Nathan | ✓

By einsilbig

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#𝟏 Ein einsteigender Arzt trifft auf einen verletzten Soldaten. Nur merkt man erst später, dass er sowohl kö... More

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dankesagung

WENDEPUNKT

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By einsilbig

NATHANS POV


Es war still. So still, dass man sogar den leichten Nieselregen an den Fensterscheiben trommeln hören konnte. Mittlerweile war es fast Nacht und das restliche Essen lag kalt in den Pappkartons.

Paul war nach meinem langen Reden ruhig und starrte intensiv hinter mich in die Leere. Offensichtlich dachte er nach, leider hatte er aber dabei meine Hand losgelassen und ich fühlte mich somit einsamer und irgendwie allein gelassen. Aber das war absurd, denn er saß direkt vor mir und hat mir seine Zeit gegeben.

Bestimmt verabscheute er mich jetzt noch mehr als zuvor. Ich war einfach nur Abschaum, zu nichts fähig. So wie meine Eltern es mir eingeredet haben. Vielleicht teilte er die Meinung ja mit denen und würde mich jetzt komplett abstoßen...

„Und sonst hast du wirklich niemanden mehr?", brach er nach einigen Minuten des Prozessierens die Stille. Ich schluckte schwer und formte eine Antwort, die einigermaßen Akzeptabel war.

„Nein. Außer meinen Arbeitskollegen, Daniel und dich habe ich niemanden mit dem ich sonst wirklich rede. Ich kann es einfach nicht mehr, zu groß ist die Angst, dass ich noch einmal dasselbe durchgehen muss wie früher."

Es kehrte wieder Stille ein und wir beide versanken in unsere Gedanken. Oft versuchte Paul einen neuen Satz anzusetzen, doch bevor die Wörter seinen Mund verließen, verstummte er wieder und fuhr sich über sein müdes Gesicht.

„Es tut mir leid. Du verdienst so etwas nicht. Du bist so ein guter Mensch und selbst ich kann das schon sagen, obwohl ich dich nicht lange kenne. Mir tut es auch leid wie ich dich die letzten Wochen behandelt habe. Du hast so viel für mich gemacht, alleine schon wie du mich ohne Widerrede bei dir Zuhause aufgenommen hast und dich mit meinem Temperament auseinandergesetzt hast. Ich weiß, dass ich schwer bin. Das ist bewundernswert, da nicht mal meine Familie mich richtig aushalten konnte. Ich habe meine Emotionen nie wirklich zum Ausdruck bringen können, aber du bist die scheiternden Versuche wert gewesen. Danke, dass du so bist wie du bist und stark geblieben bist. Wärst du nicht hier, hätte ich die Zeit nicht überstanden.

„Deine Eltern sind keine Eltern, wenn sie dich nicht so akzeptiert haben wie du bist. Ich will nicht sagen, dass sie den Tod verdient haben, aber genauso hast du deren Behandlung und ekelhaften Wörter nicht verdient. Verstehst du was ich meine? Kein Kind auf dieser Welt verdient so etwas und du kannst so unfassbar stolz auf dich sein, dass du nicht so abscheulich wie deine Eltern und deine Geschwister geworden bist. Eventuell bist du dir deiner Meinung, deiner Sexualität und vor allem dir selber treu geblieben und das ist was zählt. Lasse die Vergangenheit, Vergangenheit sein und lerne aus deinen Fehlern. Schäme dich aber niemals für dich selber, denn du hast es alleine aus der dunklen Phase herausgeschafft. Und wenn du nicht so geworden wärst, wie du jetzt bist, wäre ich wirklich vollständig verloren gewesen und deine Freunde würden eine schwere Zeit haben."

Zum Ende hin wurde er immer leiser und ich lächelte ihn dankend an. Diese Worte waren so schön überdacht, ich war stolz auf ihn, dass er es für mich wenigstens versuchte. Dabei wurde mir warm ums Herz und ich realisierte wieder, wie sehr ich diesen Mann mochte. Und ich glaubte, dass er noch nie so viel am Stück geredet hatte. Doch nach diesen Redebeitrag hörten seine Worte überraschenderweise nicht auf.

„Da es meine letzten Tage mit dir sind und ich sie irgendwie mit dir genießen will, möchte ich mit dir einen Deal eingehen", meinte er und seine Augen nahmen sein gewohntes Funkeln ein. Das Thema war ihm wohl auch ein wenig zu dunkel.

„Ich höre", und meine Mundwinkel bewegten sich automatisch nach oben. Ich habe es vermisst: diese Wärme in mir und das Verlangen einfach nur meine positiven Emotionen in die Welt hinauszuschreien.

„Du hast mir alles von dir erzählt und ich in dieser Hinsicht bin ich es dir auch schuldig, von mir zu erzählen. Also...", nachdem ich die erste Hälfte des Satzes gehört habe, wurde er auch schon direkt von mir unterbrochen: „Du schuldest mir rein gar nichts. Ich wollte dir meine Geschichte erzählen, weil ich von mir aus bereit war und du auch den Anschein hattest, daran interessiert zu sein. Du schuldest mir gar nichts, außer glücklich zu sein und dich vollständig zu erholen. Hörst du mich?"

Seine Reaktion darauf war, dass er seine Hand auf meinen Mund legte und „Kannst du mich auch ein einziges Mal ausreden lassen?" erwiderte. Während meiner Standpauke hat sich ein Lächeln auf seinen Lippen geformt und euphorisch speicherte ich mir dieses Bild in meinem Gedächtnis ab.

Mir blieb nichts anderes übrig als zu nicken und ich versuchte das starke Kribbeln zu verdrängen, welches durch den Körperkontakt verursacht wurde. Dennoch wollte ich nur meine Augen schließen und die geringe Distanz zu ihm genießen, seinen tollen Geruch einatmen und meinen Kopf auf seine breite Schulter legen. Ich habe ihn wirklich vermisst.

Tief lufteinholend meinte er: „Ich werde dir irgendwann in den nächsten Tagen alles, wirklich alles, von mir erzählen. Ob du es willst oder nicht, ist mir egal. Ich werde dich dann vor mich setzen und dir gegebenenfalls mit einem Megafon meine Lebensgeschichte herunterleiern. Du wolltest es schon immer wissen und jetzt hast du bald die Gelegenheit. Nimm es so wie es ist oder lehne es ab, beides hindert mich aber nicht daran, zu reden. Hast du mich verstanden?"

Erneut nickte ich, antworten konnte ich durch seine Hand immer noch nicht. So dominant wie er in diesem Augenblick wirkte, hätte ich sowieso kein „Nein" herausgebracht. Er war wirklich sexy, wenn er aus sich herauskam. Klare Gedanken, Nathan!

„Und die letzten Tage werden wir genießen. Mir ist es ebenfalls bei diesem Thema egal, ob du es willst oder nicht. In diesem Fall wirst du mir aber wahrscheinlich nicht widersprechen, oder? Es war deine Intention hinter dem ganzen Trip, habe ich Recht?", fragte er und sein linker Mundwinkel hob sich zu einem süßen, selbstgefälligen Lächeln.

Selbstbewusstsein sah noch nie so gut aus.

Ein Klingeln an der Tür unterbrach seine Gesprächigkeit und ich musste zugeben, dass ich seinen Redefluss liebte. Trotzdem musste ich mich ein wenig von ihm lösen und machte mich schnell daran, an die Tür zu gehen und zu schauen, wer klingelte. Ich wollte nur noch zu ihm und keiner hatte das Recht, unseren Moment zu unterbrechen.

„Hier ist eine Bestellung für... Blue? Tut mir leid für die Störung, aber einer meiner Kollegen hatte vergessen, die Nachspeise beizulegen", meinte ein junger Pizzabote und reichte mir die zwei Boxen voller heimischer Backwaren und Süßigkeiten.

Ich bedankte mich schnell und gab ihm etwas Trinkgeld, denn wer würde freiwillig nachts eine Bestellung vollenden? Vor allem im Winter und kurz vor Silvester. Definitiv nicht ich.

„Wie wäre es, wenn wir uns jetzt noch einen gemütlichen Abend machen. Filme schauen und so weiter?", fragte ich während Paul die Boxen auf den Tisch vor dem Fernseher hinlegte und ich in der Küche nach Besteck, Geschirr und Servietten suchte.

Und so verbrachten wir die ganze Nacht. Fanden mehr über uns heraus im Sinne von Interessen und diskutieren über die verschiedenen Enden der unterschiedlichen Filme von diversen Genres.

Dabei wurden wir immer müder und ich realisierte kaum mehr, wie Paul mir zuckersüße Sätze ins Ohr flüsterte. Es war offiziell: ich schwebte auf Wolke 7. Wer hätte gedacht, dass sich die Atmosphäre zwischen uns beiden von heute auf morgen schlagartig ändern konnte.

Ich glaubte, dass der Deal uns neue Türen öffnete und uns beiden eine Chance gab, die Zukunft auszublenden. Alles was zählte war das hier und jetzt.


###


Ein Tag bis Neujahr


Gestern sind wir auf dem Sofa aufgewacht und dort haben wir so gut wie den ganzen Tag gemeinsam verbracht, da es ein starkes Unwetter hierhergetrieben hatte. Somit hielten wir uns den ganzen Tag im Haus und in der Küche auf, worin nun viele Plätzchen und Teigreste rumlagen. Ganz vielleicht ist gestern das Backen eskaliert. Aber nur ganz vielleicht. Die ganzen Utensilien haben wir am frühen Morgen eingekauft, da wir sonst die nächsten Tage nur bestelltes Essen gegessen hätten. Das Wetter schlug sofort um, als wir unsere Einkäufe in das Auto gebracht haben und wir hatten großes Glück, dass unser Auto nicht von der Straße weggefegt wurde.

Gähnend stieg ich nun leise aus unserem gemeinsamen Bett und ging hinunter in die Küche. Dabei glitt mein Blick aus dem Fenster und ich hätte vor Freude fast laut aufgeschrien. Draußen war die gesamte sichtbare Oberfläche malerisch mit Schnee bedeckt und alles sah so ungerührt und märchenhaft aus. Sogar ein paar Tiere, die keinen Winterschlaf hielten, konnte man beobachten und erfreut sprang ich die letzten Treppenstufen hinunter.

In der Küche machte ich leise Musik an und holte die Zutaten für unser Frühstück heraus. Glücklich summte ich mit zum Radio und schwang meine Hüften mit: besser konnte meine Laune nicht mehr werden. Währenddessen wendete ich die Pfannkuchen in der Pfanne und versuchte gleichzeitig die Kaffeemaschine zu betätigen.

Plötzlich schlangen sich zwei Arme um meine Hüfte und ich schrie auf. Beinahe schlug ich Paul mit meinem Ellbogen in seine Magengrube und gefährlich klapperte das Geschirr in meinen Händen. Ich verbesserte mich, meine Stimmung konnte noch viel besser werden, auch wenn mich der Grund schon mehrmals fast umgebracht hat.

„Du hast mich erschreckt, du Trottel", motzte ich den Übeltäter an und stöhnte innerlich auf. Wie alt war ich bitteschön, um dieses Wort zu verwenden. Auch Paul schien meiner Meinung.

„Trottel... ernsthaft? Ein besseres Wort fällt dir nicht ein? Bist du etwa so alt wie mein Großvater?", lachte er mit seiner tiefen Morgenstimme und noch im Halbschlaf, schien er sich nicht mehr einzukriegen.

Wahrscheinlich hatte Paul dank unserer neuen lockeren Stimmung und dem wunderschönen Wetter auch ziemlich gute Laune. Oder vielleicht war sogar ich auch ein Grund, denn die letzten Tage hatte sich wirklich viel zwischen uns verändert. Wir kamen viel besser miteinander zurecht und das freute mich unglaublich sehr.

Seine Anwesenheit hier machte mich mehr als nur glücklich, vor allem, weil er mir jetzt auch vertraute und seine Gefühle offen darlegt. Hätte ich gewusst, dass meine Lebensgeschichte einen so großen Einfluss auf seine Einstellung gegenüber mir gehabt hätte, hätte ich ihm schon direkt beim Kennenlernen alles gebeichtet. Aber wie er gesagt hat: die Vergangenheit liegt in der Vergangenheit und man konnte nichts mehr daran ändern und nur noch das Beste daraus machen.

Ich verdrehte meine Augen, als seine Lache immer noch nicht abebbte und wandte mich mit einem unterdrückten Grinsen wieder dem Tisch decken zu. Noch nie hatte ich ihn so ausgelassen gesehen, man konnte das Strahlen in seinen Augen förmlich glitzern sehen und sein Lachen war noch nie ehrlicher. Es war einfach nur toll. Er war toll.

Zusammen kriegten wir uns dann auch wieder ein, kochten zu Ende und aßen das gelungene und vielfältige Frühstück. Wir unterhielten uns über viele und vor allem aktuellen Themen und dabei mied ich aktiv das Thema Pauls Vergangenheit.

„Kaum zu glauben, dass wir uns in drei Tagen wahrscheinlich nie mehr wiedersehen, oder?", murmelte ich als mir der Gedanke plötzlich durch meinen Kopf lief und Paul stimmte nickend zu.

Vielleicht hätte ich es nicht aussprechen sollen, denn als ich diesen Satz ausgesprochen hatte, kippte die Stimmung drastisch. Die Realität setzte wieder ein.

„Aber hey. Man sieht sich mehr als nur einmal im Leben", motivierte ich uns und fing an, den Tisch abzuräumen.

Doch ich log, es war sehr unwahrscheinlich, dass wir uns noch einmal treffen würden. Daran wollte ich dennoch nicht denken, wir hatten noch ein paar Tage und die sollten wir voll und ganz ausnutzen. Dennoch musste ich mehrmals schwer schlucken und mir auf meine Zunge beißen. Verdammt.

Anschließend machten wir uns für den Tag fertig und fuhren wie geplant mit dem Auto in die Stadt, 20 Minuten entfernt von unserer Bleibe. Unser Ferienhaus lag etwas abseits von der Stadt, doch wir hatten kein Problem damit und genossen die Natur und das Meer um uns herum.

Paul und ich kauften uns Kleidung, Souvenirs und vieles mehr. Ich gab ihm Geld mit, da er darauf bestand, ein Geschenk für mich zu kaufen. Mit meinem Geld mein Geschenk zu kaufen ergab nun mal weniger Sinn und das sagte ich ihm auch. Er zuckte aber belanglos mit seinen Schultern und ging in die entgegengesetzte Richtung. Kopfschüttelnd sah ich ihm nach, bis er aus meinem Sichtfeld verschwand. Seine neue Seite war amüsant zu sehen und definitiv willkommen.

Die Tage an denen ich ihn sehen konnte wurden kürzer, aber meine Gefühle zu ihm immer stärker. Auch wenn er Fehler gemacht hatte, ist er mir unfassbar wichtig geworden und ich konnte über seine schlechten Taten hinwegsehen.

Warum ich das erst jetzt merkte? Weil mir jeder kleiner Abschied wehtat. Auch wenn es ein "Gute Nacht" oder ein "Bis später" war. Es tat weh. Man wusste nicht, was bis zur nächsten Begrüßung passierte oder ob es überhaupt noch eine geben wird. Als er sich in die andere Richtung gedreht hat, ist wieder ein kleines Stück in mir gebrochen. Es war erbärmlich, schließlich würden wir beide uns gleich wiedersehen. Jedoch bewegten wir uns langsam aber sicher dem Ende zu.

Wie würde ich mich wohl fühlen, wenn er nicht mehr an meiner Seite wäre, wenn ich alleine wäre? Daran wollte ich noch nicht denken. Doch ich spürte wie der bloße Gedanke an einen endgültigen Abschied, mir Tränen ins Auge trieb. 




Zum ersten Mal sehen wir Paul so und ja, er kann mehr als nur zwei Sätze herausbringen haha. Die beiden haben einen besonderen Platz in meinem Herzen.

- überarbeitet am 30.09.2021

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