Kapitel IV

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Wochen vergingen und wurden zu Monaten. Während zwei Brüder ein außergewöhnliches Talent übten und in der Praktizierung ihrer Leidenschaft frönten, schritt ein schönes, sehr belesenes Mädchen durch die Stadt, auf der Suche, nach ganz bestimmten Menschen. Valerie war oft genug am Rande zur Verzweiflung, doch die nicht enden wollende Hoffnung trieb sie weiter und weiter. In klaren Augenblicken fragte sie sich, was sie da eigentlich tat und in noch klareren Augenblicken begriff sie es. Sie suchte - welch absurde Vorstellung, war sie 5? - Zeitreisende. Valerie hatte zwei Schätze, die sie aus Angst sie zu verlieren, niemals mit sich trug: Eine alte Taschenuhr, vielleicht aus dem späten 18. Jahrhundert und ein zu Staub zerfallendes Buch, wohl ungefähr genauso alt. Ein Erscheinungsdatum stand nirgendwo und nach einer ISBN-Nummer brauchte sie gar nicht erst zu suchen. Diese Schätze versteckte Valerie mit größter Sorgfalt in ihrem Zimmer und verlor nie ein Wort darüber. Nicht dass sie überhaupt viele Worte verlieren würde. Ihr Gedächtnis war beträchtlich, ganze Passagen des Buches konnte sie auswendig, als hätten sie sich in ihre Seele eingebrannt. “Glückliche Menschen” stand vor ihrem geistigen Auge. Vielmehr “Glück habende Menschen” “Wooo?“ hätte sie am liebsten geschrien, und das hätte sie auch, wäre sie keiner dieser schweigsamen, introvertierten Menschen. Resigniert ließ sich Valerie auf einer Bank nieder, stützte ihre Ellenbogen auf ihren Schoß und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Als hätte ihr Unterbewusstsein ihren Körper gesteuert, saß sie genau vor ihrem Lieblingsbuchladen, welchem eine Eisdiele direkt gegenüber stand, in der sie an heißen Tagen gut und gerne ihre Nachmittage verbrachte. Die Erinnerung bei dem Verzehr eines Eisbechers die ersten Seiten ihrer neu erworbenen Schätzchen zu lesen vertrieb für einen Moment ihren Trübsal. Vielleicht wäre ein Eis jetzt genau das Richtige. In der Eisdiele saßen nicht viele Menschen. Ein mittelaltes Paar, eine dreiköpfige Familie und ein Junge, etwa in ihrem Alter, der sehr gepflegt und in seinem hellblauen offenen Hemd sehr ordentlich aussah. Merkwürdig. Sie wusste genau, dass der Erdbeereisbecher, den sie vorzugsweise bestellte und welchen auch der Junge hatte auf der Karte ausdrücklich mit Erdbeersoße angeboten wurde. Der Erdbeerbecher des Jungen hingegen hatte, wie es auch Valerie vorzog eine Schokoladensoße. Sie würde den gleichen bestellen. Während Valerie auf eine Bedienung wartete um ihre Bestellung zu ordern, wurde sie Zeugin eines Ereignisses, das die meisten wohl als eine Folge sehr schneller Reflexe bezeichnen würden. Unachtsam stieß das kleine Kind der Familie den Eisbecher seines Vaters um, jedoch fing bevor das Glas scheppernd und in Tausend Teile zerspringend zu Boden fiel, der Junge mit dem Erdbeerbecher jenes auf und stellte es zurück auf den Tisch. “Vorsichtig.” sagte der Junge und nickte freundlich zu der Familie. Als er den Blick zurück auf seinen eigenen Eisbecher wandte, kreuzten sich scheinbar zufällig sein Blick und Valeries, die mit offenem Mund da saß. Er lächelte sie an als wollte der Blick sagen: “Schau wie elegant meine Reflexe sind.” doch Valerie wollte sich mit dieser Deutung nicht zufrieden geben. Sie setzte alles auf eine Karte. Wenn dies ein Spiel war, dann würde sie sich darauf einlassen. “Glück gehabt.” antwortete sie, während sie sich ihre Haare hinters Ohr Strich und realisierte, dass der Junge gar nichts zu ihr gesagt hatte und die Konversation nur in ihrem Kopf statt fand. “Ja… Glück.” erwiderte der Junge. Valerie entschloss sich abermals ein Risiko einzugehen, indem sie von ihrem Tisch aufstand und auf den Jungen zuging. Sie tat das noch nie zuvor, aber diesmal entschloss sie sich ihre Reize spielen zu lassen. “Ich darf doch?“ fragte sie während sie sich bereits auf dem Stuhl ihm gegenüber niederließ. “Klar.”
Sollte Valerie's Theorie wahr sein - und nichts anderes glaubte sie - dann hatte dieser Zeitreisende - der, der Junge in Valerie's Augen unzweifelhaft sein musste - nichts dagegen mit ihr in Kontakt zu treten. Nein, er wollte es sogar. Er wusste, was sie sich bestellen würde und bestellte um ihr zu imponieren das Gleiche. Exakt das Gleiche! Er hatte ihr diesen Blick absichtlich zugeworfen, weil er wusste, dass Valerie ihm nachkommen würde. Er wird es mehrere Male getan haben. Er wusste mehr über sie als sie wusste, was er wusste, da er theoretisch unzählige Male die Möglichkeit gehabt hatte ihre Reaktion zu sehen. Oder spann sie jetzt komplett? Je länger sie darüber nachdachte, desto absurder wurden ihre Gedanken, gleichzeitig aber auch so logisch. Noch einen Test, dann könnte sie ihre Hypothesen bestätigen. “Wie…?” fragte sie langsam. “Ryan.” antwortete der Junge. Er konnte nicht wissen, dass die Frage “Wie heißt du?“ lauten sollte. Auch wenn das naheliegend war. Valerie könnte genauso gut gefragt haben wollen: “Wie hast du das gemacht?” Für Valerie waren die Zweifel beseitigt. Oder spielte ihr, ihr frustriertes Gehirn nur einen Streich?

Hüter der ZeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt