Blues P.O.V.:
Am Abend beschloss ich, zu Dad zu fahren und die Unterlagen zu klauen.
Es war ziemlich schwül, und weil ich mit dem Fahrrad fahren wollte, suchte ich mir nach dem Duschen meine kürzeste Hose raus.
Nur, dass meine Boxershorts länger als sie war. Ihr wisst schon, diese Shorts mit den Früchtchen.
Heute waren es Kirschen.
Und meine Schuhe fand ich auch nicht.
Und Mom war arbeiten, also konnte sie sie nicht finden.
Mein rotes T-Shirt mit dem VW T1 und der Aufschrift "Roam & Dream" passte auch nicht wirklich.
Aber yolo!
Ich holte mein neonpinkes Mountainbike (ich weiß, unnötig in London, aber es war halt cool) aus dem kleinen Gartenhaus und fuhr so los, wie ich war.
Also barfuß und voll mit Swag.
Isch war echt voll der Swagger, Digga, ey.
Lol. Nicht.
Zwei Mädels lachten mich aus, als ich an ihnen vorbeifuhr. Ich rollte nur mit den Augen. Sollten sie doch.
Endlich mal bei Dad angekommen, schmiss ich meim Fahrrad in seinen typisch englischen Buchsbaum-Vorgarten und klingelte viermal hintereinander an der Tür.
Kelly machte mir etwas sehr genervt auf.
Ich mochte sie nicht wirklich.
Sie war eine Perfektionistin.
Alles musste stimmen, egal was. Ob die Haare ihrer und Dads kleinen Tochter, die Blumen vor der Haustür oder ihre Bettwäsche und ihr Nachthemd.
Jetzt musterte sie mich geschockt.
"Blue! Wie siehst du denn aus? Komm rein."
"Wie sehe ich denn aus?", fragte ich und trat ein. Gott, wie steril ihr Flur schon aussah.
Total unpersönlich und viel zu modern.
Alles in weiß und dunkelgrau, genauso wie die Küche. Ach nee, da war auch noch ein bisschen rot.
Kotz.
"Na ja, ein bisschen ... also ehm ... "
"Schwul? Unstylish? Verrückt?"
"Na ja, ja."
"Bin ich aber nicht." Ich strahlte sie an und marschierte dann ins Wohnzimmer.
"Wo ist Dad?"
"Du sollst ihn nicht Dad nennen! Er ist mein Dad!"
Rica baute sich mit verschränkten Armen vor mir auf und sah böse zu mir hoch.
Mann, dieses Mädel hatte echt voll den Killerblick drauf.
Ich tätschelte ihr den Kopf. "Tu ich aber. Denn er hatte erst mit meiner Mom Sex, und dann erst mit deiner. Du bist Nummer 2, ob du willst oder- AAAHHRRGHH! DAD! HILF MIR! FUCK! LASS LOS, DU BIEST!"
Ich sah zwischen Dad, der im Türrahmen aufgetaucht war, und meinem Arm, in dem Rica ihre Zähne vergraben hatte, hin- und her. Fuck, das tat so was von weh.
Ich versuchte, mich irgendwie loszumachen, dieses kannibalistische Kind von mir wegzuschieben, aber es hatte sich richtig festgebissen, Mann.
"Dad!" Ich merkte, wie meine Augen überliefen.
Scheiße, was hatte dieses Kind?!
"Rica! Hör sofort auf damit! Lass los!" Dad schlug ihr leicht in den Nacken, aber nicht so fest, dass es wehtat.
Dabei hatte sie das echt verdient.
Ihr könnt euch ja nur so aus Spaß an der Freude mal in den Arm beißen.
Und dabei müsst ihr möglichst weit am Rand eure Zähne reinhacken, halt wie ein Kleinkinderbiss.
Aber auch die können echt feste beißen.
Ich wischte mir ärgerlich die Tränen aus dem Gesicht und sah dann auf das Blut, dass von meinem Arm auf den weißen Fußboden tropfte.
"Hallo?! Was fällt dir ein, du Miststück?!" Ich hätte dieses kleine Kind jetzt am liebsten einmal geschlagen, damit es mal lernte, wie es sich zu benehmen hatte.
Dad hatte anscheinend verlernt, wie man Kinder richtig erzog.
Kelly stand mit offenem Mund in der Tür und schüttelte ihren Kopf. "Blue! Wie kannst du Ricky so nennen?! Und warum brüllst du hier so rum?!"
Ich hielt ihr anklagend meinen Arm hin.
"Sie ist eine Kannibalin!"
"Jetzt reg dich ab, Blue." Dad legte mir einen Arm um die Schultern und schob mich bestimmt Richtung Badezimmer, wo er die Tür schloss.
Ich atmete laut aus. "Hast du eine Ahnung, wie weh so etwas tut?! Ich wollte kommen, weil ich dachte, dass wir irgendwie trotzdem noch eine Familie sind, aber nein - du hast eine neue Familie und ich bin ganz allein mit Mom!
Weißt du, wie scheiße das ist?
Du hast mich früher auch mal geliebt und jetzt ist da nur noch Ricky, Ricky, Kelly, Kelly, Ricky, Kelly!"
Zum Glück tat mein Arm immer noch genug weh, dass ich nochmal losheulen konnte.
Diese Mitleidstour half nämlich immer.
Man musste einfach einen auf einen auf armer, kleiner Junge machen und schwupps - "Es tut mir so leid, Bluey."
Er zog mich in seine Arme und ich legte meinen Kopf auf seine Schulter.
Wie lange war das her, dass ich das das letzte Mal getan hatte?
Ha, ich hatte das noch nie getan!
Früher war ich viel zu klein dafür gewesen, und die letzten vier Jahre hatte ich ihn zwar öfters besucht, aber niemals großartig umarmt.
Es herrschte ein ziemlich frostiges Klima zwischen meinem Dad und mir.
Und zwischen ihm und Mom - eisig bis nicht mehr messbar.
Mir fielen wieder die Prüfungsunterlagen ein, die ich noch klauen musste.
Mist, wie sollte ich das anstellen, wenn er da war?
"Du brauchst einen Verband, Blue. Du blutest ziemlich."
"Hm, ja."
Er sprühte erst ein bisschen Desinfektionsmittel auf die Bisswunde und legte dann den Verband an. "Dann komm wieder mit ins Wohnzimmer. Ich glaube, ich muss mal ein ernstes Wörtchen mit Ricky reden."
Er sah mich auffordernd an.
"Öhm ... ich muss noch kurz auf Toilette, ich komm dann." Ich grinste ihn an.
"Okay."
Weg war er.
Ich wartete ein bisschen, dann schlich ich mich über den Flur in sein Arbeitszimmer.
Wo hatte er die ganzen Schulsachen?
Ich riss ein paar Schubladen auf, bis mir ein paar Ordner ins Auge sprangen, auf denen SCHULE stand.
Jetzt aber schnell.
Ich schlug sie auf und horchte noch einmal auf Schritte ihm Flur, aber da war nichts.
Gleich als Erstes war da die Klausur, die Kyle und die anderen Arschlöcher schreiben mussten.
Aber fuck ... wenn ich sie jetzt rausnahm, würde er sofort auf die Idee kommen, dass ich sie gestohlen hatte.
Und da hatte ich halt die glänzende Idee, das Ganze abzufotografieren.
Ha. 100 Punkte für Blue.
Dann stellte ich den roten Ordner zurück und verpisste mich schnell aus dem verbotenen Zimmer.
Und lief noch einmal zurück.
Ich brauchte Dads Klasseliste.
Wegen Ryans Adresse.
Noch ein Foto und fertig!
Und ich hatte schon erwartet, dass Dad mich erwischte.
Tja, kein Klischee heute.
Wieder im Wohnzimmer, sah ich meinen Vater möglichst leidend an. "Mir ist ganz komisch ... ich glaub, ich fahr wieder nach Hause."
Kelly sah mich überbesorgt an. "Vielleicht hast du nichts Richtiges gegessen in letzter Zeit?"
Sollte das eine Anspielung auf Moms Kochkünste sein?!
"Nein", schnauzte ich. "Ich glaub, ich hab Tetanus bekommen."
Das war auch eine Anspielung.
Als nächstes machte ich mich auf den Weg zu Ryan.
Ich hatte seine Handynummer nicht, und er musste das Foto sofort bekommen, weil wir eh schon zu spät dranwaren.
Familie Brownstone. Das war's.
Oh Gott. Hoffentlich machte mir jetzt nicht mein Lehrer die Tür auf .... bitte, lieber Gott ....
Meine Gebete wurden nicht erhört.
"Blue? Was machst du denn hier?"
Mr Brownstone sah mich überrascht an.
"Eh ... ich wollte zu Ryan." Ich trat von einem Fuß auf den anderen, als mir wieder bewusst wurde, wie schlimm ich angezogen war.
"Ach so. Tut mir leid, Ryan ist nicht da. Er liegt im Krankenhaus."
"What the fuck?!" Ich starrte ihn entsetzt an. "Warum das?"
"Anscheinend wurde er ziemlich schlimm vermöbelt. Hast du eine Ahnung, wer- "
Ich hob meine Hand zum Abschied und rannte wieder los zu meinem Fahrrad.
"Ich fahr mal zu ihm! Diese Arschlöcher!"
Völlig kaputt kam ich schließlich beim Krankenhaus an.
Meine Fresse, dieser Tag war so Hardcore.
Die Frau am Eingang sagte mir, dass Ryan in Zimmer 213 lag, also machte ich mich mal gleich auf den Weg dorthin.
Vorsichtig klopfte ich an, aber niemand rief "Herein" oder so.
Hm, okay. Dann ging ich eben einfach so rein.
Er lag allein im etwas abgedunkelten Zimmer und schlief.
Gosh, er sah schlimm aus.
Jetzt hatte er auch noch ein blaues Auge zu der gebrochenen Nase.
Und ein gebrochenes Bein?! Alter.
Ich würde Kyle und die anderen sowas von fertig machen, wenn ich sie das nächste Mal sehen würde ...
Und Ryan tat mir so leid!
Wie weh musste das getan haben?
Der Arme.
Ich betrachtete sein Gesicht genauer und stellte fest, dass er ziemlich hübsch war.
Und ... süß.
Ich weiß auch nicht.
Na ja, was soll's.
Ich war schon so mega viele Mädchen verliebt gewesen, vielleicht würde mal ein Junge dazwischen nicht schaden.
Dann hätten die anderen auch einen vernünftigen Grund, mich schwul zu nennen.
Obwohl ich ja eigentlich eher bi war, wenn ich Ryan denn mögen würde.
Mochte ich ihn?
Hm.
Wahrscheinlich.
Ja.
Und ich wollte auf keinen Fall, dass Elodie etwas mit ihm anfing.
Und ja. Wahrscheinlich war ich auch eifersüchtig auf Elodie gewesen, dass sie sich so gut mit Ryan verstand. Und nicht eifersüchtig auf Ryan, weil er sich so gut mit Elodie verstand.
Bevor ich das Ganze besser durchdenken konnte, hatte ich meine Lippen auch schon leicht auf seine gedrückt und küsste ihn kurz.
Ganz vorsichtig, damit er nicht aufwachte.
Und dann fiel ich vor Schreck fast um, weil jemand im Türrahmen stand.
Oh mein Gott.
Zum Glück war es nur eine Krankenschwester.
Und sie grinste.
"So so."
"Ehm, nein! Es ist nicht das, wonach es aussieht. Er- er ist mein Bruder!", stammelte ich und stellte mich wieder gerade hin.
"Ach so. Dann lass ihn schlafen."
"Ja. Haben sie kurz einen Zettel und einen Stift?" Ich sah sie fragend an.
"Ja, hier."
Ich notierte meine Handynummer auf dem Zettel und schrieb dazu: War hier und du bist am pennen. Hab die Prüfungsaufgaben. Gute Besserung, du Schnarchnase. Werd schnell wieder fit, damit wir unsere Rache planen können.
X Blue.
Das X konnte ich mir nicht verkneifen.