Lukes Sicht
Das Klingeln meines Weckers holte mich aus dem unruhigen Schlaf.
Verschlafen schaltete ich ihn aus und rieb mir mit einer Hand den Schlaf aus den Augen.
Es war neun Uhr am Morgen.
Noch drei Stunden waren es bis zum nächsten Treffen mit Damien.
Warte.
Nur noch drei Stunden und niemand außer Akira wusste Bescheid!
Am vorherigen Tag hatte ich es vergessen aufgrund von Jules Anwesenheit.
Hektisch strampelte ich die Decke von mir runter. Ungünstigerweise verhedderte sich ein Fuß darin, was dazu führte, dass ich beim Aufstehen hängen blieb und bäuchlings Richtung Boden segelte.
Der dumpfe Aufprall auf dem Boden presste mir die Luft aus den Lungen.
»Au …«
Keine Minute später stand Akira in meinem Zimmer und fand mich auf dem Boden liegend auf. »Was hast du gemacht und geht's dir gut?«
Zur Antwort hob ich eine Hand und zeigte einen Daumen nach oben.
»Tut dir was weh?«. Meine Zwillingsschwester kniete sich zu mir und half mir dabei mich aufzusetzen.
»Kopf, okay. Arme, okay, Brustkorb, tut ein wenig weh, ist aber auszuhalten. Beine, okay«. Schien noch alles einigermaßen intakt zu sein.
»Mir geht’s gut. Habe mich blöd in der Bettdecke verheddert und hab deswegen nähere Bekanntschaft mit dem Boden gemacht.«
Sie konnte sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen und schüttelte den Kopf.
»Wieso hast du es auch so eilig aus dem Bett zu kommen?«, wollte sie wissen.
»Mir ist eingefallen, dass weder Mom noch Dad von meinem Termin um zwölf Uhr wissen. Das habe ich gestern vollkommen vergessen wegen Jules und seiner Freundin«, erklärte ich, wieso ich schnell nach unten wollte.
»Soweit ich weiß, ist Dad arbeiten. Er hat also das Auto.«
Das bedeutete ich musste mit dem Bus fahren.
Änderte nichts an der Tatsache, dass ich Mom Bescheid geben musste.
Akira half mir auf die Füße. Bei Bewegung machte sich mein Brustkorb bemerkbar. Stark waren die Schmerzen zum Glück nicht.
»Komm. Lass uns nach unten gehen. Dann kannst du Mom Bescheid geben«. Nickend stimmte ich zu und wir gingen nach unten. In der Küche war niemand. Dafür wurden wir im Wohnzimmer fündig. Mom saß auf dem Sofa und schaute irgendeine Serie.
Sie hatte uns trotzdem kommen hören und schaute zu uns. »Guten morgen.«
»Guten morgen. Ich Ehm … Hab vergessen gestern was zu erwähnen«, setzte ich an.
»Worum geht’s?«. Moms Augen hatten mich im Blick.
»Ich hab heute noch einen Termin mit Damien. Alleine.«
Sie zog die Augenbrauen in die Höhe. »Am Wochenende? Ich dachte, euere Termine sind fest dienstags und freitags«
»Das stimmt auch, allerdings hat Damien in seinem Plan noch was anderes vorgesehen außer die Gespräche«
»Und das wäre?«
»Er will eine Art Konfrontationstherapie machen, indem er mich mit in die Rettungswache nimmt, während er Dienst hat. Und wir starten damit bereits heute …«, erklärte ich ihr grob, was Damiens Plan war.
»Und das klappt?« Sie hatte ihre Stirn leicht in Falten gelegt.
»Wissen wir noch nicht …«
Darauf nickt sie. »Dr. Martens wird schon wissen, was er tut«
Ich nickte.
Das war auch meine Hoffnung.
»Wir gehen mal frühstücken«. Akira schob mich in die Küche, wo wir unser Frühstück machten und in Ruhe aßen.
Aufgrund meiner inneren Unruhe wegen des bevorstehenden Termins, aß ich die Hälfte meiner üblichen Portion.
Im Anschluss gingen wir auf mein Zimmer und setzten uns nebeneinander auf mein Bett.
»Mach dir nicht zu viel Druck. Damien hat gesagt, dass du dir Zeit lassen darfst. Also tu das auch, wenn es nötig ist«, redete sie auf mich ein.
»Ich weiß … aber jetzt habe ich dir Chance dran zu arbeiten. Damien gibt uns diese Chance. Dabei muss er das nicht einmal. Er muss mich nicht mitnehmen und trotzdem tut er es. Dann ist es nur fair, wenn ich versuche mein Bestes zu geben und nicht rum zu trödeln!«, tischte ich ihr meine Meinung dazu auf.
Geräuschvoll atmete sie aus.
»Pass auf. Ich verstehe, was du mir sagen willst, aber es zu überstürzten ist nicht gut. Wir kennen Damien jetzt seit zwei Wochen. Angefangen hat es mit meinem Sturz im Badezimmer, wo er als Notarzt anwesend war. Das war das einzige, was er tun musste, aber hat bereits viel mehr gemacht als er muss. Dir geholfen, die Gespräche zusammen und jetzt das mit der Rettungswache. Wenn es ihm darum ginge dir die Angst auf dem schnellsten Wege zu nehmen, dann hätte er all das nicht getan.
Wir haben enormes Glück auf einen Arzt wie ihn gestoßen zu sein. Solche gibt es nicht mehr oft.«
Sobald sie ihren Monolog beendet hatte, zog sie mich in ihre Arme.
Ich hatte keinerlei Gegenargumente. Sie hatte recht. Überstürzten sollte ich es nicht. Doch ist das genauso einfach in die Tat umsetzbar, wie man es sagt? Mit Sicherheit nicht.
Die restliche Zeit, die uns blieb, bis ich losmusste, verbrachten wir in meinem Zimmer und lenkten uns ab von diesem Thema.
Zeitig machte ich mich fertig und ging, gefolgt von Akira nach unten.
Mein Herz raste bereits und meine Hände waren beinahe Eisklötze.
»Du gehst nicht! Du hast keine Ahnung, was passieren wird, wenn du erstmal da drinnen bist!«
Atmen nicht vergessen!
»Außerdem bist du nicht ganz fit nach dem Sturz auf den Boden! Wenn da jemand mitbekommt, dass der Brustkorb schmerzt, dann hast du ein großes Problem!«
Tief atmete ich ein und aus, wobei ich auf meine Schuhe in meiner Hand starrte.
»Glaub mir … am liebsten würde ich dich gar nicht erst gehen lassen. Auch ich habe Angst, dass dir was passieren könnte. Dennoch lasse ich dich gehen und vertraue Damien, dass er auf dich aufpasst«, offenbarte Akira mir ihre eigene Angst.
Ich musste leicht lachen, nicht, weil ich sie auslachte, sondern wegen der Situation. »Wir tun so, als würde ich tagelang wohin fahren oder so …«
Meine extrovertiertere Hälfte konnte sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen. »Du musst los. Dein Bus kommt in ein paar Minuten.«
Ich nickte, zog fix meine Schuhe an und packte Handy und Schlüssel ein.
Da es mittlerweile kühler geworden ist, zog ich mir eine dünne Jacke drüber.
»Ich bin jetzt weg!«, rief ich Richtung Wohnzimmer, um mich anzumelden.
»Pass auf dich auf!«, kam zurück.
Akira drückte mich nochmal, woraufhin ich durch die Haustür nach draußen verschwand.
Die milde Spätsommerluft schlug mir entgegen und ich machte mich mit zügigen Schritten auf den Weg zur Bushaltestelle.
Statt Richtung Innenstadt ging es dieses Mal weiter in den nördlichen Stadtbezirk.
Um Viertel vor zwölf stieg ich in den Bus, keine zehn Minuten später war ich am Ziel und stieg aus.
Meine Knie waren weich wie Butter und der Fluchtimpuls omnipräsent.
»Ich hab es bereits ein Mal geschafft ohne Panik zu bekommen mich in die Nähe dieses Gebäudes zu begeben! Also schaffe ich das auch wieder!«, redete ich mir ein und betrat das Klinikgelände.
Ich legte eine Hand auf meinen Brustkorb aus Sorge, dass mein Herz jeden Moment durch die Rippen hindurchbrach.
Langsam näherte ich mich dem Gebäude, um das es ging. Die Rettungswache.
Hinter den Hallentoren standen die auffällig folieren Einsatzfahrzeuge.
Noch war von Damien keine Spur zu sehen. War er noch unterwegs?
Mir blieb nichts anderes übrig als abzuwarten, bis er sich zeigte.
Bis dahin hatte ich die Aufgabe mich zu beruhigen.
»Denk an die Atemübung, die Damien dir gezeigt hat …«
Einatmen ... Ausatmen ... Einatmen ... Ausatmen.
Tatsächlich half es. Zwar verschwand die Panik nicht, aber sie brach immerhin nicht aus.
Mein Blick wanderte zu der Eingangstür.
Eigentlich war es nur hingehen, Tür aufmachen und reingehen.
Ganz einfach.
Oder?