18 | Hin- und hergerissen

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A./N.: Reece Time. Ich weiß, das freut nur wenige von euch, aber hey ... Er ist nun mal auch Hauptprotagonist dieser Geschichte ^^

2.586 Worte

Das erste Unterrichtsfach, das ich am nächsten Morgen habe, ist wieder Bioethik. Das heißt, ich werde Reece wieder über den Weg laufen. Nur dieses Mal werde ich nicht den Fehler machen, ihn zu begrüßen.

Wie jeden Morgen steht Sammy schon vor dem Schulgebäude, als ich aus dem Auto meines Vaters steige. Seine kleine, pummelige Gestalt lehnt gegen das Treppengeländer, das hoch zum Schuleingang führt, und blickt in meine Richtung. Als ich auf ihn zukomme, bückt er sich nach seinem Rucksack, der zwischen seinen Füßen steht, und schultert ihn.

»Hey. Und, bereit?«

Mit unter die Träger geklemmten Daumen bleibe ich vor ihm stehen. »So bereit wie immer.«

Gemeinsam gehen wir durch die überfüllten Gänge zum Kursraum und setzen uns auf unsere Plätze. Fast alle anderen Schüler sind schon da – auch Reece, den ich einfach ignoriere. Etwas, das nicht schwerfällt, da er sich von mir abgewandt mit seinem Sitznachbarn unterhält. Er bemerkt gar nicht, dass ich den Raum betrete.

Während ich meine Unterrichtsmaterialien hervorhole, lehnt Sammy sich zu mir herüber und legt mir eine Hand auf die Schulter. »War schön gestern Abend. Müssen wir beizeiten wiederholen. Dann aber alleine.«

Mir wird heiß und kalt bei seinen Worten und ich denke an das Küsschen, das ich ihm gestern zum Abschied auf die Wange gegeben habe. Ob wir darüber reden sollten?

Zögerlich drehe ich mich zu ihm und schenke ihm ein Lächeln, um ihn nicht vor den Kopf zu stoßen. »Sammy, lass ... « In dem Moment betritt der Lehrer den Raum und alle Gespräche verstummen. Ich flüstere ein »Später«.

Während der folgenden neunzig Minuten versinkt der Kurs in einer Diskussion über embryonale Stammzellgewinnung. Eigentlich ein spannendes Thema, dem ich mit großem Interesse zugehört hätte, aber mein Kopf wird von anderen Gedanken in Beschlag genommen.

Der erste ist Reece, den ich trotz aller Bemühungen nicht verdrängen kann. Der Blick auf seinen Rücken ruft mir in Erinnerung, das heute Donnerstag ist und das heißt – Schwimmen.

Nach der herben Demütigung sträubt sich alles in mir dagegen, ihn wieder beim Schwimmen zu treffen. Für kurze Zeit habe ich wirklich gedacht, er würde mich anders sehen, als der Rest aus Gingers Clique. Ich dachte, er würde mich sehen und nicht meinen Körper.

Aber wie es scheint, habe ich mich getäuscht.

Auch er sieht nur all das Fett an mir, das mich zur Außenseiterin macht.

Wie soll ich ihm mit diesem Wissen unter die Augen treten und mich in seiner Nähe einigermaßen wohl fühlen?

Innerlich fühle ich mich hin- und hergerissen wie ein Papierdrache, der vom Wind nach links und rechts gepeitscht wird, ohne die Kontrolle darüber zu haben, in welche Richtung er sich gerne wenden würde.

Der Satz, dass Reece mich vielleicht verstehen kann, hat etwas in mir aufblühen lassen, dass sich lange in seine schützende Knospe zurückgezogen hatte.

Sammy mag zwar die gleichen Problemzonen wie ich teilen, aber für ihn ist das nicht halb so schlimm wie für mich. Er versteht bis heute nicht, warum es mir so wichtig ist, abzunehmen.

Reece hingegen hat zwar keine Probleme mit seinem Gewicht und doch spüre ich langsam, dass da etwas ist, was ihn ebenso sehr belastet wie mich mein Gewicht.

Diese Aussicht – die Aussicht, sich mit jemandem austauschen zu können, der die Gefühle, die in einem selbst toben, kennt – hat mich für kurze Zeit mein eigentliches Problem vergessen lassen.

More than meWhere stories live. Discover now