Linkshänder küssen besser ✔

By isolatet

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»Wo bliebe denn das Abenteuer, wenn das Leben einem keine Steine in den Weg räumen würde?« Als Annie ihren Ro... More

Vorwort + Umfrage
1 | Von menschenbrutzelnden Backöfen und reinen Linkshänder-Betrieben ✔
3 | Allergisch gegen Katzen
4 | Auf unsere Kosten
5 | Nicht allzu ruppig
6 | Genauso schnell wie früher
7 | Lieber im Wohnmobil
8 | Vorsicht Mustang
9 | Ungestörter
10 | Ein anständiger junger Mann
11 | Nur fünf Wörter
12 | Weil Linkshänder einfach besser küssen
13 | Sonntag
14 | Wikingerschach
15 | Das große Poster vom Surfwettbewerb
16 | Ich habe dich vermisst
17 | Das zwischen uns
18 | Wahnsinnig verliebt
19 | Zweisamkeit mit dir
20 | Am seidenen Fädchen
21 | Mein Geld für den Kondensator
22 | Wo bliebe denn das Abenteuer
23 | Ein positiver Aspekt
24 | Ruhe nach dem ganzen Wirbel
25 | Schroff und unterkühlt
26 | Nochmal alleine
27 | Gute Manieren und Fauxpas
28 | Letzte Tage und ein Abschied
Epilog
Danksagung

2 | Von Heimweh, WG-Angeboten und blutsaugenden Insekten ✔

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By isolatet

4.141 Wörter

Tags darauf, am Sonntagmittag, meldet Roy sich und gibt mir am Telefon die Dienstzeiten für meine ersten beiden Arbeitswochen durch.

»Das war es eigentlich auch schon«, sagt er zum Schluss. »Am Dienstag wirst du meine Schicht ablösen, am Abend komme ich allerdings nochmal vorbei und schließe ab, denn du hast ja noch keinen Schlüssel. Den gebe ich dir dann, damit du am Mittwochmorgen aufschließen kannst.«

Verwirrt ziehe ich meine Stirn kraus. Warum gibt er mir den Schlüssel denn nicht schon, wenn ich ihn am Nachmittag ablöse? Doch dann zucke ich bloß mit den Schultern. Er wird schon seine Gründe haben.

»Am Nachmittag nehme ich den Schlüssel dann wieder entgegen und Freitag ist es dasselbe Spiel wie dienstags.«

Obwohl mich seine Vorgehensweise irritiert, lasse ich es mir nicht anmerken und verabschiede mich von ihm. »Okay, alles klar. Dann bis Dienstag.«

»Bis Dienstag«.

***

In Top und kurzer Hose und mit meiner kleinen Handtasche über der Schulter öffne ich die Tür meines Wohnmobils und trete nach draußen auf den Parkplatz. Augenblicklich spüre ich die Luftverbesserung und atme tief durch.. Ich weiß nicht, wie ich es seit Freitag im Wohnmobil aushalte, ohne wie Butter zu zerfließen. Irgendwie schaffe ich es - unter Entbehrung von sehr viel Schlaf.

Trotz des Schlafmangels war ich in den letzten Tagen nicht untätig. Aber leider ist meine Jobsuche bis jetzt genauso erfolglos wie vor zwei Tagen. Bei meinen anderen Haltestationen auf diesem Trip habe ich auch oft viele Geschäfte abklappern müssen, bis ich endlich irgendwo eine Zusage bekommen habe, aber in der gesamten Zeit hat es sich nicht einmal so schwierig gestaltet wie jetzt. Ausgerechnet jetzt, wo ich einen zweiten Job so dringend bräuchte.

Frustriert fahre ich mir durch die offenen Haare, die mir wegen der Hitze bereits im Nacken kleben. Kurzerhand binde ich sie mit einem Zopfgummi zu einem unordentlichen Dutt zusammen. Dann drehe ich mich zum Wohnmobil um und fasse einen Entschluss. Statt mich mit neuen Jobangeboten zu plagen, werde ich heute die Stadt erkunden.

Ich krame meinen Schlüssel aus der Tasche,, schließe ab und laufe ohne konkretes Ziel vom Parkplatz. Ich werde mich einfach von meinen Füßen leiten lassen, in der Hoffnung später zum Wohnmobil zurückzufinden. Zur Sicherheit speichere ich den Standort.

Die Innenstadt ist wunderschön. Ich liebe die meterhohen, gläsernen Gebäude und genieße das Großstadtgefühl. Leider muss ich bald feststellen, dass mir zum Besuch der meisten Sehenswürdigkeiten jedoch das Geld fehlt. Zuerst versuche ich, mir davon nicht die Freude rauben zu lassen, aber nach einer Zeit macht es keinen Spaß mehr, nur die Außenfassade zu betrachten, während hunderte andere ein- und ausgehen.

Frustriert setze ich mich in einem Park auf eine Bank, nicht weit vom Dallas World Aquarium entfernt, das ich zusammen mit den Texas Discovery Gardens so gerne sehen würde. Auf der Bank ziehe ich mein Handy aus der Tasche und fange an, eine Liste mit Dingen zu erstellen, die ich besuchen werde, sobald das Klimaanlagenproblem behoben ist. Als ich damit fertig bin, entdecke ich in zwanzig Metern Entfernung einen kleinen Eiswagen und weil ich so frustriert bin, beschließe ich, mir eine Kugel zu gönnen. Nur heute und nur ausnahmsweise.

Mit der Waffel und der Kugel Meloneneis in der Hand laufe ich noch ein bisschen durch Dallas, schreibe Sehenswürdigkeiten auf, hole mir, als ich das Knurren meines Magens nicht mehr ignorieren kann, einen Pastrami Bagel und gehe abends zurück zu meinem Wohnmobil. Vielleicht habe ich heute nicht das erlebt, was ich gerne wollte, aber der Tag war nicht umsonst.

Im Wohnmobil ist es immer noch furchtbar stickig, obwohl die Sonne inzwischen hinter dem großen Baum steht, unter dem ich mein Wohnmobil geparkt habe, und es deshalb im Schatten liegt. Um für ein bisschen frische Luft zu sorgen, lasse ich die Tür offen und öffne auch noch die Fenster an der Seite. Dann betrachte ich meine Schultern vor dem mannhohen Spiegel, der an der Badezimmertür hängt. Sie sind zwar nicht krebsrot, aber ich hätte mich definitiv mehr im Schatten aufhalten sollen. Aus dem Kühlschrank nehme ich meine After-Sun-Creme und trage sie rasch auf die verbrannten Stellen auf.

Erledigt von dem langen Tag lasse ich mich aufs Bett plumpsen und beschließe meine Eltern anzurufen. Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass es bei ihnen selbst mit einer Stunde Zeitverschiebung noch früh genug zum Telefonieren ist. Nach dem zweiten Mal Klingeln wird abgehoben und Dads Stimme ertönt am anderen Ende der Leitung.

»Hey Schatz, schön von dir zu hören. Wie geht es dir? Du bist inzwischen in Dallas, oder?«

Beim Klang seiner Stimme kann ich nicht anders und muss seufzen. Eine Welle von Heimweh überrollt mich, doch ich versuche mich zusammenzureißen und es mir nicht anmerken zu lassen. »Hi Dad. Ja, genau, ich bin am Freitag in Dallas angekommen. Leider hat das Womo eine neue Macke. Die Klimaanlage funktioniert nicht mehr und deswegen werde ich momentan bei kuschligen 33 Grad gebraten.«

Ich höre, wie es am anderen Ende raschelt, als würde jemand versuchen ihm das Telefon abzuluchsen, und vernehme ein mehr oder weniger böses Murmeln meiner Mutter. »Jetzt stell doch endlich mal auf laut.«

»Jaja, ist ja gut. - Annie, deine Mutter hört jetzt mit.«

Ich lache bei der Vorstellung, wie meine Mutter dicht am Ohr meines Vaters klebt, um durch den Hörer doch noch ein paar Gesprächsfetzen aufzufangen. In dem halben Jahr, das ich nun schon unterwegs bin, hat sich nichts geändert.

Dad beansprucht das Telefon für sich alleine und irgendwann beschwert sich meine Mutter und versucht, es ihm aus der Hand zu nehmen. Erst dann ist er bereit, den Lautsprecher einzuschalten.

»Also, was ist jetzt? Wie gehts dir? Wie ist Dallas?«, bekomme ich die gleichen Fragen noch einmal von meiner Mutter gestellt.

»Mir geht es gut. Ich fühle mich ein wenig durchgekocht, weil die Klimaanlage meines Wohnmobils nicht funktioniert und es deshalb brütend heiß hier drin ist, aber ansonsten geht es mir gut«, wiederhole ich.

»Ich habe dir ja gesagt, du sollst nicht so ein altes Ding kaufen. Das macht nur Probleme«, schimpft meine Mutter auf der Stelle los. »Irgendwann ist es ganz kaputt. Und wie kommst du dann nach Hause?«

Ich seufze. Ja, sie hat es mir gesagt. Aber wenn ich dieses Wohnmobil nicht gekauft hätte, dann hätte ich noch länger sparen müssen und mein Roadtrip wäre in noch weitere Ferne gerückt. Und bis auf die zwei vorigen Pannen hat es mich doch weit gebracht. Es wird schon nicht kaputtgehen.

»Ach Liebling, Annie ist erwachsen. Sie weiß, worauf sie sich da eingelassen hat und wird das schon wieder hinbekommen«, höre ich, wie mein Vater mich verteidigt. Ich kann mir vorstellen, wie meine Mutter mit einem Augenrollen antwortet.

»Ja, das weiß ich. Dennoch wäre es klug gewesen, ein anderes Wohnmobil zu kaufen.« Von dieser Tatsache ist meine Mutter seit der ersten Panne überzeugt. Keine wildgewordene Kuhherde, die im Schweinsgalopp auf sie zurennt, könnte sie je von dieser Meinung abbringen. Auch nicht mein Vater.

»Ich weiß, aber jetzt ist es so, wie es ist. Daran kann ich nichts mehr ändern und werde deshalb damit klarkommen.«

»Siehst du, sie ist ein reife, junge Frau geworden, unsere Annie.«

Ich lächle in mich hinein und spüre, wie mein Heimweh stärker wird. Plötzlich ist mir gar nicht mehr nach Lächeln zumute. Plötzlich wünsche ich mir nichts mehr, als bei meinen Eltern zu Hause zu sein. Bis jetzt habe ich alle Pannen gut gemeistert, aber langsam habe ich keine Lust mehr. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals.

»Ich vermisse euch ganz schrecklich«, bricht es in der nächsten Sekunde aus mir heraus, aber meine Eltern merken nicht, wie sehr ich sie wirklich vermisse. Stattdessen kommt ein synchrones »Wir dich auch« von beiden. Dann übernimmt mein Vater wieder das Wort.

»Warum gehst du denn nicht in eine Pension, wenn es im Wohnmobil so unerträglich ist?«

Verdammt!

Diese Frage hätte er nicht stellen dürfen. Ich kann ihnen unmöglich erklären, dass ich quasi pleite bin. Denn dann würden sie mich direkt unterstützen wollen und das möchte ich nicht. Ich möchte diesen Roadtrip alleine finanzieren. Das hat bisher wunderbar geklappt und es wird auch weiterhin klappen.

Fieberhaft suche ich nach einer Erklärung. »Naja, also, emm, so schlimm ist es im Womo noch nicht. Ich übertreibe ja manchmal ein bisschen. Ich schätze, ich vermisse euch einfach so sehr, dass mir das Ganze schlimmer vorkommt, als es eigentlich ist. Außerdem spare ich das Geld lieber fürs Sightseeing.«

Kurz ist es still auf der anderen Seite der Leitung, aber nach ein paar Sekunden scheinen sie sich damit zufrieden zu geben. Zumindest mein Vater.

Meine Mutter hingegen sagt: »Du weißt, dass du jeder Zeit nach Hause kommen kannst, oder? Du musst den Roadtrip nicht zu Ende machen, um uns etwas zu beweisen.«

So war sie schon immer und wird sie wohl auch immer sein: ein wenig überfürsorglich.

»Ja, ich weiß, aber es ist wirklich alles okay«, beruhige ich sie. »Ich denke, ich werde dann jetzt langsam schlafen gehen. Habe vor die Stadt morgen nach Jobs abzusuchen und dabei ein bisschen Sightseeing zu machen. Und bei euch ist es ja auch schon spät.«

»Pass auf dich auf, Schatz. Wir denken an dich und freuen uns schon auf den Tag, an dem dein Wohnmobil wieder in unsere Straße rollt. Und was auch noch auf deinem Roadtrip passiert, du schaffst das schon«, muntert mein Dad mich auf, als wüsste er ganz genau, wie sehr ich seinen Zuspruch jetzt brauche.

»Danke, Dad. Ich hab euch lieb. Schlaft gut, gute Nacht.«

»Wir dich auch, gute Nacht.«

***

Am Dienstagmittag stoße ich die Tür zum Tankstellenshop auf. Die unerträglich heißen und stickigen Tage haben ihre Spuren auf meinem Gesicht hinterlassen. Besonders der Schlafentzug ist deutlich sichtbar. Die leichten Schatten, die sich unter meine Augen gelegt haben, habe ich notdürftig mit Make-Up abgedeckt und hoffe, ein wenig frischer auszusehen, als ich mich fühle. Der Sonnenbrand ist dank der Creme fast verschwunden.

Wieder ist die kühle, klimatisierte Luft des Shops eine Wohltat auf meiner dauererhitzten Haut und mir wäre fast ein Seufzen entwichen.

Roy steht hinter der Theke und begrüßt mich mit einem Lächeln, als ich auf ihn zukomme. »Und, wo hast du die letzten Nächte verbracht? Doch nicht etwa im Wohnmobil?«

Was denkt er denn, wo ich sonst war? Etwa bei Verwandten und Freunden, die aus dem nichts hier in Dallas aufgetaucht sind? Schön wäre es.

Doch ich beiße mir auf die Zunge, um nicht genau das zu sagen, was ich denke. Schlafentzug macht mich zuweilen unausstehlich und das Letzte, was ich will, ist, dass Roy bereut mich eingestellt zu haben.

Also denke ich daran, dass ich nur wegen ihm bald wieder in einem klimatisierten Wohnmobil wohnen oder mir zumindest eine Pension leisten kann. Das lässt mich zuversichtlicher werden, deshalb antworte ich mit einem schiefen Lächeln: »Doch, leider genau da. Aber ich hoffe, dass sich das bald ändert.«

Erschrocken und gleichzeitig irgendwie erstaunt schaut er mich an. »Wie hast du das überlebt? Sonntag und Montag waren mit Abstand die heißesten Tage der letzten zwei, drei Wochen.«

»Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht, aber ich habe ja keine Wahl. Irgendwie habe ich mich durchgeschlagen. Die meiste Zeit war ich unterwegs.«

Ein undefinierbarer Ausdruck, den ich nicht zu deuten weiß, legt sich bei meinen Worten auf sein Gesicht. Er scheint über irgendetwas nachzudenken. Doch nach ein paar Sekunden ist der Ausdruck verschwunden und er erwidert nur ein »Das tut mir echt leid für dich. Ich hoffe, dass es bald besser wird.« Damit scheint das Thema für ihn beendet. »Okay, ich dachte mir, dass ich die ersten paar Stunden oder auch länger, je nach dem wie gut du zurechtkommst, noch hierbleibe und dir helfe, falls du bei irgendetwas Schwierigkeiten hast.«

Das ist mir neu. Das hat er mir am Telefon nicht gesagt. Skeptisch, aber dennoch grinsend ziehe ich eine Augenbraue nach oben. »Ach, dachtest du das?« Insgeheim bin ich froh, dass er nicht sofort abhaut, denn bis jetzt habe ich jeden Gedanken an mögliche Probleme, die auftreten könnten, verdrängt. Aus Angst, dass ich dann völlig nervös bin und alles falsch mache. Was die Katastrophe schlechthin wäre, denn niemand mag inkompetente Kassierer.

Roys Antwort ist genauso kess wie meine Frage und bringt mich in eine sehr blöde Situation. »Ich kann dich natürlich auch alleine lassen, wenn dir das lieber ist. Soll ich?« Anhand seiner Mimik kann ich genau sehen, dass er weiß, es gibt nur eine mögliche Antwort auf diese Frage. Alles andere wäre gelogen.

Das Grinsen auf seinem Gesicht wird noch breiter, als er sieht, wie es auf der Suche nach einer schlagfertigen Antwort in meinem Kopf rattert. Aber ich finde keine, die den Spieß wieder umdrehen würde. Ich habe mir ein Eigentor geschossen. Gespielt resigniert lasse ich die Schultern hängen und erkenne meine Niederlage an. »Nein.«

Ein Eins-zu-Null-Siegergrinsen huscht über seine Gesichtszüge, dann wird er plötzlich ernst und keine Sekunde später ertönt das Glöckchen hinter mir über der Tür, das einen neuen Kunden ankündigt. Schnell weiche ich einen Schritt zur Seite, um der Frau Platz zu machen.

Ich spüre, wie ich innerlich enttäuscht bin, dass jemand uns gestört hat. Ich weiß nicht, was wir hier gerade getan haben, aber ich weiß, dass es sich irgendwie schön angefühlt hat.

»Dann nimm mal deinen Platz ein, Annie«, überfällt er mich im nächsten Moment völlig unvorbereitet. Ich dachte, er würde diese Kundin noch bedienen und ich könnte ihm dabei über die Schulter schauen. Anscheinend habe ich mich getäuscht.

Schnell komme ich zu ihm hinter die Theke, während er mir Platz macht und mit prüfendem Blick hinter mir stehen bleibt. Dummerweise habe ich überhaupt keine Ahnung, wie ich die Kasse bedienen soll. Ich kenne weder den Code zum Öffnen, noch weiß ich, auf was ich drücken muss, um den Preis der Zapfsäule zu sehen, an der die Frau getankt hat.

Doch Roy lässt mich nicht im Regen stehen und fragt die Frau: »Zapfsäule 4?« Sie bestätigt mit einem Nicken. Über meine Schulter hinweg drückt er auf einen Knopf und der Preis erscheint an der Kasse. Mein Herz beschleunigt seinen Takt, als ich spüre, wie nah er mir ist. Für zwei Personen ist es hinter der Theke entschieden zu eng. Trotzdem bleibe ich an Ort und Stelle stehen, anstatt ihm Platz zu machen.

Ich kann mir mein Handeln nicht erklären. Bereits am Freitag konnte ich meinen Blick kaum von ihm nehmen. Was ist nur los mit mir?

Die Frau legt das Geld auf die Theke und nun bin ich gezwungen zur Seite zu treten, ansonsten könnte Roy die Kasse nicht bedienen. Er tippt eine kurze Zahlenfolge ein und sie springt mit einem Pling auf. Nachdem die Frau den Shop verlassen hat, wendet er sich wieder mir zu.

»Wie gut, dass du gerade eben nicht zu stolz warst, nein zu sagen.« Neckend zieht er die Augenbrauen hoch und schmunzelt mich an. Mich beschleicht das Gefühl, er wollte, dass ich so nah bei ihm hinter der Kasse stehe, obwohl ich schlussendlich nichts gemacht habe. Aber das ist Blödsinn, oder?

Ohne dass ich etwas dagegen tun kann, schleicht sich auch auf meine Lippen ein Lächeln und ich stimme ihm zu.

»Dann zeige ich dir jetzt besser, wie man die Kasse bedient, damit du es gleich alleine kannst.« Seine brauen Augen strahlen mich an und ich vergesse, dass der Mann vor mir nur einen Arm hat.

»Okay.«

Die nächsten zwei Stunden bleibt Roy bei mir und zeigt mir, wie die Kasse funktioniert, wo das kleine Lager ist und wo ich was finde und was ich sonst noch so tun kann, wenn mal keine Kunden da sind. Wir erzählen und lachen und ich bin froh sein Jobangebot angenommen zu haben.

Nach zwei Stunden fühle ich mich weitestgehend sicher, weshalb Roy sich mit den Worten verabschiedet, dass er noch ein paar Besorgungen erledigt und mir später dann den Schlüssel vorbeibringt. Fast bin ich traurig, dass er schon geht. Doch die Zeit bis zum Abend vergeht wie im Flug und am Schluss bin ich stolz, dass ich meinen ersten Arbeitstag so gut gemeistert habe.

Wie abgemacht kommt Roy kurz vor Schichtende wieder und erkundigt sich, ob alles gut geklappt hat. Ich nicke, während er die Kassette mit dem Geld aus der Kasse nimmt, die Tankstelle sorgfältig abschließt und sich anschließend zu mir umdreht, um mir zu zeigen, welcher Schlüssel welche Tür aufschließt.

Ich bilde mir ein, dass mein Herz in meiner Brust einen winzigkleinen Sprung vollführt, als seine Finger beim Übergeben der Schlüssel meine Handinnenfläche berühren.

Was ist nur los mit mir? Ich kenne diesen Mann doch gar nicht.

»Pass gut auf sie auf. Ich habe zwar noch einen Ersatzschlüsselbund, aber ich kann morgen ausschlafen und will nicht vorbeikommen müssen«, sagt er und zwinkert mir zu. »Dann bis morgen, Annie Coors.«

»Bis morgen.« Ich seufze innerlich, als ich daran denke, dass mich jetzt nur mein stickiges Wohnmobil erwartet.

Roy bemerkt mein Zögern und auf seinem Gesicht erscheint der gleiche Ausdruck wie heute Mittag. Als würde er zwei Möglichkeiten in seinem Kopf abwägen, doch am Ende entscheidet er sich dafür, den Mund zu halten. Mit einem »Na dann« hebt er die Hand zu einem zweiten Abschied und geht zu seinem Auto.

In Situationen wie dieser weiß ich nicht, was ich von ihm halten soll. Worüber hat er nachgedacht? Doch ich beschließe, mich nicht unnötig verrückt zu machen und lasse die Frage Frage sein.

***

Am nächsten Morgen mache ich mich, den Schlüsselbund sicher in meiner Tasche verwahrt, wieder auf den Weg zur Tankstelle. Es ist halb sechs. Um sechs Uhr muss der Shop geöffnet sein.

Doch ich fühle mich überhaupt nicht in der Lage dazu, einen Kunden zu bedienen. Ich bin hundemüde und fühle mich trotz halbwegs kühlen Dusche total verschwitzt. Fünf Nächte und ich bin schon völlig erledigt.

Die dunkler gewordenen Schatten unter meinen Augen habe ich wieder mit Make-Up abgedeckt, doch ich befürchte, dass bald selbst der beste Concealer nicht mehr ausreichen wird. Trotz des Schlafmangels schaffe ich es, mich zusammenzureißen und jeden Kunden, der bis zur Pause den Shop betritt, freundlich zu bedienen. Die klimatisierte Luft hat mich wacher aber nicht ausgeruhter gemacht. Durstig stürze ich einen halben Liter Wasser hinunter und esse einen Apfel, während ich mich im kleinen Pausenraum eine halbe Stunde ausruhe. Nach der Pause betritt ein Kunde nach dem nächsten den Shop und es bleibt keine Zeit, über meine Erschöpfung nachzudenken.

Ich reiche einer Frau gerade ihr Rückgeld, als Roy den Shop betritt. »Und deinen ersten Arbeitstag, an dem du komplett auf dich gestellt warst, gut überstanden?«

Ich nicke, überrascht aber auch unglaublich erleichtert, dass schon Schichtwechsel ist. »Erstaunlicherweise, ja.«

»Sehr gut. Und wie wirst du den Rest deines Tages nutzen? Schließlich solltest du auf deinem Roadtrip ja auch etwas von Dallas sehen.«

Ich schnaufe frustriert. Diesen Umstand konnte ich durch die Arbeit bis gerade erfolgreich verdrängen. »Keine Ahnung. Mit dem bisschen Geld, was ich momentan zur Verfügung habe, sind mir die Hände gebunden. Ich denke, ich muss warten, bis ich wieder etwas mehr habe.« Also werde ich den Rest des Tages mit Minijob-Suche verbringen.

»Das heißt, du gehst jetzt zurück zu deinem stickigen Wohnmobil?« Roys Worte sind alles andere als abwertend. Im Gegenteil: Er scheint meine Situation ehrlich zu bedauern.

»So in etwa.« Ich zucke mit den Schultern und lasse den Blick durch den Shop schweifen, versuche so zu tun, als würde es mir nicht viel ausmachen. Was natürlich eine glatte Lüge ist.

»Weißt du, ich wollte dir das gestern Mittag schon anbieten. Also - Ich weiß, das klingt jetzt komisch, aber ich wohne in einer WG circa zwanzig Minuten mit dem Auto von hier entfernt und naja, wir suchen zur Zeit zufällig einen sechsten Mitbewohner beziehungsweise eine Mitbewohnerin. Und ja, wenn du magst, könntest du für die Zeit, in der dein Wohnmobil nicht bewohnbar ist, vielleicht bei uns einziehen.« Unsicher, was ich von seinem Angebot halten werde, fasst er sich mit der Hand in den Nacken und schaut mich abwartend an.

Überrascht und etwas skeptisch ziehe ich die Stirn kraus und als ich nichts erwidere, fügt er hastig hinzu: »Also wir sind momentan zwei Jungs und drei Mädels. Deswegen müsstest du dir keine Sorgen machen. Also was sagst du? Ich könnte dich nach der Schicht, also nur wenn du möchtest, mitnehmen und ja, dann - dann könnten wir gemeinsam zur WG fahren und ja, du könntest sie dir zumindest anschauen.«

Ich bin völlig überfordert. »Ich, emm, ich weiß nicht.« Erst bietet er mir ganz selbstverständlich an, mein Wohnmobil unter die Lupe zu nehmen, dann will er mir eine Pension zeigen und als ich das ablehne, sagt er, er könnte mir einen Job geben. Und jetzt schlägt er vor, mit ihm zusammen zu seiner WG zu fahren?

»Du musst natürlich nicht. Ich kann verstehen - Ich dachte nur, du - ach egal, war eine blöde Idee. Vergiss es einfach«, presst er hinterher und blickt gegen Ende beschämt auf den Boden.

Immer noch überfordert nicke ich nur. »Ja, ich glaube, ich halte das Wohnmobil schon noch aus.« Eigentlich bin ich mir da nicht so sicher, aber das ist kein Grund auf sein Angebot einzugehen.

Es mag ja sein, dass er tatsächlich einfach ein hilfsbereiter Kerl ist, aber warum zu einer wildfremden Person? Hält man nicht zumindest Absprache mit seinen Freunden, wenn man jemand Neuen ins Boot holen will?

»Ja, klar. War wirklich keine gute Idee.«

Ein angespanntes Schweigen entsteht, in dem wir beide in die Gegend starren und den Blick des anderen meiden. Ich bin heilfroh, als das Glöckchen über der Tür läutet, eine junge Frau den Shop betritt und ich der Situation entfliehen kann.

Roy richtet sich auf und widmet sich der Dame. Ich nutze die Gelegenheit, um rasch hinten im Personalraum zu verschwinden, wo ich mich überfordert gegen die Wand lehne und mir mit einer Hand durch die Haare fahre. Meine Gefühle sind völlig durcheinander.

Einerseits finde ich ihn wirklich nett und er wirkt aufrichtig, ehrlich und freundlich. Aber andererseits, dieses Angebot: Wie kann er erwarten, dass ich mit einem fast völlig Fremden mitgehe? In eine Wohnung zu vier anderen völlig fremden Personen? Und warum ist er so nett? Das ist er sicher nicht zu jedem Kunden.

Nein, mitgehen werde ich mit ihm auf keinen Fall. Ich brauche bloß zwei, drei kleine Gelegenheitsjobs, dann komme ich bis Ende des Monats hin. Und noch schlimmer kann es im Wohnmobil sowieso nicht mehr werden. Ich habe die letzten Tage überstanden, also werde ich auch die nächsten überstehen.

Dessen bin ich mir am nächsten Morgen allerdings überhaupt nicht mehr sicher. In der Nacht habe ich wieder kein Auge zugemacht, weil es so entsetzlich heiß war und das geöffnete Fenster hat leider kaum frische Luft, dafür aber umso mehr Mücken in mein Wohnmobil gelassen, die im Wechsel alle fünf Sekunden an meinem Ohr vorbeigesirrt sind. Deshalb habe ich den Rest der Nacht damit verbracht, die Viecher aufzuspüren und kaputt zu hauen und langsam merke ich, wie mich der Schlafmangel reizt. Eine meiner schlechten Eigenschaften: Wenn ich extrem müde bin, vergesse ich schnell sämtliche Freundlichkeit.

Meine Entschlossenheit von gestern, Roys Angebot nicht anzunehmen, gerät ins Wanken.

Sehr viel länger halte ich das vielleicht doch nicht mehr aus, ohne jeden blöd anzufauchen, der auch nur auf die Idee kommt mich anzusprechen. Dabei möchte ich das gar nicht. Doch wenn ich übermüdet bin, reagiert mein Mund noch schneller als mein Kopf.

Bis zum Mittag versuche ich mir auszureden, dass ich dringend eine alternative Bleibe zum Wohnmobil brauche, aber es gibt einen Punkt, an dem jeder noch so optimistische Mensch aufwacht und sieht, dass es so nicht weitergeht. Mein Zeitpunkt kommt, als ich einen Blick auf das kleine Thermometer werfe, das im Innenraum meines Wohnmobils hängt.

33 Grad sind einfach für jeden normalen Menschen in einem eigentlich klimatisierten Raum zu viel.

So kommt es, dass ich mich gegen drei Uhr - zerstochen und vollkommen weichgekocht - auf den Weg zur Tankstelle mache und mir während der gesamten Zeit Gedanken darüber mache, wie ich am besten formulieren kann, dass sein Angebot vielleicht doch gar keine so blöde Idee war.

Doch als ich von Weitem einen Blick durch die Scheibe in den Shop werfe, erkenne ich, dass nicht Roy hinter der Theke steht. Es ist ein anderer von seinen Mitarbeitern.

Frustriert fahre ich mir mit der Hand übers Gesicht. Warum habe ich daran nicht gedacht? Ich bin so dämlich. Natürlich arbeiten nicht nur er und ich im Shop. Keine Ahnung, wie viele weitere Mitarbeiter er noch hat, aber sicherlich mehrere.

Leider ist bereits Schichtwechsel gewesen, sodass Roy, falls er heute überhaupt hier war, auch nicht mehr vorbeischauen wird. Seine anderen Mitarbeiter sind garantiert bereits soweit eingearbeitet, dass sie einen eigenen Schlüssel besitzen und die Einnahmen des Tages selbst zur Bank bringen.

Ernüchtert schlage ich den Weg zurück zum Wohnmobil ein. Muss ich eben noch eine Nacht im Backofen verbringen. Ich könnte Roy zwar auch schreiben oder ihn anrufen, aber das mache ich nicht. So etwas regelt man nicht übers Handy.

Ich habe jetzt schon so viele Nächte im stickigen Wohnmobil verbracht, eine weitere wird mich nicht umbringen. Die Mücken, die ich in der letzten Nacht nicht erwischt habe, vielleicht aber schon.

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