reise anvertraute – obwohl es ihm untersagt war, über die Existenz der seinen auch nur einen Buchstaben zu verlieren. Irgendwas hatte sich zwischen den beiden befunden, lange bevor aus diesen schlummernden Empfindungen Zuneigung wurde, was Cassian mit so viel Zuversicht bestärkte, einem Menschen all diese gehüteten Geschichten zu erzählen. Cassian riskierte Kopf und Kragen, einfach so aus einer Laune heraus? Aus Naivität?

Nein.

Ezra war anders, diese Ansicht vertrat er mit voller Überzeugung bis zum Ende. Und Ezra, der den Sinn dieser versteckten Botschaft erst jetzt begriff, könnte sich glatt selbst in den Arsch treten.

Er war anders. Nicht auf eine anziehende Weise, oder gar auf sexueller Basis. Nein. Ezra war anders. Er war ein Mensch. Das war der Unterschied, den das Meerkind mit diesem Adjektiv zu umschreiben vermochte. Für den Fall, dass ein ungebetenes Paar Ohren zu neugierig war und diese Konversationen mitverfolgte, sollte der Sinn der Botschaft nicht an einen dritten veräußert werden. Ezra war ein Mensch, der die Historie der Meere erfahren durfte. Hätte dieser Baek, wie ihn Cassian immerzu nannte, davon Wind gekriegt, würde er auf seinem glitzernden Riesenzahnstocher nicht nur Perlen mitschleppen, sondern auch Ezra's abgeschlagenen Kopf.

Gierig griff er nach einigen Schriftwerken und legte sie auf dem Schreibtisch vor sich ab, schlug die Schmöker auf und ungeachtet des mickrigen Lichtkegels der Lampe, vergrub sich seine Nase auf der ersten Seite. So hatte er es als Kind getan, so pflegte er es noch jetzt als junger Erwachsener zu tun.

„Den meinen wurde strengstens untersagt den Kontakt zu eurer Welt zu suchen. Ihr gilt als Bezwinger der Freiheit, das Meerreich ächtet eure bloße Existenz"

Ezra war so versessen auf die unzähligen Schriftwerke, dass er es nicht bemerkte, wie Guiseppe langsam den Raum verließ und zwei Stunden später eine Tasse Tee mit einer Decke auf die Kommode stellte. Lächelnd zwirbelte er seinen Bart und seufzte. Dass die Leidenschaft seiner seligen Frau in einer völlig anderen Person nicht minder brennen könnte, hätte er sich nie gedacht. Deswegen erfüllte es sein altes Herz mit umso wärmerer Freude, einen jungen Spund wie Ezra so erpicht auf die Erinnerungen aus vergangenen Epochen zu machen. Dass er Ezra von der ersten Sekunde an aus dem Zeitungsartikel kannte, verschwieg er bewusst. Es war lediglich eine Version der Geschichte, und wer war er schon, um mit halben Herzen über etwas zu urteilen, wovon er keine Ahnung hatte?

Guiseppe verließ den Raum.

Ezra dagegen beschrieb mehrere kleine Notizblöcke im Verlauf der Nacht, kritzelte wild aufgegriffene Theorien nieder und raufte sich frustriert durch die Haare, als ihn ein Moment der Müdigkeit heimsuchte. Dabei konnte er es sich nicht erlauben, auch nur eine Minute untätig herumzusitzen. Er durfte es nicht. Er verfolgte eine Mission, eine ganz spezielle Absicht. Deren Grad der Einfachheit schon wieder so gering war, dass es sich als umso komplizierter entpuppte. Das Studium schien sich wahrlich auszuzahlen, so wie Ezra in seiner Leidenschaft aufblühte.

„Cassian, du verdammtes Genie"

Juxend kippte sich Ezra eine Tasse des köstlichen, mittlerweile allerdings kalten, Tees den Rachen hinunter, schüttelte seinen Kopf energisch und fokussierte sich erneut auf die vor ihm ausgebreiteten Bücher, knabberte an dem Ende des Bleistiftes und schrieb die letzte Zeile eines Reims nieder. Nun, anfangs wirkte es wie ein sich reimender Spruch. Aber das Verfassungsdatum dieser Botschaft, welches mit ein wenig Fantasie bis in die Zeit des Mittelalters oder sogar noch weiter in die Vergangenheit zurückverfolgt werden konnte, entpuppte sich als größter Knackpunkt in Ezra's Mission.

Was hielt ihn davon ab, mit seinem Gefährten zusammen zu sein? Ausgenommen der Verschiedenartigkeit ihrer physischen Erscheinung? Ausgenommen ihrer jeweiligen Herkunft?

Ein uraltes Gesetz, das durch unbekannte Münder und Vertraute letztendlich bis an ein menschliches Ohr gedrungen war. Und dieser Mensch, der davon Zeuge wurde, schrieb es nieder. So versteckt zwischen Seemannsgeschichten und Mythen, dass Ezra es tatsächlich erst auf den zweiten Blick identifizieren konnte. Dem Wortlaut gab es das wieder, was er eh schon von Cassian wusste: Menschen sind Satansbraten und sollten sich Meermenschen mit ihnen einlassen, würde eine harte Strafe auf sie warten. Menschliches Strafgesetz auf einem alten Stand unterschied sich hierbei nicht von den Regeln der Meere.

„Dieser beschissene Krieg...ich dachte, unter unser Niveau kann man gar nicht mehr fallen", überlegte er hoch konzentriert über seine Zusammenschriften gebeugt. „Aber wie's aussieht, fliegen da unten genauso die Fetzen wie zwischen unseren verkorksten Präsidenten hier oben. Und warum? Weil jeder der Beste sein will und das fürchtet, was er nicht kennt. Lächerliches Kindergartentheater"

Den nächsten Schmöker wälzend bemerkte der eifrige Leser nicht, wie die Zeit verflog und die Uhr irgendwann drei Uhr morgens zeigte. Müdigkeit gesellte sich immer häufiger zu seinen aufwallenden euphorischen Schüben, die er jedoch gekonnt ignorierte.

Ezra war so verdammt nah dran, das Rätsel zu knacken.

„Was auch immer damit gemeint ist, aus den Reihen der unseren deckt niemand des Rätsels Lösung auf. Vielleicht ist diese verschlüsselte Überlieferung auch gar nicht für die Meerleute gedacht? Womöglich richtet sich das Wort unserer ersten Regenten ja an das Volk der Euren, Menschlein?"

Ein undefinierbares Grinsen zuckte über Ezra's Mundwinkel, sein Herz klopfte im steten Rhythmus gegen seinen Brustkorb und er war sich zum ersten Mal in seinem Leben sicher, etwas Fantastisches zu erschaffen. Eine Verbindung, die bereits seit dem Anbeginn der Zeit existierte, vermochte er klar zu definieren und damit die Wogen zu glätten. Ezra setzte seinem Geist keinerlei Einschränkungen. Die wildeste Kreation aus einem Mix von Mythen und Realität, die Grenze zwischen den Feindschaften verblasste mit jeder weiteren Stunde, in denen sich der studierte Schriftsteller durch sämtliche Bücher fras und seinen scharfen Verstand tanzen ließ.

Es war eben, was der Schwarzhaarige wie ein Handwerk bis in die Perfektion beherrschte.

Worte.

„Na schön...für die Meermenschen gilt die Rassenwahrung und die Familie anscheinend als oberste Priorität", fasste er einen Artikel der Lektüren zusammen und verkniff sich ein Gähnen. Dass ihm dieser Zusammenhaltstrieb bei Cassian aufgefallen war, unterstrich diese These immens. Seine, wie sagt man? Mitmeermenschen? Diese hatten offensichtlich nicht viel für ihren eigenen Thronherrn übrig, und trotzdem stand Cassian so loyal wie ein Schatten hinter jedem einzelnen von ihnen. Seine Kindheit, so überlegte der Mensch verbissen, musste alles andere als schön gewesen sein.

„Aber warum bekriegen sie sich dann mit diesem Bösewicht Dragstor? Zählt für den etwa was anderes? Hm, vermutlich hat der Kerl keine Familie, woher würde er sonst diesen irren Tötungsdrang haben. Diversen Behauptungen nach zieht er seine Kraft aus den Albträumen von kleinen Kindern...wow, hört sich das bescheuert an. Streng dich mal 'n bisschen an Kooks, also was haben wir?"

Ächzend zog er die kuschelige Decke enger um seine fröstelnden Schultern, strubelte sich durch die wirre Haarmähne und rieb sich energisch die Lider. Jetzt der lauernden Erschöpfung nachzugeben, würde das Aus seiner motivativen Stimmung bedeuten. Noch hatte er das Problem nicht vollständig gelöst, einzelne Passagen der Botschaft spiegelten sich in seinem Verstand zu einem abstrakten Muster und brachten ihn nicht weiter, eher durcheinander. Im ältesten Schmöker, weit hinter den anderen Büchern in den Regalen hatte er den dunklen Einband erspäht und hervorgezogen, den Staub entfernt und auf der letzten Seite ein handschriftliches Abbild einer vergessenen Prophezeiung entdeckt. Immerhin war sie mit dieser Betitelung ausgewiesen, also schien etwas dran zu sein.

Ezra hatte ja keine Ahnung, dass in diesen sechs Absätzen die Lösung all seiner Probleme lag. Das er durch das Hintergrundwissen von Cassian, welches vom ersten Regenten bis über den langjährigen Krieg und zu den aktuellen Umständen reichte, zusammen mit den Strophen alle Mittel in den Händen hielt, um den alles entscheidenden Unterschied zu bezwecken.

Ezra war anders. Ezra war ein Mensch.

Und dieser Mensch besaß die Fähigkeit, die übermittelten Schriften aus den vergessenen Epochen in einen logischen Zusammenhang zu bringen und die wahren Motive zu entschlüsseln, mithilfe von Cassian's anvertrautem Wissen über die politische Lage unter Wasser.

Was hielt Ezra davon ab, mit seinem Gefährten zusammen zu sein? Zusammen zu bleiben?

Die Differenzen ihrer Welten, die unbewiesenen Anschuldigungen der jeweiligen Machtpositionen.

Dragstor zog seine Energie nicht aus den Albträumen der Kinder, das hatte er nie und würde er auch nicht. Der Schwarzhaarige konnte dieses Argument mit Leichtigkeit untermauern, denn wäre die dunkle Energie von diesen Träumen beeinflussbar, dann würden die bei weitem überragenden guten Träume ihn längst ausgelöscht haben. Nichts davon war passiert. Also musste es einen anderen Grund geben, weswegen der lichte Herrscher dem dunklen nicht den Garaus machte. Nun, irgendwann glückten diese Mordversuche ja trotzdem, sonst würde Cassian nicht für alles den Kopf hinhalten und den Thron besteigen müssen. Und genau das versetzte Ezra in Aufruhr und Sorge. Cassian besaß so ein sanftes Wesen, ertrug Streitigkeiten nicht und tat alles in seiner Macht stehende, um die Harmonie nicht schwinden zu lassen. Der Kleine war schlichtweg nicht für ein Leben auf einem funkelnden Stuhl gemacht. Die Tücken vergraulten und verschreckten ihn, und sich seinen Jungen mit den ozeanblauen Augen so vorzustellen, wie er sich in eine stille Ecke zurückzog um nicht Hals über Kopf in bitterem Kummer zu versinken...

...Ezra würde es sehr begrüßen, wenn Guiseppe ihm statt einer Decke einen Boxsack gebracht hätte. Dann könnte er seinen Ärger mithilfe dieses Ventils rauslassen, abschwächen. Cassian, egal wo er sich befinden mochte, verdiente nichts der schlechten Gefühle, die ihm durch egoistische Fische widerfuhren. Er verdiente die leuchtenden Sterne am Nachthimmel. Akzeptanz und Verständnis für seine Grenzen, die er für sich behielt weil es eh niemanden störte, wie es ihm ging. Naja, Ezra kümmerte es – aber der hockte auf der falschen Seite der Meeresspiegelung.

Die zerstörten Plantagen, wie Ezra von Baek aufschnappte, waren mit Sicherheit nicht der erste Versuch, sich die Macht von Cassian unter den Nagel zu reißen. Und das Empfinden von kalter Angst ließ ihn einfach nicht los, schloss sich eisern um seine Kehle und drückte unbarmherzig zu. Sein Gefährte schwebte in hohem Risiko. An Ezra lag es, ihn aus diesem zu befreien und in Sicherheit zu bringen. Zu beschützen. Koste es, was es wolle.

„Dragstor hatte einen Vater, Melostan...", seufzte er ein wenig ausgelaugt und rieb sich über's Gesicht, was sich in seinem schummrigen Zustand eher wie Schmiergelpapier anfühlte. „...was ist mit Melostan geschehen, dass Dragstor diesen Hass in sich aufnahm und er so unnachgiebig die Lichten angreift?"

*

*

*

Als Harvey vor ein paar Jahren Fan einer TV-Soap war, Ezra konnte sich beim besten Willen nicht mehr an den Titel erinnern, erzählte er ihm den Handlungsfaden des Dramas bis ins kleinste Detail, weil es ihn so bewegte. Innerfreundschaftliche Emotionen, Turteleien mit der falschen Person und zu viele Geheimnisse entlarvten die Opfer einer aussichtslosen Romanze vor all ihren Angehörigen. Der beste Freund des Bräutigams hatte was mit der Braut am Laufen – und niemand ahnte auch nur im Entferntesten, dass der Bräutigam an dem späteren Autounfall seiner zerflossenen Liebe die Schuld trug. Solange er das Mädchen nicht haben konnte, sollte niemand einen Finger an sie legen dürfen. Nicht einmal derjenige, der die Liebe des Mädchens tatsächlich verdiente.

Und während Ezra die vergilbten Seiten ein letztes Mal durchlas, fingen seine mentalen Zahnrädchen endlich an in einem gleichmäßigen Rhythmus zu knarzen und Licht in's Dunkel zu bringen. Warum Dragstor so versessen auf Krieg war. Warum er jedem nach dem Leben trachtete, dessen Seite von einer besonderen Person bewohnt wurde.

„Sie waren Freunde", stellte Ezra nach weiteren 45 Minuten spezifischer Recherche fest und blickte betroffen auf das Fenster und die Nacht, die dahinter lauerte. Dunkel, unheilvoll und unberechenbar. So wie die Geheimnisse einst schienen, als er hinteren deren Wahrheit noch nicht blicken konnte. Aber jetzt tat er es. Er fühlte sich ein kleines bisschen schlecht, aber er konnte einfach nicht vermeiden, dass er Mitleid empfand. Für ein grausames Monster wie Melostan, keinen Deut großzügiger als sein Sohn. Wobei...machte es ihn zu einem Monster, wenn er schlichtweg um seine besondere Person verzagte und keine andere Kompensationsmethode fand, als Rache zu verüben?

Ezra ergänzte letzte Stichpunkte und durchdachte seine These, wackelte in Gedanken versunken mit seiner Nasenspitze und konzentrierte sich darauf, keinen Wirrwarr in diese Aufzeichnungen zu bringen. Analysierte er korrekt? Bestimmt. Wörter und Zahlen zählten immer schon zu seiner herausragenden Stärke. Wenn er eines konnte, dann Krimis schreiben und kniffelige Rätsel und Kreuzwortgitter zu lösen.

„Melostan verliebte sich in eine Menschenfrau und wollte sich zu einem Leben an ihrer Seite bekennen. Er hegte keinen Groll gegenüber der fremden Rasse, nicht so wie dieser Fliatus Korratius, Regent der Lichten, dem die Zweibeiner nicht geheuer waren. Er lief Gefahr seinen Freund an eine unterentwickelte, unbekannte Spezies zu verlieren und weigerte sich, das zuzulassen. Melostan dagegen entschied sich für die Gunst dieser Frau, doch als das Paar sich heimlich traf lockte Fliatus die Frau in eine hinterlistige Falle und nahm ihr das Leben. Melostan hat ihm diese Schandtat nie verziehen und verbitterte, die Freundschaft der zwei Könige zerfiel zu brodelndem Hass und Zerstörungsdrang...aus Rache erklärte Melostan den Lichten den Krieg. Er tötete seinen Freund und als er aus seinem Rachedurst erwachte, mit dem toten Körper des lichten Königs vor ihm, trieb ihn der Verlust seines Freundes und die Schuld an dem Verbrechen in den Wahnsinn. Sein Sohn schwor sich, seinen Vater und dessen zerstörte Liebschaft zu rächen...ah, er führt sein Werk fort. Tot den Lichten. Aus Rache an der toten Menschenfrau. Okay, das leuchtet ein"

Überzeugt nickte Ezra. Er fühlte sich dem Rätsel ein ganzes Stück näher, schien es schon merklich greifen zu können. Aber statt sich als Retter zweier Welten zu fühlen, trieb ihn ein einziger Impuls zu diesem mentalen Hürdenlauf an. Cassian. Die ozeanblauen Augen. Sein liebreizender Gefährte, den er schon viel zu lange nicht mehr sehen durfte. Diese süßen Lippen, deren winzige Kostprobe ihn hypnotisiert und auf schmerzlichen Entzug hier zurückließen. Genießerisch schloss er die Augen und gewährte seinen wirren Gedanken eine Pause von der Arbeit, ließ sie bereitwillig zu dem Kuss zurückwandern und-

Da war es wieder. Das Herzklopfen. Das manische Kribbeln überall dort, wo Cassian ihn berührte. Die Leere in seinem Verstand, die sämtliche Probleme ausblendete als gäbe es sie nicht. Die Liebe zu diesem Geschöpf, die Ezra in keinster Weise bereute. Der Drang, seine Finger durch das kristallblaue Haar zu wuscheln oder die süße Stupsnase beim Wackeln zu beobachten, wurde von Moment zu Moment stärker, in dem ihm Cassian's Anwesenheit nicht vergönnt war.

Unlösbare Differenzen stellen sich meistens als Gemeinsamkeiten heraus, die schlichtweg durch persönlichen Groll soweit aufgebauscht wurden, bis es andere affektierte.

„Anstatt diese Romanze unter sich zu klären, brachen die Könige einen Zacken aus ihren Kronen und involvierten ihre Folgschaften. Krieg brach aus. Und als die zwei Streithähne abdankten, hinterließen sie ihren Kindern nichts als fortbestehende Scherereien und Groll, zusammen mit dem schlechten Ruf der Menschheit", schlussfolgerte Ezra klamm. Fliatus war der Vater von Cassian, während Melostan seinem Kind Dragstor das Leben schenkte. Dragstor griff also deswegen die Lichten an, obwohl die ihm nichts Böses möchten. Daher also wurde nach Ende des Krieges das Verbot ausgesprochen, sich den Menschen nicht zu nähern. Es ging bereits einmal sehr schief und endete in einem dahinraffenden Krieg. Die Befürchtung, eben jene Wendung könne sich ein weiteres Mal wiederholen und Tod über die Ozeanbevölkerung bringen, verbot es den Meermenschen, das Gute in den Zweibeiner zu sehen.

Sie kannten ja nur deren zerstörerische Wirkung. Krieg. Blut. Tod.

Dabei machte doch viel mehr die Menschheit aus, als diese negativen Aspekte.

Und irgendjemand betraute Jeon Ezra mit der Aufgabe, die blutbefleckte Weste der Zweibeiner ins Reine zu waschen. Ein hoher Preis, denn bei diesem Versuch stand weit mehr als sein Leben auf dem Spiel.

Versagte Ezra, würde man Cassian zusammen mit seinem Gefährten umbringen.

„Nur kein Druck, Ezra", maulte Ezra mit zittrigen Fingern, sodass er vorsichtshalber den Stift aus der Hand legte und sich unglaublich angespannt durch die Haare fuhr. „Hängen neben unzähligen Leben ja nur ein paar Kriegserklärungen in der Luft. Das kleinste Übel. Bring den engstirnigen Leuten lieber bei, was du rausgefunden hast. Mit etwas Glück spießen sie dich nicht sofort auf. Und Cassian lassen sie vielleicht auch am Leben. Das heißt, wenn du's nicht komplett verkackst – worin du unglücklicherweise ein geübtes Händchen hast. Aber hey: nur kein Druck"

Continue Reading

You'll Also Like

160K 5.1K 49
Jeongguk war schon seit 3 Jahren mit Taehyung glรผcklich, doch bringt seine Eifersucht ihn manchmal wirklich um den Verstand. Dass die beiden mit ihre...
186K 7.7K 43
Vor genau einem Jahr hatte der beliebte Taehyung seinen Klassenkameraden Jungkook abblitzen lassen. Doch es verschlรคgt ihm die Sprache, als dieser er...
71.7K 5K 107
TEDDYBร„R TEIL 2 Glรผcklich blickte Jungkook sein Bรคrchen an und fing breit an zu lรคcheln. Von nun an konnte nichts mehr schief gehen, dachte er. Von n...
247K 13.9K 67
๊ง Jemand der mit der Liebe spielt und jemand der sie nicht kennt kรถnnten unmรถglich zu einander finden, richtig? ~~ FanFiction: #25 {18.08.17} Start:...